Kapitel 18
Unter schwerem Atem umklammerte die junge Frau den Regenschirm, als sie dem Bürgersteig entlang lief. Der Regen prasselte schwerwiegend auf dem Schirm und dämpfte ihr Gehör. Sie legte die losen, schwarzen Strähnen hinter ihrem Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Immer wieder schweifte ihr Blick über die Straßen.
,,Man, Amelia ...", jammerte sie nervös und leise. ,,Wo bist du nur?"
Sie hielt inne, als sie die Bibliothek bemerkte. Sie war ohne es zu merken schon so weit gelaufen. Langsam begab sie sich zur Straße, sah sich um und überschritt sie schließlich. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, stellte sie fest, dass sie geschlossen war.
,,Nanu?" Sie näherte sich der Türscheibe und legte ihre Hand auf das Glas, um besser hinein blicken zu können. Es war niemand zu sehen, was auch keine große Verwunderung war. Schließlich zeigte der Greis sich kaum vorne. Was sie eher erschütterte, waren die Laken, die über den Tisch und über die Regale gelegt wurden. Wie von der Panik gepackt, schlug sie wild gegen das Glas.
Es kann nicht sein! Warum sollte der alte Greis plötzlich verschwinden?!
Genau jetzt! Warum ausgerechnet jetzt!?
Amelia war ständig hier die letzten Tage...! Wo ist nur Amelia...
,,Verzeihung", hörte sie eine weibliche Stimme hinter sich und schrak auf, als sie nach hinten sah. Es war die Besitzerin der Bäckerei von nebenan.
,,Brauchen Sie irgendetwas?"
,,Haben Sie den Besitzer dieser Bibliothek gesehen?!"
,,Besitzer...? Ich habe den Besitzer noch nie gesehen", antwortete sie verwirrt darauf und Jasmines Augen weiteten sich. Wie?
Doch sie schüttelte hastig den Kopf. Jetzt war keine Zeit für viele Fragen.
,,Haben Sie vielleicht ein großes, blondes Mädchen hier gesehen?"
,,Ah ... ja, sie hat genau wie du hier gestanden. Das arme Ding war so blass und durchnässt vom Regen", antwortete sie und Jasmine war sofort klar, dass sie von Amelia sprach. Die Sorge in ihr stieg, als sie fragte, wo lang sie ging. Die Bäckerin war sich nicht mehr sicher, doch als sie dann eine gewisse Richtung erriet, eilte Jasmine dankend in diese.
Die Sorge um ihre beste Freundin stieg und je mehr Zeit verschwand, in der sie sie nicht fand, desto größer wurde dieses stechende und erdrückende Gefühl in ihrem Herzen. Sie fragte zwischendurch trotzdem noch Passanten, doch niemand konnte oder wollte ihr wirklich weiterhelfen. Jasmine verstand es nicht. Wie konnte ihnen bei so einem Wetter kein Mädchen ohne Regenschirm auffallen? Es schien so, als sei ihre Umgebung ihnen egal.
Nach einer Weile entschied sich Jasmine auch in den Gassen der Straßen zu gucken. Amelia war so eine Person – wenn es ihr nicht gut ging und sie etwas schweres verbarg, dann versteckte sie sich und wartete, bis das Gefühl verschwand. Das war ihre Art, um niemanden zu stören. Jasmine erinnerte sich noch gut daran, als sie wegen ihrer klugen und stillen Art oft in der Schule geärgert wurde. Sie würde sich dann immer in den Mädchentoilleten einsperren, bis die Lage sich beruhigen würde. Jasmine ärgerte Amelia auch von Zeit zu Zeit, doch waren ihre Absichten dahinter ganz Andere. Letztendlich konnte sie es nicht mitansehen, also holte sie Amelia aus ihrem Versteck heraus. Das und noch viele Andere Situationen haben ihre Freundschaft geprägt und gestärkt. Jasmine konnte sich keine bessere Freundin vorstellen. Und genauso konnte sie es sich auch nicht vorstellen, sie zu verlieren. Der heutige Tag zerriss ihr das Herz.
Irgendwann machten ihre Beine nicht mehr mit. Also kniete sie sich bei der Gasse, in der sie sich befand, neben einem Container hin und lehnte sich an der Wand an. Die Dächer der Häuser ragten heraus, wodurch der Regen sie nicht mehr erreichte. Also schloss sie den Regenschirm und verschnaufte. Ihr müder Blick wich hinauf in den dunklen, bewölkten Himmel. Es würde noch eine ganze Weile regnen, dachte sie sich.
Gerade als sie wieder aufstehen wollte, hörte sie eine dunkle, gedämpfte Stimme in den tiefen der Gasse. Also ging sie zurück in die Hocke und horchte auf.
