Kapitel 16
Die Regentropfen schmückten an jenem Morgen die Blätter der Bäume und schimmerten in Anbetracht der aufgehenden Sonne. Der junge Bursche schnitt ein wenig vom Lavendelstrauch ab und hielt sie mit einem weißen Band zusammen. Er band es zu einer Schleife, ehe er seinen Weg antrat.
Ethan's Herz schlug ungewöhnlich ruhig, als er sich zum Krankenhaus begab. Es war um ihm herum recht still. Die Vögel sangen kaum und es waren an diesem Morgen, trotz ungehinderter Sonne, wenig Menschen unterwegs. Dennoch genoss er diese Ruhe, die mit seinem Herzschlag im Einklang war.
Nach einigen Minuten erreichte er sein Ziel.
Er umklammerte das Lavendel feste nahe seinem Herzen, ehe er tief ein und ausatmete. Und da klopfte er an ihrer Tür. Es war eine Weile still, doch dann hörte eine hohe Stimme von innen ihn herein rufen. Also öffnete er die Tür und trat herein. Sie saß auf ihrem Krankenbett und hatte ein Buch unter dem Kissen zurückgelegt. Langsam sah sie mit ihren smaragdgrünen Augen fragend auf und strich sich eine Locke hinters Ohr. Ethan war auf ihr Wiedersehen vorbereitet. Und doch konnte er nicht anders, als sie mit großen Augen von der Tür aus anzusehen, als sie ihn erblickte. In ihren Augen spielten sich in jenem Augenblick so viele Emotionen auf einmal wieder. Erst Verwunderung, dann Trauer, und schließlich Erleichterung. Ein sanftes Lächeln schlich sich unter ihren Lippen. Ethan erwiderte es zaghaft und schloss die Tür hinter sich, bevor er er sich auf sie zu bewegte.
,,Wie geht es dir?", fragte er sie.
,,Gut und dir?", erwiderte sie und er nickte, bevor er ihr das Lavendel hinhielt.
,,Als Entschädigung dafür, dass ich so lange nicht mehr kam."
Sie blinzelte überrascht auf und als sie das Lavendel erblickte, hielt ihre Hand mitten in der Luft inne.
,,Aber ... du hast keinen Grund, um dich zu entschuldigen. Ich bin einfach nur froh, dass du wieder hier bist."
,,Nimm es ruhig an. Ich brauchte einfach Zeit für mich", sprach er leise und als sie zu ihm aufsah, fand sie ein barmherziges Lächeln vor sich. Man sah ein leichtes Schimmern in ihren gläsernen Augen, ehe sie das Lavendel annahm. Danach schwiegen Beide für eine Weile. Vor allem Ethan wusste erst nicht, wie er anfangen sollte. Doch als er zu jenem Mädchen herüber sah lächelte sie leise in sich hinein, während sie das Lavendel in ihren Händen hielt. Er konnte nicht anders, als ebenso leise in sich hinein zu lachen. Er musste an die Geschichte seiner Mutter denken, als sie in Lapiz waren und er ihr als Neugeborene schon Lavendel überreichte. Und da fiel der Gedanke wieder an seine Mutter und an die Dinge, über die er die ganzen Tage nachgedacht hatte.
,,Meine Mutter war schon seit ich klein war eine sehr kränkliche Person", begann er zu erzählen. Ihm überkam gerade jetzt das Verlangen, ihr davon zu erzählen und es ihr anzuvertrauen.
,,Sie war nicht immer so. Aber es begann, als ich in die Grundschule ging. Erst war es einmal im Jahr, dann zwei mal, bis das Krankenhaus zu unserem zweiten Zuhause wurde." Er sah von der Seite zu Lavandula. Ihre Augen lagen erst überrascht, dann aber geduldig auf ihm. Die Staubflocken wurden im Sonnenlicht sichtbar und flogen um ihnen im Krankenzimmer herum. Er sah zu ihr und fuhr fort. ,,Ich liebe meine Mutter über alles. Doch bis heute musste ich immer mit dem Gedanke leben, sie irgendwann zu verlieren. Ganz plötzlich. Ich habe sie oft schon auf dem Boden aufgefunden und immer blieb mir nichts anderes übrig, als einen Krankenwagen zu holen. Doch eines Tages, als mir nichts anderes blieb als mich in meinem Zimmer zu verkriechen und an mir selbst zu arbeiten, fand ich ein Buch. Es war ein altes Erbstück unserer Familie. Darin wurden Sagen über Pflanzen und deren heilenden Wirkungen aus der alten Zeit beschrieben. Dabei stand die Rose ganz oben. Ihr Wasser soll eine heilende Wirkung haben. Und sogar Schlechtes vertreiben", er sah von ihr ab und sah in Gedanken nach vorne, als würde er sich die Situation bildlich vorstellen.
,,Ich stellte also etwas Rosenwasser her und als der Abend hereinbrach, versuchte meine Mutter den Laden zu putzen und zu schließen. Doch dann stieg erneut ihr Blutdruck. Kaum in der Lage vernünftig zu gehen schleppte sie sich selbst schwankend zurück ins Haus. Und da krachte sie zusammen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, als ich das Knallen hörte. Aber als hätte eine klare Stimme in mir etwas geschrien, griff ich nach dem Rosenwasser und eilte zu meiner Mutter. Was danach geschah, ließ mich wach werden."
