3. Karaoke & Freundschaft
Akari gab ihren Eltern nicht Bescheid, als sie am Samstag das Haus verließ. Sie wussten ja eigentlich, dass sie um kurz vor zwölf Uhr gehen musste.
Auf dem Weg zu Nori prüfte sie, ob sie auch alles eingepackt hatte, was sie brauchte. Ihre Schulsachen würde sie bei Nori lassen, beim Karaoke brauchte sie die ja nicht.
"Hey! Kuroi-san!"
Akari zuckte kurz zusammen, als sie ihren Namen hörte und sah sich hastig um. Nur wenige Augenblicke später stand Sasaki neben ihr. Er trug wieder eine Schürze und hatte Mehl in den Haaren hängen. Er sah wirklich harmlos aus, kein bisschen wie jemand, den man Schläger nannte.
"Was machst du heute?", erkundigte sich Sasaki und musterte sie neugierig. Akari fühlte sich leicht unwohl, denn es war das erste Mal, dass sie ihm in Freizeitkleidung begegnete. Allerdings unterschied sich ihre helle Bluse und der violette Rock auch nicht stark von ihrer Uniform.
Zum Glück hörte Sasaki im nächsten Moment auf, sie zu mustern und blickte ihr wieder ins Gesicht.
"Ich gehe zu Nori", antwortete Akari. "Wir ... Karaoke. In der Stadt."
Sie wurde rot. Das war kein richtiger Satz gewesen...
Aber Sasaki schien das nichtmal zu bemerken. Er strahlte nur begeistert.
"Ich war früher manchmal mit meiner Schwester Karaoke singen. Aber sie konnte das nicht so gut, ich auch nicht." Er lachte.
"Aber dich würde ich echt gerne mal hören, wenn du so gut singen kannst!"
Akari zog leicht den Kopf ein. "So gut bin ich nicht, Nori übertreibt."
"Kann ich nichts zu sagen. Hast du Lust mit mir auch irgendwann hinzugehen? Nori-san kann gerne mitkommen, wenn du willst."
Akari nickte langsam. "Ich ... schau mal."
"Freut mich, kein Stress deshalb." Sasaki lächelte zufrieden.
"Ah, aber kannst du mir vielleicht sagen, wie Nori-san mit Nachnamen heißt? Ich glaube nicht, dass sie will, dass ich sie beim Vornamen nenne." Er fuhr sich mit einem schiefen Grinsen im Gesicht durch die Haare.
Akari blickte ihn erstaunt an und nickte dann schnell. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so rücksichtsvoll sein würde. Die Anschuldigungen ihrer Klassenkameraden kamen ihr immer absurder vor.
"Yoshida, Yoshida Nori."
"Super, danke! Dann viel Spaß!"
Sasaki hob kurz die Hand, dann lief er wieder zurück die Straße entlang, zur Bäckerei, wo seine Mutter bereits nach ihm rief.
Etwa eine halbe Stunde später klingelte Akari an Noris Haustür.
"Da bist du ja schon! Ich muss mich noch kurz fertig machen." Nori ließ sie hinein und lief dann schnell wieder ins Bad, um sich die Haare zu kämmen.
Akari lächelte leicht. Sie war schon daran gewöhnt und brachte solange ihre Schulsachen in Noris Zimmer.
Letztendlich saßen sie beide in der Bahn und fuhren in die Innenstadt.
Nori hatte bereits einen Karaokeraum reserviert, da sie wusste, wie unangenehm es Akari war, mit den Angestellten zu reden und warten zu müssen.
"Mit welchem Lied fangen wir an?" Nori ließ sich auf die gepolsterte Sitzbank fallen, die zwei Wände des kleinen Raumes einnahm. Gegenüber der Tür hing ein großer Bildschirm an der Wand und in der Mitte, vor der Bank, stand ein kleiner Tisch, auf dem drei Mikrophone, eine Speisekarte und das Tablet zur Liedauswahl lagen.
Akari stellte vorsichtig ihren Eistee ab, den sie direkt am Anfang bestellt hatte, denn ein Getränk pro Person war Pflicht. Das war sogar ganz angenehm, weil sie dann nichts extra bestellen mussten.
