Zweiter Eintrag - Noch nie davon gehört...
Königlich ragte die Zugbrücke in der Ferne vor Senga auf. Ihr Mund öffnete sich und formte ein erstauntes O. Die Brücke befand sich in vielen Metern Höhe und wurde von unzähligen Steinbögen gestützt. Durch einen davon floss ein breiter Bach gemütlich dahin und neben ihm verlief eine gerade Landstraße. Wanderwege gab es verhältnismäßig wenige.
Um die Brücke herum war die Landschaft von Hügeln geprägt. Nicht die kleinen Hügel eines Moores - es waren mehr und großflächigere, die sich in weiter Entfernung zu kleinen Bergen entwickelten.
Und dort, wo die Höhe der Erde anstieg, schimmerte die Oberfläche eines großen hellen Sees. Jenen wollte Senga erreichen. Denn wer kannte all die Sagen, die sich um Meereswesen und Wassergeister ranken, nicht?
So gerne sie am Bach entlang gelaufen wäre, so musste sie sich auch parallel zu der Brücke halten, um irgendwann am Bahnhof zu landen.
Kein einziger Baum zierte das so schon idyllische Bild, weswegen eine kleine Bewegung im Gras sogleich Sengas Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Diese Störung hielt nur für einen kurzen Moment an, danach wiegte der Wind die Grashalme wieder gleich- und regelmäßig.
Die Grünäugige hob eine Augenbraue und lief vorsichtig auf die Stelle zu, wo sie meinte, einen Schatten gesehen zu haben. Natürlich könnte auch eine der grauen Wolken am Himmel der Ursprung dessen sein, aber war Sengas Neugierde einmal geweckt, gab es kein Zurück.
Sie schob die Stängel der Kräuter beiseite und erkannte ein paar unförmige Abdrücke in der Erde. Wahrscheinlich lagen dort früher Steine oder ein Eichhörnchen oder eine Maus hatten hier nach Futter gesucht.
Letztere Vermutung wurde von ein wenig Mäusegerste, die hier und da wuchs, befeuert. Aus dem Boden sprossen eben nicht nur die hellgrünen Stängel von Gras. Auch Disteln mit dunkelgrünen und dornigen Stängeln gab es zu Hauf.
Da hörte Senga einen angestrengten Laut als würde jemand schwere Arbeit verrichten und währenddessen dringend einmal Luft hohlen müssen. Die Schottländerin drehte sich um.
Hinter ihr stand ein kleines Wesen mit kegelförmigen beigen Kopf und einem Körper aus Holz und Mullbinden, der die äußerst grobe Form eines Menschenkörpers hatte. Unwillkürlich musste Senga beim Anblick des Kopfes an ein Räucherkerzchen oder einen Pilz denken.
Mit seinen winzigen Händchen umschloss das Wesen den Stängel einer... Kartoffelpflanze?
,So bekommt er die unterirdischen Früchte nicht ans Licht...', dachte Senga kopfschüttelnd und schritt in seine Richtung. Dabei hockte sie halb und setzte sie ihre Füße nur ganz leicht auf den Boden, da sie sich sicher war, dass er sie fühlen würde ehe er sie hörte oder sah.
Trotz ihrer Bemühungen spürte er das leichte Erzittern der Erde und drehte den Kopf zu ihr, wodurch sie seine Augen erkannte; rautenförmige Löcher.
Erschrocken rannte das Ding davon, zu schnell als dass Senga irgendeinen Beweis sammeln hätte können. Sie seufzte und stellte sich wieder aufrecht hin.
,Was war das denn?'
Noch nie hatte die Abenteurerin etwas Derartiges gesichtet oder auch nur davon gehört. Keine Berichte darüber hatte sie gelesen und keine Gemälde oder Fotos, die das Kleine abbilden, gesehen.
,Seltsam...'
Senga setzte ihren Weg fort - sie hatte noch mehr Zeit verloren -, bis sie kurz vor dem Bahnhof ankam. An einer Stelle stiegen die Hügel an und die Brücke verlief bergab, sodass man einsteigen konnte statt Meter unter der Bahn zu stehen.
Kurz bevor sie an dem Punkt ankam, stolperte sie und fluchte leise. Weit und breit lagen keine Äste, Tannen- oder Kiefernzapfen und Steine auf dem Boden, nichts zum darüber Stolpern. Und doch war sie gerade gestolpert. Wie tollpatschig!
Da bemerkte sie, dass sich vor ihr mehrere Löcher in der Erde auftaten, etwa so groß wie vier Fäuste. Irritiert analysierte Senga auch den Rest ihrer Umgebung und machte noch mehr dieser Löcher aus.
,Sind das Gänge? Tunnel?' Fast hatte sie das Räucherkerzchen-Wesen in der Farbe von Pappe nur ihrer Fantasie zugeschrieben. Aber das hier wäre doch das perfekte Haus, nicht?