,,Hast du das Kind?"
,,Schnell, bevor die Wirkung nachlässt!"
Die Konversation der beiden Männer versetzte ihr Herz für einen Moment zum Stillstand. Sie musste sich die Hände vor dem Mund halten, um nicht aufzuschreien. Sie hörte noch, wie eine Kofferraumtüre geöffnet wurde und etwas hineingeworfen wurde.
,,Sachte! Wir sollen die Kinder doch lebend bringen!"
,,Die sterben doch eh-" ,,Bist du dumm?! Dann sind die Organe nicht mehr zu gebrauchen, noch bevor wir den Chef erreichen! Willst du sterben?!"
Ihre Augen weiteten sich und ihr wurde ganz übel.
Dieses Geräusch ... das, was er warf – es war ein Kind?!
Sie versuchte ihren Atem zu regulieren und biss die Zähne zusammen, ehe sie ihre Hand am Container abstützte und in die Richtung sah, aus der die Stimmen kamen. Zwischen all den gepflasterten Häusern sah sie ein schwarzes Fahrzeug, dass sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es war größer als das von Frau Ay. Und davor standen Männer in schwarzen Anzügen. Einer von ihnen rauchte noch eine Zigarette, während der Andere den Kofferraum schloss. an ihren Händen trugen sie ebenso schwarzen Handschuhe. Das Einzige, was nicht bedeckt war, waren ihren kreidebleichen Gesichter. Als wären sie sich sicher, dass niemand sie wiedererkennen würde. Ihre Ausdrücke waren so ruhig und gelassen, als wäre ihre Tat ein leichtes.
Die junge Frau knirschte mit den Zähnen und umklammerte den Regenschirm, so dass man glauben könnte, es würde in ihrer Faust beinahe zerbrechen. Sie musste etwas dagegen unternehmen, doch alleine hatte sie gegen zwei große Männer keine Chance. Sie dachte nach, denn nach Hilfe schreien konnte sie nicht und bis sie nach Hilfe suchen würde, wären die Männer längst auf und davon. Sie sah hinter sich zurück. Die Hauptstraße war nicht weit von hier. Genauer gesagt war sie hinten, dann rechts.
Sie überlegte und dann hatte sie eine Idee. Sie müsste etwas dahin werfen, dass Aufmerksamkeit an sich ziehen würde. Etwas, dass man bemerken könnte, aber nicht laut oder allzu groß ist. Hastig wühlte sie in ihrer Jackentasche nach etwas brauchbarem und da erfasste sie etwas kleines, Rundes. Es war die Perle, die James ihr gegeben hatte, als sie an jenem Tag ein Wettkampf abhielten. Als er es ihr gab, meinte er, damit sie sich immer daran erinnern könnte, gegen ihm verloren zu haben. Bei dem Gedanke runzelte sie die Stirn. Schließlich hatten sie ein Unentschieden. Still musterte sie diese Perle. Niemals hätte sie gedacht, dass sie es für so einen Moment benutzen würde. Also legte sie sie am Boden und winkelte mit ihren Fingern die Flugrichtung an, ehe sie sie in diese schlug. Sie beobachtete noch, wie die Perle an der Wand hinten aufkam und wenige Zentimeter nach rechts rollte, ehe sie stehen blieb.
Dann hoffen wir mal, dass sie gesehen wird.
Mit diesem Gedanke sah sie wieder nach Vorne. Sie schrak auf, als der Mann seine Zigarette mit seiner Schuhsohle zertritt und sein Komplize die Autotür zur Fahrerseite aufriss. In diesem Moment stieg das Adrenalin in ihr und sie sprang mit ihren Füßen vom Boden ab, ehe sie mit dem Regenschirm in ihrer Hand auf sie brüllend zu sprintete. Der Mann, der die Zigarette zerdrückt hatte, hob die Hände an, um sie zu packen, doch da bückte sich Jasmine im Lauf und winkelte den Schirm an. Mit einem Mal stach sie mit der spitzen Seite in den Magenbereich des Mannes. Schmerzerfüllt schrie der Mann auf und als hätte Jasmine ihr Ziel erreicht, wollte sie gerade eine Schritt zurücktreten. Doch da erfasste sie der zornige Blick des Entführers und sie spürte, wie ihr der Schirm aus den Händen grob entrissen wird. Schlagartig bekam sie jenen Gegenstand am Kopf zu spüren und als sie mit der Hand an der pochenden Stelle und geschlossenen Augen nach Hinten zu taumeln drohte, packte man sie am Handgelenk. Von der Angst persönlich gepackt riss sie die Augen auf und blickte in die eisigen Augen ihres Gegenübers. Für einem Moment verließ sie ihre Stimme. Diese Augen gaben ihr das Gefühl, im Schnee zu erfrieren. Eisig, kalt, wie der Tod war dieser Anblick. Sein Griff schmerzte wie Eis auf der Haut. Sie erzitterte.