Nori stellte ihre Cola daneben und schnappte sich das Tablet.
"Kannst du »Where the Wind blows« schon auswendig?"
Akari nickte sofort, was Nori zum Lachen brachte.
"Ich hab auch nichts anderes erwartet."
Akari nahm sich ein Mikrofon und schaltete es vorsichtig an, während sie aufstand.
"Kannst du nach der Piano-Version schauen?", bat sie und Nori nickte leicht erstaunt.
Als sie es gefunden hatte, hob sie theatralisch die Arme und verkündete: "Und hier sehen Sie unseren beliebtesten Star ... Akari! Applaus bitte!"
Akari lachte leise und schüttelte den Kopf.
Nori machte das jedes Mal, wenn sie hier waren. Dabei konnte sie wirklich nicht so gut singen, wie ihre Freundin immer behauptete. Da war sie sich ganz sicher.
Akari strich sich ihre langen Haare über die Schulter und führte das Mikrofon näher an ihren Mund.
Dann begann das Lied und sie hörte auf, sich Gedanken darüber zu machen.
https://youtu.be/X7pn40KtdZA
Es war nicht mehr wichtig, ob sie gut singen konnte oder nicht.
Das einzig Wichtige war das Lied. Die Töne, die durch den Raum schwebten, die Worte, die im kleinen Raum widerhallten und die Gefühle, die in ihr aufstiegen.
Erst ganz sanft und ruhig, aber auch mit einer gewissen Sehnsucht. Dann stiegen die Töne immer höher hinauf, wie ein Hoffnungsschimmer, der wie die Sonne über dem Horizont aufging.
Akari schloss die Augen und spürte in sich selbst einen Wunsch aufsteigen. Sie wusste nicht, welchen, aber sie spürte ganz deutlich, dass sie sich etwas wünschte. Und irgendwann würde sie es schon finden. Denn das Lied war erfüllt von Hoffnung, vom Glauben, dass sich irgendwann alles zum Guten wenden würde.
Auch wenn momentan vielleicht alles verloren schien. Ja, vielleicht wusste sie doch ein wenig, was sie sich wünschte. Etwas, dass sich wie eine sanfte Umarmung anfühlte.
Sie würde immer wieder darauf hoffen, dass ihre Eltern sich änderten. Und wenn sie noch Ewigkeiten warten musste, sie würde weiter träumen. Genau wie das Lied es versprach.
Irgendwann ... Irgendwann würde alles wieder gut werden.
Die letzten Töne des Klaviers verklangen in der Luft.
Akari holte kurz tief Luft und drehte sich dann lächelnd zu Nori um.
"Wie war's?"
Als sie ihre beste Freundin ansah, verschwand das Lächeln augenblicklich.
Nori wischte sich ein paar Tränen ab und antwortete nicht. Erst als sie fertig war, strahlte sie Akari an.
"Unglaublich! Ich liebe deine Stimme!"
Akari wurde rot und wandte den Blick ab.
"Erschreck mich nicht so...", murmelte sie verlegen.
Nori lächelte Akari an. "Das war wirklich wunderschön! Man spürt jedes Mal alle Emotionen."
Ihre Freundin bedankte sich noch immer verlegen.
"Noch so ein trauriges Lied verkrafte ich jetzt aber nicht", verkündete Nori schließlich. "Was hältst du von »I'm invincible«?"
Akari wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
"Du darfst", entschied sie schließlich und reichte ihrer Freundin das Mikrofon. Sie wusste, wie sehr Nori das Lied mochte und sang es gerne für sie. Aber gleichzeitig war es eines der Lieder, die niemand so überzeugend singen konnte wie Nori.
https://youtu.be/WuNXkeFXp_U
Auch diesmal strahlte sie all dieses Selbstvertrauen aus und Akari spürte die schier unendliche Freude in ihrer besten Freundin. Nori war immer so hell, voller Hoffnung. Sie wusste, dass sie am Ende immer alles durchsetzen konnte, die Möglichkeit zu scheitern gab es bei ihr gar nicht.