,Oder es ist ein Kaninchenbau.'
Nun beeilte sich Senga wirklich und fand zum Glück noch einen leeren Platz in der alten Eisenbahn, die gemütlich dahin tuckerte und schnaufende Geräusche von sich gab. Wegen dem Rauch war Senga froh über die geschlossenen Fenster. Ein Tisch ermöglichte es ihr, das Tagebuch darauf zu legen und über ihre Verwirrung zu schreiben.
So schnell sieht man sich wieder. Tatsächlich konnte ich die Eisenbahn noch erwischen, was wirklich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass ich über mehrere seltsame Tunnel gestolpert bin.
Darin könnte eventuell ein Wesen leben, von dem ich noch nie gehört habe und es auch nicht auf irgendwelchen Fotos oder Skizzen gesehen habe. Fragst du dich, wieso ich dir dann im Moment davon erzähle?
Abgesehen von meiner Langeweile auf sowohl langen als auch kurzen Fahrten, habe ich ein kleines Männchen gesehen. Es hatte einen kegelförmigen Kopf und ähnelte sonst einem winzigen Menschen, aber aus Pappe oder Holz oder Mullbinden.
Es war bestimmt nur so ein Abschrecker, weil ich es bei Kartoffeln gesehen habe. Kartoffeln werden übrigens auch gerne von Gnomen mit sich herum getragen.
Ein bisschen wirkte das Ding auch wie ein Gnom... Lass
Senga überlegte eine halbe Ewigkeit, ob sie an dieser Stelle einen Apostroph hinzufügen wollte oder nicht.
,Mamaidh ist das wichtig.'
Lass' es uns Nom taufen! Ein kleiner, niedlicher und scheuer Gnom, über den niemand etwas weiß und der gar nicht existieren muss. Beweise habe ich nämlich auch keine. So ist das leider manchmal als eigenständiger oder einzelner Forscher.
Apropos Beweise - um jede Menge davon anzuhäufen, habe ich einiges in meinem Rucksack. Die besten Kameras, die wir besitzen - das heißt, dass sie nicht die besten sind, da wir nicht reich sind - zum Beispiel. Außerdem genügend Boxen und Schächtelchen, die auch in Laboren genutzt werden,
Sie ignorierte den Fakt, dass ihre eine Billig-Version waren, da die an ein Reagenzglas erinnernden Gefäße ihren professionellen Artgenossen sonst in Nichts nachstanden. Oder beinahe in nichts.
Pinzetten und anderes viel zu kleines Zeug zum Aufsammeln von Haaren oder Schuppen, ohne sie mit meinen Fingerabdrücken zu versehen und und und. Die Liste geht endlos weiter. Warme Kleidung, Proviant, Laternen und Feuerzeuge, Messer, Schlafsäcke und Zelte dürfen natürlich auch nicht fehlen.
Ach, und meine Mutter wollte, dass ich etwas zum Stricken mitnehme. Die Langweile wird mich schon dazu bringen, etwas Neues zu probieren. Das war ihr Satz, nicht meiner!
,Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mamaidh', dachte Senga, zufrieden über ihre Vorbereitung. Da hielt die Bahn und Senga bemerkte, dass ihr Ausstieg der nächste war. Rasch stopfte sie das Buch unliebsam in ihren Rucksack, wobei sicher ein paar Eselsohren entstanden.
𖦁༺ 🛤️༻𖦁
Die Sonne ging unter und entsandte helle Orangetöne zum Himmel. Hier und da woben sich rote, gelbe oder gar beige Fäden in das sonst langweilig eintönige Stück hinein.
Es erinnerte an ein Orchester, wo eine Instrumentengruppe dominierend war und die restlichen nur ab und an ein paar Noten spielten.
Senga schenkte alledem keine Aufmerksamkeit, denn sie war vollkommen damit beschäftigt, ihr ebenfalls orangenes Zelt fertig aufgebaut zu haben, wenn es dunkel sein würde. Nach dieser Arbeit verstaute sie ihren Rucksack darin und rollte ihren Schlafsack aus.
Bei der Kälte wünschte sie sich eine Kuscheldecke zutiefst und seufzte leise. Sie stellte sich eine Mini-Laterne mit elektrischen Teelicht auf und musste dessen Batterie vertrauen.
,Morgen wird gefischt', beschloss Senga mit Blick durch ihr halb geöffnetes Zelt auf die stille Wasseroberfläche. Alles war umringt von Schilf und Algen, Seepflanzen so weit das Auge reichte.
Aber wegen der anbrechenden Nacht aß Senga nur ein belegtes Brötchen. Die mussten zuerst weg, da sie nicht so lange gut schmeckten wie die Proteinriegel und das Dosenessen.
Mit dem Gedanken an all die Fabelwesen im Wasser konnte die Schottländerin gut einschlafen. Wer würde Nessie an ihrer Stelle nicht sehen wollen?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro