Einundzwanzigster Eintrag - Survival-Suche und Schlagwetter
An diesem Tag stellte sich Senga - zum ersten Mal seit Beginn der Reise - einen Wecker. Sie war niemand, der sich alle fünf Minuten einen Wecker stellte für den Fall, dass sie einen nicht hörte. Die Aschblonde hatte sich tatsächlich nur einen einzigen Wecker gestellt. Aber dagegen konnte wohl niemand etwas einwenden, da sie auch direkt beim ersten Klingeln die grünen Augen aufschlug.
Schnell schaltete sie den Wecker und ihr Handy generell wieder aus. Vielleicht würden sie den Akku noch brauchen.
Normalerweise schlief Senga bis Sonnenaufgang, wenn sie die Nacht in der Natur verbrachte. Im Moment fehlten aber jegliche rosane, lilane oder orangene Streifen, die den Aufgang des Himmelskörpers ankündigten.
Der Grund für das vorgezogene Aufstehen war ihr aufgebrachter Proviant. Aus Obst, Gemüse und Proteinriegeln ließen sich nicht gerade viele Mahlzeiten zaubern.
Die Schottländerin machte leise, um die anderen nicht zu wecken und zog sich einen dickeren Pullover und ihre lange Winterjacken über.
Anschließend trat sie ins Freie und sah sich um. Aus ihrer Jackentasche zog sie eine breite Taschenlampe. Einmal knipste Senga auf einen Kopf, woraufhin der Schnee vor ihr angestrahlt wurde.
,Dann mal los', dachte Senga im Versuch, sich selbst zur Suche von Essen aufzuraffen. Sie hoffte auf Beeren oder sonstige essbare Pflanzen.
Und nicht weit vom Zelt wurde sie bereits fündig. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, sich mit Hilfe von Internetseiten und einem Handbuch von Zuhause schlau zu machen, was die geeigneten Pflanzen auf Bergen anging.
Deshalb konnte sie die Bergminze vor ihr leicht identifizieren. Das winterharte Gewächs verfügte über grüne, eiförmige Blätter mit Zackenrand. Im Sommer sollte sie weiße bis rosane Blüten entwickeln. Es sei denn, jemand pflücke sie zuvor.
Das tat Senga mit so vielen wie sie konnte. Blätter lieferten natürlich nicht besonders viel Energie, also mussten sie umso mehr davon essen.
Nachdem alles in ihrer Jackentasche verstaut war - sie würde die Stängel später auf jeden Fall waschen -, setzte die Abenteurerin ihre Suche fort.
Sie entdeckte nach einer Weile des Umherlaufens einen Nadelbaum, der sich von denen, die sie bisher gesehen hatten, unterschied. Er war eher strauchförmig, trug aber ebenfalls Nadeln.
An seinen Zweigen hingen mehrere blaue Beeren, wobei manche von ihnen den Farbton noch nicht ganz erreicht hatten und bei Grün hängengeblieben waren. Von ihnen sah Senga ab, denn dies war Wacholder, welcher nur reif gegessen werden sollte.
Die Entdeckerin bückte sich und streckte immer wieder die Hände nach den Beeren aus. Einmal zog sie eine Hand abrupt wieder zurück, da sie schmerzte. Jenes unangenehme Stechen war vollkommen aus dem Nichts gekommen.
,Wieso hast du Greta und Douglas nicht gefragt, ob sie nach dir sehen oder danach, ob du geschrieben hast, dass du Hilfe brauchst?', drehten sich ihre Gedanken.
Sie setzte sich und lenkte den Schein der Taschenlampe auf ihre Hand. Die Stelle wurde rot, oder?
Weil Senga nun ganz auf dem Boden saß und weiter unten war, kamen Kräuter in ihr Blickfeld. Sie hatten recht große, grüne und vor allem sehr zackige Blätter.
,Brennnessel!' Senga seufzte erleichtert und pflückte von den Nesseln ebenfalls etwas.
𖦁༺🫐༻𖦁
,,Greta hat uns Fisch gefangen, um die Zeit zu vertreiben, in der du noch weg bist", erklärte Douglas. ,,Sie hat sich Sorgen gemacht, aber ich habe deinen Wecker gehört und ihr davon erzählt."
,,Danke. Ich war relativ erfolgreich." Senga packte alle Pflanzen aus und breitete sie vor ihrem Freund auf dem Zeltboden aus. Die lange Zeit, während der sie gesucht hatte, war diese Menge an Ausbeute nicht wirklich wert gewesen.
,Aber du bist auch allein gegangen. Hoffentlich ist der Brief schon bei Mamaidh angekommen. Und hoffentlich schickt sie uns etwas zu essen. Der Phönix braucht sicher nur etwas Zeit, um alles zu uns zu fliegen.'
Vor dem Zelt hatte Douglas ein Feuer gemacht und in einem kleinen Topf die Fische gebraten. Für das Aroma gab Senga die Bergminze hinzu.
Senga mochte Fleisch wie das in Wurst und Haggis zwar lieber als erste Mahlzeit des Tages, aber die Idee mit der Minze war super gewesen!
Der Sasquatsch aß nie mit ihnen, wahrscheinlich holte er sich selbst sein Essen.
,Ob er auch Beeren sammelt? Oder jagt er nur Fleisch oder Fisch?'
Er hatte auf jeden Fall Ähnlichkeiten zum Menschen, also könnte er sehr gut ein Allesfresser sein.
Er stieß erst wieder zu ihnen, als sie wieder aufbrachen und war immer noch fest davon überzeugt, gegen den Yeti zu kämpfen.
Sie wanderten einen Pfad entlang, der sich wie eine Spirale um den Berg wand, rechts von ihnen lag also der Abgrund.
Dennoch fürchtete niemand von ihnen, abzurutschen, weil sie über eine sehr große und flache Steinplatte liefen. Hier und da gab es ein paar Erhebungen, die wie Knochen aussahen. Zwar lag noch überall Schnee, die riesige Platte jedoch war vollkommen frei davon.
Das hätte Senga komisch vorkommen müssen.
Die Schottländerin erkannte erst, dass diese Auffälligkeiten tatsächlich auf etwas hinwiesen, als der Sasquatsch unerwartet sprach.
,,Wir gehen gerade über den Rücken einesch Rieschens", sagte er beiläufig und als wäre es die normalste Sache der Welt.
Ohne seine Bemerkung hätten die drei Freunde das wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. Der Sasquatsch war größer als sie, also sah er vielleicht auch mehr. Außerdem lebte er natürlich hier.
,,Das heißt, er könnte sich jederzeit bewegen und uns in den Abgrund werfen?", fragte Douglas entgeistert.
,Er hat Recht!'
Der Sasquatsch nickte viel zu entspannt und Senga, die allmählich die Nerven verlor, lief schneller, um bald wieder auf sicheren Grund zu kommen. ,,Beeilt euch, runter hier!", zischte sie Douglas und Greta zu.
Die Meerjungfrau war nach rechts gedreht und zitterte. ,,Sieh nicht nach unten", riet Senga. Doch es war bereits zu spät; die Brünette wollte sich gar nicht mehr bewegen, sie war wie gelähmt vor Höhenangst.
Senga konnte das verstehen, schließlich waren sie beinahe am höchsten Punkt des Gebirges. Aber es musste weitergehen, also umfasste sie die Schultern der Meerjungfrau und führte sie vom Rand weg und danach hinunter vom Riesenrücken.
,,Hier ischt sein Rücken zuende", informierte der Sasquatsch nach einer Ewigkeit, woraufhin drei erleichterte Seufzer zu hören waren.
,,Endlich!", meinte Douglas.
𖦁༺🫐༻𖦁
Sie waren noch einige Meter gelaufen und dabei sehr viel vorsichtiger und aufmerksamer gewesen. Das war ziemlich anstrengend.
Das Wetter war umgeschwungen, nachdem sie froh waren, dass sie den Riesen hinter sich gelassen hatten; es windete und schneite sehr stark.
Senga drehte sich um. ,,Schaut mal!" Von ihrem Punkt aus konnte sie den Riesen sehen; er trug eine Kapuze - aus welchem Material auch immer - und es war nur ein Auge sichtbar, da er sich mittlerweile auf die Seite gedreht hatte. Dieses war so groß wie ein Kutschenrad und sprühte förmlich.
Greta, die noch immer mit der Höhe zu kämpfen hatte, verlangte eine Pause. Jene nutzte Senga für einen neuen Tagebucheintrag.
Hallo Tagebuch,
der Tag ist erst zur Hälfte vorüber, aber ich habe schon eine gruselige Geschichte zu erzählen...
Ich bin extra früh aufgestanden und habe nach Essbarem gesucht. Dabei habe ich Brennesseln, Wacholderbeeren und Bergminze sammeln können. Letztere haben wir mit Fisch, den Greta gefangen hat, gebraten. Ich mag den Geschmack der Minze!
Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich hoffe, dass der Brief, welchen ich dem Phönix gegeben habe, bei Mamaidh angekommen ist und sie genau in diesem Moment Essen für uns packt. Noch drehen wir aber nicht durch und nur Greta geht es körperlich nicht so gut.
Das hat aber einen anderen Grund. Nämlich sind wir nach dem Frühstück pünktlich weitergewandert und einem Pfad gefolgt, an dessen rechten Seite der Abgrund war.
Greta hat Höhenangst bekommen, wie du vielleicht schon vermutet hast. Aber das Größere Übel war, dass der Sasquatsch, als wäre es völlig egal, erwähnt hat, dass wir auf einem Riesen laufen.
Wir haben uns beeilt, damit er nicht aufstehen und uns in den Tod stürzen kann. Von hier aus kann ich ihn sehen. Er hat eine Kapuze auf und ist riesig. Damit meine ich riesig im Sinne von Augen, die so groß sind wie Kutschenräder. Die haben zusätzlich noch gesprüht.
Anhand des Aussehens würde ich sagen, wir sind auf einen Bergmönch getroffen. Außerdem ist das Wetter umgeschlagen, sobald er gehört hat, dass wir erleichtert darüber waren, außerhalb seiner Reichweite zu sein. Das ist auch typisch für Bergmönche.
Ich glaube, Greta geht es wieder einigermaßen gut. Wir laufen jetzt weiter.
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