Akari fühlte sich, wie jedes Mal, als wären Noris Worte genau an sie gerichtet. Es war mehr als einfach nur der Liedtext.
»Wenn du verletzt bist und mich brauchst, werde ich immer da sein. Versprochen!«
Akari konnte nicht verhindern, dass sie lächelte. Nori als Freundin zu haben, war das Beste, das ihr je passierte. Sie kannten sich schon seit Jahren und ihre Freundin brachte sie immer wieder zum Lachen und passte auf sie auf. Wenn Nori bei ihr war, brauchte sie vor nichts Angst haben.
»Du und ich, zusammen sind wir unbesiegbar!«
Das war das Lied der beiden. Seit sie es gemeinsam zum ersten Mal gehört hatten, war ihnen klar gewesen, dass es etwas besonderes für sie bedeutete. Nori hatte es sogar direkt zu ihrem Lieblingslied erklärt, ein Titel, den sie Jahre lang nicht vergeben wollte, weil sie andere Lieder nicht herabwürdigen wollte.
Wenn Akari es sang, war es genauso ernst gemeint, wie jetzt von Nori. So war es schon immer und so würde es auch immer bleiben.
»Alles ist gut, wenn du an meiner Seite bist!«
Als Nori den letzten Ton beendet hatte und die Musik ausklang, klatschte Akari laut und strahlte Nori an.
"Wie immer super!"
Nori grinste zufrieden und reichte ihr das Mikrofon.
"Jetzt bist du wieder dran!"
Nachdem sie sich noch eine Weile abgewechselt hatten, machten sie eine Pause um etwas zu trinken.
"Wie läuft dein Tanzunterricht in letzter Zeit?", erkundigte sich Akari, nachdem sie eine Weile ihren Gedanken nachgehangen waren.
Sofort breitete sich ein Lächeln auf Noris Gesicht aus. "Total gut! Es steht erstmal kein Wettbewerb an, deshalb bringt mir meine Lehrerin momentan komplett neue Tänze bei! Also kein HipHop mehr, letztes Mal hat sie Tango vorgeschlagen. Wir sollen eine, ich zitiere, 'breite künstlerische Vielfalt' beherrschen, um uns besser ausdrücken zu können."
Akari lächelte nun ebenfalls. "Schickst du mir dann wieder Videos?"
"Klar!"
Es war zur Tradition der beiden geworden, dass Nori ihre Tänze aufnahm und an Akari schickte. Genauso wie sie regelmäßig zum Karaoke gingen, damit Nori ihrer besten Freundin beim Singen zuhören konnte.
"Anderes Thema." Nori blickte Akari wieder ernster an.
"Du hast vorhin ja erzählt, dass du Sasaki-san auf dem Weg getroffen hast."
Akari nickte, neugierig, worauf Nori hinauswollte.
"Hast du vor, morgens öfter zur Bäckerei zu gehen und dann mit ihm zur Schule zu fahren?"
Das rothaarige Mädchen zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß nicht. Die Brötchen und der Kuchen dort sind lecker. Normalerweise würde ich wieder hingehen..."
Der Gedanke, dass Sasaki in der Stufe als Schläger bekannt war, machte ihr ein wenig Angst. Und sie verstand es nicht. Wie konnte dieser Junge, der gerne Kekse backte, seiner Mutter beim Verkauf half und Mehl in den Haaren hängen hatte, ein Schläger sein? Es passte einfach nicht...
"Hm", begann Nori und Akari sah sie abwartend an. "Wenn das Essen dort wirklich gut ist, kannst du ja noch ein paar Mal hingehen. Vielleicht ist sein Ruf auch ein bisschen übertrieben. Aber wenn er dir irgendwas tut, sag mir Bescheid, okay?"
Nori blickte sie ernst an und Akari erkannte, dass ihre Freundin Sasaki die Hölle heiß machen würde, wenn er ihr irgendwas täte. In ihren dunkelblauen Augen funkelte ein Feuer, das sich gegen jeden richten würde, der sie verletzte. So war Nori schon immer gewesen.
Akari nickte und lächelte. "Mach ich."
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