Kapitel 9
Es war der nächste Tag angebrochen und wie versprochen trafen sich die vier Freunde und betraten die alte Stadtbibliothek. Man sah den Mädchen an, dass ihnen ein ähnlicher Schauer über den Rücken zulief, wie bei den Jungen. Dieses Mal aber schlug die Uhr nicht zur vollen Stunde und es kam kein lärmender Vogel hervor.
,,So so. Ihr habt Verstärkung mitgebracht, was?", kam es kratzig vom alten Mann an der Rezeption. Sein kalter und doch weiser Blick ruhte auf die Besucher.
,,Verzeihen Sie die Störung, aber-"
Gerade, als Amelia den Grund ihres Erscheinen mitteilen wollte, unterbrach der Greis sie.
,,Ich weiß, ich weiß! Mir bleibt nicht viel Zeit, also geht einfach wieder da hinein! Hier", mit einem Mal warf er Ethan einen Schlüsselbund zu, welchen er unbeholfen auffing.
,,Vielen Dank ... schätze ich"
,,Ja, ja! Und jetzt geht!"
Jasmine war kurz davor etwas zu erwidern, doch Amelia hielt sie mit einem vielsagenden Blick davon ab und deutete auf die Umgebung hin. Sie schwieg erneut. Schließlich liefen sie zur bekannten Tür und öffneten jene, um zum gesperrten Abteil zu kommen. Sie erwarteten einen dunklen Treppengang, so wie bei ihrem letzten Besuch. Doch es war ein kleines, flackerndes Licht, dass ihre Augen finster anlachte. Ethan erblickte die Laterne, die bereits an war. Mit geweiteten Augen sah er zu James neben sich. Hatte der alte Mann sie erwartet?
Doch James schüttelte nur den Kopf und nahm die Laterne an sich.
,,Anscheinend war der alte vorhin auch hier drin", reimte er sich die Situation zusammen und lief vor. Die Anderen folgten ihm still. Dabei umklammerte Jasmine die Bluse von Amelia. Als sie unten ankamen, erblickten sie den selben, magischen Ort wie zuvor. James und Ethan liefen vor, um die Laterne auf eines der Tische abzustellen. Dann blickten sie zurück zu den Mädchen, die mit großen Augen den Ort begutachteten. Sie konnten sich ihre Gedanken und Gefühle bereits ausmalen. Schließlich haben sie ähnlich reagiert, als sie diesen historischen Ort betraten.
,,Es scheint so, als ... als würde die Zeit still stehen", kam es noch immer erstaunt von Amelia.
,,Nicht wahr?", stimmte Ethan ihr zu und sah zur Uhr, dessen Zeiger auf die selbe Uhrzeit zeigten, wie letztes Mal.
,,Wir haben nicht viel Zeit", meldete James sich wieder zu Wort.
,,Wir müssen uns schnell umschauen. Am Besten wäre es, wenn wir uns aufteilen würden."
Seine Freunde nickten ihm zu, ehe sowohl Amelia, als auch Ethan sich jeweils auf eine Seite der Bücherregale stürzten. Jasmine blieb noch immer wie verdonnert stehen.
,,Brauchst du Hilfe?", fragte James sie, wodurch sie sich wieder zu rühren schien.
,,Natürlich nicht. Ich nehme mir diese Seite vor."
Mit diesen Worten verschwand sie. James nahm sich schließlich den oberen Abteil vor. Schließlich war die Decke recht hoch, wodurch man oben eine weitere, kleine Etage mit Büchern befüllen konnte. Sie durchliefen die Titel und durchblätterten die Bücher eine ganze Weile. Die Schriften waren oft krakelig und merkwürdig verziert.