,,Wir nehmen sie mit", sprach er zu seinem Komplizen, dieser schon wieder aus dem Auto gestiegen war. ,,Aber wir sollen doch nur Kinder mitnehmen", erwiderte dieser, worauf der Andere genervt zischte.
,,Ist doch egal! Sie ist nicht viel älter als ein Kind! Mach die Tür auf", befahl er ihm und so tat er es. Er ging zum Kofferraum und öffnete diesen. Dann zog der Mann sie kräftig am Handgelenk zur Tür. Ihr Herz schlug panisch wild, als sie den kleinen Jungen darin erblickte. Er lag darin auf der Seite und schien zu schlafen, während seine Hände hinten zusammengeknüllt und sein Mund mit einem Stoff gestopft war. Sie mussten ihm irgendwas gegeben habe, damit er trotzdem schlief.
,,Nein ...", kam es unter bebenden Lippen von ihr.
,,NEIN! LOSLASSEN!"
Sie schrie und schlug panisch um sich. Die Tränen stiegen in ihr und mischten sich mit Wut und Angst.
,,Stopfe ihr dieses Zeug rein!"
Sein Gegenüber kam mit einem weiterem Stoff an und darin erkannte man eine gewisse Nässe. Jasmines Augen weiteten sich. Das war irgendein Schlafmittel! Das müssen sie dem Kleinen gegeben haben! Sie versuchte sich aus den Fäusten dieses Riesen zu befreien, doch vergebens. Sein Komplize stand vor ihr und wollte ihr dieses Gift gerade ins Gesicht drücken. Doch da nahm Jasmine alle Kraft auf sich und trat ihm mit voller Wucht mit dem Knie in die Leber. Beide schrien auf das Mädchen ein und genau da ließ der Mann mit einer Hand von ihr ab, um das Schlafmittel an sich zu nehmen. Als dann Jasmine eine leichte Lockerung in seinem Griff bemerkte, nutzte sie die Chance, um zumindest einen Arm aus seinen Händen zu befreien. Schließlich winkelte sie ihren Arm an und rammte ihren Ellenbogen in die Milz des Angreifers. Von Pein erfüllt krümmte er in sich und die junge Frau wich von ihm, ehe sie versuchte davon zu laufen. Doch da packte der Entführer nach ihrem Pferdeschwanz und zog sie gewaltsam wieder zu sich. Ein leidvoller Schrei entfloh ihrer schmerzenden Lunge, als man ihr das Haar drohte zu entreißen. Erzwungen sah sie zum Mann auf. Leid, Trauer, Zorn und Angst spiegelten sich in ihren Tränen.
Sie wollte doch nur ihre Freundin finden. Wie konnte es nur so weit kommen? Sie wollte doch nur dem Kind helfen. Wie konnte es nur so weit kommen? Da raubte man ihr den Atem, als er seine Hand um ihren Hals legte und ihr die Luft zuschnürte. Sie versuchte seine Hände von sich zu nehmen, kratzte ans seiner Handfläche, doch er ließ nicht los. Er beleidigte und schrie sie kleinlaut an, während er das Tuch bereit machte. Mit Tränen in den Augen, nicht in der Lage zu schreien, blickte sie in den bewölkten Himmel. Als würde sie mit ihren Herzen nach bestimmten Worten suchen, blickte sie hilfesuchend hinauf. Langsam verlor sie die Kraft in ihren Fingerspitzen und sie schloss die Augen. So vieles bereute sie in jenem Moment.
,,JASMINE!!"
Für einen Moment glaubte sie seine Stimme zu hören, doch noch ehe es ihr irgendwie gelang, die Augen wenigstens halbwegs zu öffnen, löste sich der Druck auf ihrem Hals und sie fiel auf ihre Knie. Sie hustete und atmete schwer, als sie nach Luft rang und mit ihrer Hand ihren Hals berührte. Ihr gelang es ein wenig vom Augenwinkel zu sehen. Der Mann, der sie bis eben noch im Griff hatte, lag am Boden. Jemand stand über ihm und trat mehrere Male auf ihn ein, bis jemand im Anzug ihn aufhielt. Langsam sah sie auf und bemerkte, wie der andere Typ aus dem Auto gezogen wurde.
,,Jasmine...", hörte sie eine zitternde Jungenstimme über sich und als sie glaubte, jene James zuzuordnen, konnte sie es nicht ganz glauben. Warum sollte seine Stimme erzittern?
Also blickte sie auf und als sie schwach in sein Gesicht sah, weiteten sich ihre Augen. Seine dunklen Augen, die sonst kaum Emotionen zeigten, waren mit Tränen gefüllt. Er kniete sich zu ihr hinunter und reichte seine Arme nach ihr aus, als wolle er sie umarmen, doch dann hielt er mitten in der Luft inne und vergrub sie in seine nasse Kleidung. Sein Blick wich für einen Moment zum verregnetem Asphalt.
,,Geht es ... dir gut?"
Sie war viel zu schockiert, viel zu schwach, um ihm zu antworten. Sie verstand nicht, warum seine Augen mit so viel Angst und Trauer gefüllt waren. Warum er seine Arme nach ihr ausgestreckt hatte. Doch dann sah er wie zu ihr auf. So verletzt sahen seine Augen in ihre. Sie nahm ein merkwürdiges Stechen in ihrem Herzen wahr.
,,Warum tust du nur so etwas?! Warum bist du nur so närrisch!? Dachtest du wirklich, du könntest diese Situation alleine bewältigen?! ..." schrie er sie an, doch dann brach seine Stimme bei den nächsten Worten. ,,...wenn ich die Perle nicht gesehen hätte ... ich bin vor Angst gestorben, Jasmine ... Warum musst du mich ständig so verletzen? Warum? Warum handelst du immer nach deinen Gefühlen? ... Jasmine, antworte mir doch..!"
,,Ich...", brachte sie nur heraus. Ihr Herz hatte sich zwar durch seine Ankunft beruhigt, doch brachten seine Worte erneut für Unruhe. Sie verstand die Bedeutung hinter seinen Worten nicht. Warum soll sie ihn ständig verletzt haben? Doch bei seinem Anblick konnte sie keine anderen Worte finden.
,,Es ... es tut mir Leid ... Es tut mir leid, James..."
Ihre Worte klangen eher wie ein zitterndes Hauchen, als eine feste Entschuldigung. Besser brachte sie diese Worte nicht heraus, denn bei all dem unverständlichem Chaos, dass sich gerade in ihr aufquollen wollte, kamen ihr die Tränen erneut hoch.
,,Was genau?"
,,Dass ich dir Sorgen bereitet habe."
,,Mir tut es auch Leid", erwiderte er zaghaft, worauf sie ihn verwundert ansah. ,,Ich möchte nichts bereuen und deshalb werde ich nichts mehr verbergen. Vielleicht verstehst du es allmählich, aber ich werde mit meinem Onkel und deiner Mutter reden."
In diesem Moment wurde es ihr ganz warm ums Herz. Denn die Wärme, die sein zerbrechliches, aber ehrliches Lächeln umgab, ließ sie die Bedeutung seiner Worte und Taten erkennen. Ihr Herz schlug plötzlich in einem angenehmen, aber dennoch recht schnellen Rhythmus.
,,Dem Kind geht es gut. Deine Tat war zwar sehr riskant, aber du hast damit das Leben dieses Kindes gerettet", sprach Malik. Sein Leibwächter hielt das schlafende Kind in seinen Armen und stellte sich neben ihm. Beide schienen schließlich etwas zu besprechen. Jasmine atmete erleichtert aus, als sie den Kleinen in sicheren Händen sah. Und auch der Lob von Malik ließ sie etwas besser fühlen. Doch als sie die Situation realisierte, schrak sie erneut auf. Wenn Malik und James hier sind, dann-
,,Was ist mit Amelia?! Geht es ihr gut?!"
,,Mir geht es gut", hörte sie plötzlich ihre beste Freundin. Sie und Ethan kamen von der Hauptstraße in die Gasse herein. Sie müssen wohl James und den anderen begegnet sein.
Sofort rappelte Jasmin sich unbeholfen auf ihre Beine und noch bevor James ihr irgendwie helfen konnte, rannte sie auf ihre beste Freundin zu und schloss sie in ihre Arme. Feste umklammerte sie sie und konnte nicht anders, als bei alldem zu wimmern. Amelia entschuldigte sich bei ihr, doch ihre Tränen wollten nicht aufhören.
,,Es ist alles gut Jasmin ... alles ist gut..", sie strich sanft durch das schwarze Haar ihrer besten Freundin, während sie behutsam auf sie einsprach. ,,lass uns zurückgehen und etwas trockenes anziehen, okay? Außerdem ...", Amelia hielt für einen Moment inne und als Jasmine mit geröteten AUgen zu ihr aufsah, bemerkte sie ihren ernsten Blick auf die Anderen.
,,Muss ich euch vom Buch erzählen."
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