Seine Augen wandten sich wieder zu ihr. Und jedes beklemmende Gefühl verschwand.
,,Ich sprühte das Rosenwasser auf ihr und sie erwachte. Das, was also aus jener Zeit schon als Wundermittel gegen Übles galt, hilft noch heute. Wir haben es einfach vergessen."
,,Wir... haben es vergessen...?"
Sie sah von ihm ab und blickte nachdenklich zu ihrem Kissen.
,,Glaubst du, wir sollten uns an die Dinge von früher erinnern?"
,,Natürlich", antwortete er selbstsicher auf ihre Frage, worauf sie blinzelnd zu ihm aufsah.
,,Schließlich können wir daraus lernen! Schau, genau so wie das Wissen über das Rosenwasser meiner Mutter half, so kann anderes Wissen von früher uns auch bei anderen Dingen helfen. Ich finde einfach, einige Dinge gehören nicht vergessen. So etwas wie Glauben, Vertrauen und Wissen sollten immer vorhanden sein und sich vertiefen, anstatt zu verschwinden."
,,Ethan ... was bedeutet Glauben für dich?"
,,Ich denke dabei an die Frage, woher wir kommen. Das ist etwas, woran es uns Conchaner am meisten mangelt. Wir haben unseren Glauben an unserem Schöpfer vergessen. Wir haben Ihn vergessen und schließlich auch uns selbst ...", überlegte er.
,, ... deshalb müssen wir einen Schritt zurückgehen, denke ich."
Lavandula sah ihn mit großen Augen an und schwieg eine Weile. Es war ihm bewusst, dass das was er sagte etwas völlig Neues, wenn nicht sogar schwer erreichbares war. Schließlich war es manchmal sogar schwieriger einen Schritt nach hinten zu machen, als einen Schritt nach vorne. Wer würde ihnen denn je versichern können, ob hinter ihnen fester Boden war? Doch man musste es tun. Er wollte es tun. Schließlich verschwand die Verwunderung aus ihrem Gesicht und ein herzliches, jedoch entferntes Lächeln zierte ihr Jenes. Langsam nickte sie.
,,Du hast Recht ...", sprach sie und ging mit ihren Fingern an ihrem Nacken, unter ihren langen roten Locken entlang. Da löste sie die goldene Perlenkette von ihrem Hals, die zuvor unter ihrem Patientenkittel versteckt lag und legte es in ihre Hand. Seine Augen hefteten sich auf die rosarote Perle und er spürte einen leichten Schauer über seinen Rücken laufen.
,,Das ist das Erbstück der Königsfamilie von White Pearl. Am Tage meines Unglücks hatten meine Eltern es mir überreicht. Sie sagten, dass diese Perle seit dem Ende des damaligen Krieges von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Es heißt, dass der Frieden erst durch das Erscheinen dieser Perle eintraf. Deshalb solle ich es mit meinem Leben beschützen."
Ihm schnürte sich der Hals zu. Egal wie er es sah, es war nur eine Perle vor seinen Augen. Nichts auf der Welt wäre das Leben eines Menschen wert. Schon gar nicht erst das von Lavandula. Doch was ihm am meisten Angst machte, war die Intensität in ihren Augen, als sie dabei auf der Perle sah. Sie glaubte an das, was sie sagte. Und auch er spürte, wie die Perle ihn überzeugen wollte.
,,Aber im Moment kann ich sie nicht beschützen...", sie hielt ihm die Perlenkette hin. ,,Deshalb sollst du sie beschützen, bis ich sie mir zurückhole."
Seine Augen weiteten sich. Er glaubte sich verhört zu haben. Er sollte das Erbstück von Conchlapiz beschützen? Ein einfacher Bürger wie er? Dabei war doch das Vertrauen zwischen Palast und Land verschwunden.
,,Ich...? Soll es... beschützen..?" Sie nickte und warf ihm ein zaghaftes Lächeln zu, dass er nicht beschreiben konnte. Er sah sie eine Weile weiterhin an und konnte kaum die nächsten Worte finden. Der ganze Mut, den er aufgebracht hatte, um mit ihr zu reden, drohte zu verblassen.
,,Aber... warum ich?"
,,Von allen Menschen auf dieser Welt ...", sie nahm seine Hand vorsichtig an sich und legte die Kette darin. ,,vertraue ich dir am meisten, Ethan." Dann schloss sie seine Finger behutsam zusammen und verbarg darin die Perlenkette. ,,Ich weiß, dass du am besten dazu geeignet bist."
In diesem Augenblick spürte er einen enormen Gewicht auf seiner Hand. In ihm waren so viele Fragen, doch als er aufsah, verstummte er vollkommen. Ihre Augen lagen auf seiner Hand, in der die Perle verborgen lag. Es sah so aus, als hätte sie noch so vieles zu sagen. Als würde ihr etwas sehr Wichtiges auf dem Herzen liegen. Doch er schaffte es nicht, sie danach zu fragen. Und auch sie schaffte es nicht, es auszusprechen. Die Reue, die sich danach um sie legen würde, begann hier.
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