Nach langer Suche hatte Ethan endlich ein Buch gefunden, dass sich für ihn zumindest etwas als nützlich erwies. Der Titel war zwar schwer zu lesen, doch er war sich ziemlich sicher, dass er darin Nobilitas gelesen hatte. Und wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschten, dann würde dies in der alten Sprache so etwas wie Adelige oder dergleichen bedeuten. Er hätte Amelia fragen können, doch als er zu ihr herüber sah, fand er sie beschäftigt zwischen den Regalen vor. Also nahm er sich alleine die Seiten vor. Zuerst kam ihm die Sorge, dass auch der Inhalt mit der alten Sprache gefüllt sei, als er diese merkwürdigen Schriftzüge sah. Doch beim genaueren Hinsehen erkannte er ihre normale Sprache wieder. Bloß die Grammatik und der Schriftstil war etwas anders. Nach ein paar Sätzen merkte er, dass es bloß eine Art Vorwort war und nach weiterem Umblättern fand er die Einleitung vor. Etwas darüber, wie sehr das Königreich mit so wundervollen Herrschen gesegnet doch sei und wie viel Ehre jenes Adel hervorbrachte. Doch viel mehr konnte er nicht lesen. Die Schrift schien zu schwammig in seinen Augen, um darin weiter zu lesen. Er blinzelte erschöpft und blätterte weiter. Erneut konnte er nur zwischendurch paar Sätze lesen, ehe erneut die Augen zukneifen und weiter umblättern musste. Irgendwann traf er auf einen Stammbaum. Wie von alleine fixierten seine Augen sich auf die letzte Person, die ganz unten aufgezeichnet wurde. Endlich fand er einen Namen, der ihn bekannt vor kam. Es war der Sohn des kranken Königs, dass dem langen Krieg ein Ende bereitete. Darunter waren Zahlen abgebildet, die die Altersspanne des damaligen Herrschers zeigten. Doch daneben fand er einen weiteren Namen vor, von dessen Existenz er noch nie etwas gehört hatte.
„Candella Rosé von White Pearl...", las er kaum hörbar den Namen vor.
Darunter sah er ebenso Zahlen, doch da fand er zwei Sachen heraus, die seinen Atem anhalten ließen. Sie hat nur zwanzig Jahre gelebt. Und sie war älter als der Prinz, ihrem Bruder. In ihrem Land war es so, dass egal ob Junge oder Mädchen – der Ältere würde stets die Krone bekommen. Doch die Krone bekam der jüngere Bruder. Warum, das wusste er nicht. Doch eines hatte er anhand der Zahlen realisiert.
,,Sie starb ... als der Krieg endete ...?"
Plötzlich durchbohrte ihn ein fürchterlicher Schmerz. Er fasste sich am Kopf und lies mit zugekniffenen Augen das Buch aus seinen Händen fallen. Er kniete sich zu Boden und versuchte seinen Atem zu regulieren, als dieser durch den plötzlichen Schmerz zu toben begann.
,,Ethan!"
Er nahm nur ganz schwach die Stimme von Amelia wahr. Langsam öffnete er die Augen und versuchte erneut zum Buch herüber zu sehen. Jenes hatte vor seinen Füßen eine neue Seite aufgeschlagen. Es gelang ihm einen weiteren Satz heraus zu lesen. Doch was er vorfand, raubte ihm erneut den Atem.
Jene Feierlichkeit, die dem Frieden des langen Krieges beistand, war die Krönung des jungen Prinzen, die darauf folgte. Und eine weiße Perle, die zum Symbol der Reinheit und des Friedens der Königreiche wurde.
,,Ethan! Hörst du uns denn nicht?!"
Es war James unruhige Stimme, die ihn aus seiner Starre herausholte. Als er aufsah, fand er den verzweifelten Blick seines besten Freundes vor sich. Obwohl er so viel hätte sagen können, war sein Mund wie gelähmt.
,,Das war es. Wir verlassen diesen Ort, sofort."
Er packte Ethan am Arm und warf diese um seine Schulter, bevor er ihn mit sich zur Tür schliff.
,,Sollen wir ihn ins Krankenhaus bringen?", fragte Amelia ihn, doch James schüttelte nur den Kopf.
,,Noch nicht. Ich habe da eine Vorahnung. Jasmine, nimm die Laterne mit und lauf vor."
Sie nickte und nahm eilig die Laterne in die Hand, bevor sie vor lief. Man nahm nur noch das Klimpern der Schlüssel wahr, als Amelia diese vom Tisch nahm und alle die Stufen hinauf gingen.
,,Komm schon, Ethan", sprach James zu ihm.
,,Ich habe zwar gesagt, dass du ein Krummbuckel bist, aber du lässt dich doch nicht ernsthaft von so etwas runter ziehen, oder?!"
,,Natürlich ... nicht", knirschte er mit den Zähnen, als der Druck um seinen Kopf nicht nachließ. Doch er hob weiter die Beine an und bestieg mit seiner Hilfe die Treppen.
Als sie oben ankamen und die Tür hinter sich schlossen, konnte Ethan erleichtert aufatmen. Der Schmerz war zwar noch da, aber nicht mehr so schlimm wie zuvor. Sie schauten sich um, doch der alte Mann war nicht an der Rezeption. James stützte seinen Freund noch immer und machte sich auf dem Weg nach draußen. Jasmine folgte ihnen, doch dann hielt sie inne und drehte sich um.
,,Amelia, kommst du?"
,,Ich bringe eben den Schlüssel zurück."
,,Ach, lass den einfach da liegen. Der holt sich den schon selbst."
Sie nickte ihrer Freundin zu, ließ den Schlüsselbund auf den Tisch liegen und folgte ihren Freunden hinaus.
Draußen atmeten alle laut hörbar erleichtert ein und aus. Schließlich nahm James seinen Arm von seiner Schulter runter.
,,Geht es jetzt wieder?"
Ethan griff mit seiner Hand nach seiner Brust und konzentrierte sich auf seiner Atmung. Doch dann sah er verwundert auf.
,,Der Schmerz ... er ist weg."
Er blickte in die Augen seiner Freunde, die ihn mit gerunzelter Stirn anstarrten.
,,Wie kann das sein? Du konntest vorhin vor Schmerzen kaum alleine stehen! Hast du vielleicht eine Art Klaustrophobie entwickelt oder so? Ging es dir deshalb so plötzlich schlecht? Schließlich waren wir im Keller ... vielleicht-", versuchte Amelia einen Grund dafür zu finden, doch James schüttelte nur den Kopf, ehe er ihr zu Wort kam.
,,Es liegt nicht an ihm, sondern an dem, was er las. Es war letztes Mal so ähnlich, aber ... nicht annähernd so kritisch wie jetzt. Ethan, was hast du gelesen? Was hast du herausgefunden?"
,,Was ich gelesen habe...?", wiederholte er die Frage, bevor er schweigend zurückdachte. Doch als er die Worte wieder vor sich hatte, spürte er ein Stechen im Schädel und zuckte zusammen.
,,Candella ... Candella Rosé von White Pearl. Sie war die ältere Schwester des damaligen Prinzen, der den Königreichen Frieden einbrachte und die eigentliche Thronfolgerin."
,,Schwester...? Aber er war doch ein Einzelkind. Und von diesem Namen habe ich noch nie gehört", erwiderte Amelia darauf.
,,Aber so stand es da!"
,,Ethan, ich will nicht gemein klingen, aber vielleicht hast du dich auch einfach vertan? Schließlich klangen die Adeligen damals alle ziemlich gleich", erwiderte Jasmine darauf.
,,Nein, ich bin mir sicher! Schließlich stimmten auch die Jahreszeiten!"
Die zwei Mädchen sahen ihn ungläubig, schon beinahe besorgt an. Schließlich waren sie Jahrgangsbeste im Fach Geschichte und noch nie hatten sie davon gehört.
,,Amelia, Jasmine. Wie heißt denn unsere gegenwärtige Prinzessin?", fragte sie nun James, doch als sie versuchten zu antworten, kam kein Wort aus ihrem Munde.
„Es war Lavandula. Lavandula von White Pearl", antwortete Ethan stattdessen und James nickte. Auch die Mädchen schienen sich nun mit gefallenem Kiefer zu erinnern.
„Seht ihr? Also Ethan. Erzähl, was stand da noch?"
Ethan blickte zu seinem Freund, der ihn abwartend und erwartungsvoll ansah. Er konnte nicht anders, als in Gedanken darüber ein wenig zu schmunzeln. Auch wenn James oft wie der größte Störenfried herüber kam und Ethan schon in die Eine oder Andere missliche Lage hineinbrachte, so war er dennoch stets auf seiner Seite.
„Die Prinzessin starb in unserem Alter, genau zu dem Zeitpunkt, wo der Krieg endete. Und an ihrer Stelle bekam ihr jüngerer Bruder die Krone. Aber er wurde nicht König vor dem Ende des Krieges und sorgte schließlich für den Frieden – nein, erst als der Frieden einkehrte, wurde er zum König gekrönt."
