ZWEI
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MAN KÖNNTE MEINEN, Flynn sei der Eine gewesen. Der einzig Richtige für sie - woran niemand je zweifeln würde. Wenn man die Beiden zusammen gesehen hatte, wie ihre Blicke sich trafen und ineinander verflochten haben, wie sie miteinander und voneinander geredet haben, mit denselben Zielen und Prioritäten und Träumen...
Sie waren des jeweils Anderen Traum, des jeweils Anderen Zukunft gewesen. Wieso musste es also gerade diesen Beiden passieren?
So viel haben sie verdient, hätten sie verdient und dennoch. Dennoch spielte das Schicksal in einer absurden Art und Weise mit der Realität und der Wirklichkeit, dass man niemals wagen könnte, es vorzubestimmen. Eine Fehlentscheidung, eine einzige Sekunde könnte den weiteren Verlauf der eigentlich fast schon festgeschriebenen Zukunft, der Erwartung und Aussicht auf das blühende Panorama eines beschwingten Lebens komplett verändern.
Es war beinahe schon witzig, ja regelrecht unterhaltsam, sich dessen bewusst zu werden. Wie unbedeutend die eigene Figurine auf diesem Schachbrett werden konnte, wenn man nicht selbst am Zug war. Wie schnell man Schachmatt gesetzt wurde, obwohl man glaubte noch immer selbst bestimmen zu können.
Es war recht frisch für Ende Oktober, als sie ihre Vormittagsschicht im Walmart beendete und die navyblaue Uniform gegen ihren eigene Kleidung tauschen durfte. Neben ihren drei eigentlichen Beschäftigungen hat sie den Aushang am Eingang vor wenigen Tagen nicht übersehen und der Versuchung, sich mit einer weiteren Aushilfsstelle zu belasten, nicht widerstehen können. Doch Elaine überlegte bereits, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war. Die Arbeit war so eintönig hier, so vorhersehbar. Sie machte ihren Job und fertig. Sie würde sich trotz Arbeit in ihren Gedanken verwickeln können - was sie von Anfang an um jeden Preis zu vermeiden versucht hatte.
Heute war der 27.
Vier Monate sind vergangen, die sie nun ohne Flynn durchgehalten hatte und wer weiß wie Viele noch folgen würden. Sie war gerade auf dem Weg zu ihm, auf dem Weg in das Krankenhaus, in welches ihr Verlobter und sie nach ihrem Unfall eingeliefert worden waren, aber nur von ihr anschließend verlassen worden ist.
Abwechselnd fuhr sie mit der UBahn oder legte eine gewisse Strecke zu Fuß zurück, vermied somit gänzlich die Fahrten mit Autos. Sie konnte wohl in einem sitzen; solange es hielt und natürlich war es kein Problem, wenn sie an ihr vorbeifuhren - solange sie nicht selbst in einem sitzen musste.
Nach dem Autounfall in jener Sommernacht war ihr das als selbstverständlich betrachtete, weltweit in den Alltag eingebundene Fahrzeug nicht mehr ganz Geheuer gewesen. Sie fühlte sich schlichtweg nicht mehr sicher - so ließe es sich am einfachsten beschreiben.
Dieses Unbehagen verfolgte sie nicht nur explizit in ein Auto hinein, sondern haftete tagtäglich, jede freie Minute an ihren Fersen, um genau dann zuzuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwartete oder gebrauchen konnte.
So spielte das Leben. Und sie war es leid, Kriege zu führen, die sie nicht gewinnen konnte, niemals gewollt hatte. Sie wollte nur noch Frieden schließen, mit dem Universum und sich selbst und zu den alten Zeiten zurückkehren. Doch statt mit Flynn neue, fremde Orte zu entdecken oder einfach mit ihm auf dem Sofa bei ihnen zu Hause zu gammeln, betrat sie den kalten, weißen Wartebereich, der wie so oft überfüllt war mit Menschen, Patienten und oder ihren Angehörigen. Sie fühlte sich hier fast schon mehr zu Hause, als in ihren eigenen vier Wänden.
Der Großteil der normalen Menschen, hat in Häusern oder Wohnungen meistens kleine Rückzugsorte oder Räume, die einfach puren Komfort, Wohlbehagen und Geborgenheit ausstrahlen. Elaine schaffte es stattdessen, sich zwischen kranken, erkälteten Patienten, weinenden, trauernden oder vor Freude quietschenden Personen ebenso komfortabel, ja, sich wahrhaft wie zu Hause zu fühlen.
Sie war dort zu Hause, wo Flynn war. Und auch wenn es ein Krankenhaus war, dann war das halt so. Sie fühlte sich nicht wohl, ganz alleine in dem Haus zu schlafen, indem sie mit Flynn hätte leben sollen. Wenn sie bei ihren Eltern oder ihren Freunden war, dann ging es halbwegs, doch die Wärme, die auch nur annähernd an die heran reichen würde, die sie in der Nähe von Flynn verspüren durfte, konnte sie nur hier im Krankenhaus wahrnehmen. Und dann war es ihr gleich, ob sie sich wie andere Menschen auf eine Couch oder ein Bett kuscheln, oder auf die Bank auf einer der Dachterrassen des örtlichen Krankenhauses zurückziehen musste, solange sie irgendwie die Intimität ertasten konnte, die ihr sonst entzogen blieb.