Seine Freunde schwiegen, als sie das hörten. Selbst James schien irritiert über diese Aussage. Ethan seufzte erschöpft, während er auf die Reaktion seiner Freunde wartete und blickte in den erneut grauen Himmel.
„Es könnte ja sein, dass der Prinz irgendwie die Überhand nahm und im Hintergrund verhandelte, bevor er die weiße Flagge hisste und schließlich gekrönt wurde", überlegte Amelia, worauf er wieder zu ihr sah.
„Das würde aber nicht den Tod der Prinzessin erklären. Schließlich hätte sie Königin werden müssen, Ehre hin oder her. Auch gab es keine Angriffe im Palast. Wie also...", murmelte James, doch da kam Jasmine zögerlich zu Wort.
,,Ich ... ich dachte, es wäre nicht so wichtig und es fiel mir auch schwer alles zu lesen, also .. naja, ich weiß nicht, ob das hilfreich wäre -"
„Sag es einfach", kam es von James und sie seufzte.
„Nun, ich habe ein Buch über die Helden zu der Zeit gefunden. Da wurden halt Adelige aufgezählt, die Tapfer im Krieg gekämpft haben und verstorben seien. Es gab diesen einen Fürsten, der im Krieg durch einen Giftpfeil verstarb. Sein Name war der Selbe wie unsere Schule, deshalb ist er mir halt beim Durchblättern aufgefallen", erklärte sie.
„Und weiter?"
„Lass mich doch ausreden James! Ethan's Informationen sind schon erschreckend genug!"
„Erschreckend genug?"
,,Er sagte doch, dass die Prinzessin zu dem Zeitpunkt verstarb, als der Krieg geendet hat. Das sind genau vier Tage nach dem Tod des Fürsten. Und nach dem Fürsten gab es keine Tode mehr, denn es kehrte kurzen Waffenstillstand ein, bevor die weißen Flaggen gehisst wurden."
Jasmine schien fertig mit ihrer Erklärung zu sein, denn danach war sie sofort wieder still. Nicht nur sie schwieg, völlig versunken in Gedanken, sondern auch die Anderen. Ethan konnte nicht anders, als eine Verbindung zwischen diesen Informationen zu suchen. Doch es war viel schwerer als gedacht. Alles könnte sich auch ganz einfach als Zufall herausstellen. Gleichzeitig war ihm aber auch bewusst, dass nichts wirklich dem Zufällen entsprach. Er musste an die Worte seiner Lehrerin denken, als sie sagte, dass Geschichte von Gewinnern geschrieben werden würde. Doch wer war hier der Gewinner? Warum lernten sie es in den Schulen anders, als dass es in den echten Quellen stand? Auch Shiros Worte kamen ihm in den Sinn, als sie sagte, wie komisch doch das alles war. Und genau jetzt konnte er ihre Worte wirklich nachvollziehen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr schmerzte sein Kopf.
,,Vielleicht sollten wir besser heimkehren. Ethan muss sich auch unbedingt ausruhen", kam es nach einer Weile von Amelia. Den Anderen blieb nichts anderes übrig, als ihr zuzustimmen. Sie fragten Ethan noch einige Male, ob sie ihn nach Hause begleiten sollten, doch er lehnte genauso oft das Angebot ab, bevor es ihm gelang, sich alleine auf dem Weg nach Hause zu machen.
Mit jedem Schritt den er machte realisierte er, dass diese Aktion ihm seine Energie geraubt hatte. Er versuchte nicht mehr darüber nachzudenken und widmete seinen Blick und seine Gedanken seiner Umgebung. Viele Menschen liefen an ihm vorbei, doch ihre Augen mieden stets die der Anderen. Jeder schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Die Straßen waren erfüllt mit Läden – manche waren sogar neu und ihm unbekannt. Er konnte nicht anders, als sich zu fragen, wie viel sich wohl mit der Zeit verändert hat. Sind die Menschen anders als damals? Würden sie ihr Zuhause hier wieder erkennen, wenn sie wundersamerweise noch leben würden?
Ein Tropfen, der seine Nasenspitze traf, zog ihn aus seinen Gedanken heraus. Blinzelnd schaute er in den dunkelgrauen Himmel, ehe ein Schauer ihn zum Sprinten brachte.
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