,,Elaine?", kam es vorsichtig von ihrer Seite und die junge Frau, die die letzten Minuten gedankenverloren vor sich hin gestarrt hatte, drehte ihren Kopf zu dem Mann im weißen Kittel. Er steckte den Kugelschreiber sofort weg und schloss den kleinen Ordner auf dem Informationstresen, kam auf sie zu und zog sie in eine willkommen heißende Umarmung, die Elaine für die paar Sekunden erwiderte.
,,Was führt dich hier her?", fragte er, als würde er nicht wissen wieso sie wieder her kam. Er drückte sie auf eine Armeslänge von sich und musterte sie mit seinen stechenden, blauen Augen von Kopf bis Fuß. Wie sie aussah, wie sie angezogen war und sich heute verhielt sollte ihm auf einen Blick erzählen, wie sie sich fühlte. Er war schon immer sehr Bedacht darauf gewesen, auf Anhieb zu erkennen, wie es den Menschen ging. Schon damals, als Kind und auch zu der Zeit, als sie mit Flynn mal zum Abendessen vorbei kam. Deswegen, wegen dieser Angewohnheit, dem Wunsch nach allgemeinem Wohlbefinden, war er auch Chirurg geworden. Und diese Gabe, oder wie auch immer man es nennen möchte hat sein ältester Sohn definitiv geerbt.
,,Hey Paul. Es ist auch schön dich zu sehen", schmunzelte sie und sah augenzwinkernd zu ihm hoch, dass er seine angespannte Haltung fallen ließ und sich ausatmend, verlegen räusperte. Sein graues Haar hing ihm in Strähnen in seine Stirn und die tiefen Augenringe bestätigten Elaines Verdacht auf wieder mal viel zu viele Überstunden, die der Vater ihres Verlobten in diesem Krankenhaus verbrachte. Auch wenn er sehr viel Acht auf seine Mitmenschen gab, sollte er sich demnächst etwas mehr Zeit für sich selbst nehmen, ging es ihr durch den Kopf. Auch wenn die Letzte sie wäre, die jemanden diesbezüglich tadeln dürfte.
Paul verschränkte die Arme seufzend und sah Elaine mit diesem mitfühlenden Blick an, den sie die letzten Monate viel zu oft erhalten hatte. Sie nickte nur und ihr Lächeln verschwand, sie schob die Hände in ihre Manteltaschen und sah ausweichend auf ihre Fußspitzen: ,,Ich kann also heute wieder nicht zu ihm?"
,,Nein, leider nicht. Es tut mir leid Elaine. Aber ein andern Mal bestimmt."
Elaine hob ihren Kopf und konnte die Wehmut und Trauer nicht länger vollkommen in sich verschließen: ,,Das hast du bisher immer gesagt-"
,,Dr. Williams?", wurden sie unterbrochen. Eine Brünette mit einem nervösen und zugleich besorgten Ausdruck rief nach dem Chirurgen, der sofort verstand und sich hastig von der Verlobten seines Sohnes verabschiedete, um seinen Pflichten nachzugehen.
,,Es tut mir so leid, wir reden später!-"
,,Nein", winkte sie höflich ab und schüttelte nur mit einem feinen, zerbrechlichen Lächeln den Kopf: ,,Ist schon gut, ich werde einfach weiterhin auf den einen Tag warten."
Sie war sich nicht sicher, ob Paul den Rest noch richtig mitbekommen hatte, nachdem er der Krankenschwester hinterher gejoggt ist, zwischen den Anwesenden hindurch, wahrscheinlich auf dem Weg zu einem seiner Patienten. Aber das war auch egal. Denn sie würde warten, bis sie endlich zu ihm durfte, sich neben ihn setzen und seine Hand halten, in seiner Nähe sein durfte. Und bis dahin würde dasselbe Gebäude einfach ausreichen müssen.
Nachdem Elaine die letzten Stufen der Treppe erklomm und die Tür öffnete, peitschte ihr der Wind augenblicklich ins Gesicht. Sie trat nach draußen in die Sonne, während der hartnäckige Wind ihre langen, dunkelblonden, zum Zopf gebundenen Haare umher wirbelte. Auch die wenigen Strähnen, die zu kurz für den Pferdeschwanz waren und ihren Kopf ansonsten wie die Strahlen einer Sonne umgaben, flatterten wild herum. Wissend, wo es hingehen würde, begab sie sich an den Rand der Terrasse, über welchen man einen weitläufigen Ausblick auf Manhatten genießen durfte. Doch dieser kümmerte sie eher weniger, als sie sich auf ihrer Bank nieder ließ - ihrer, weil sie immer wenn sie hier war genau auf dieser Platz nahm.
Sie ließ die Hände in den warmen Taschen ihres grauen Mantels, zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern. Sie bereute es ein wenig, keinen Schal mitgenommen zu haben. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, konzentrierte sich ein wenig darauf, sich zu entspannen. Sie blendete die Geräusche des Verkehrs aus, die im Hintergrund echoten und obwohl der Wind nicht nachließ, wärmte das Bisschen Sonne, welche den Tag heute erhellte, ihr Gesicht ganz herrlich auf.
Es war schrecklich angenehm.
Dann öffnete sie mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen die Augen.
,,Hey, ich bin wieder da. Hast du mich vermisst?", flüsterte sie und lehnte sich zurück, machte es sich gemütlich.
,,Ich dich nämlich gewaltig. Und das tue ich immer noch.
Dann erzähle ich dir mal, was seit dem letzten Mal so Neues passiert ist, Flynn."
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