21. Schnee & Panik
Als Akari endlich stehen blieb und die Hände von den Ohren nahm, begann sie langsam wieder, ihre Umgebung wahrzunehmen. Es war kalt, schrecklich kalt. Und dunkel.
Überfordert blickte sie sich um, bis sie erkannte wo sie war. Sollte sie zu Nori? Nein. Nori feierte mit ihrer Familie. Sie konnte dort nicht einfach auftauchen. Außerdem hatte sie auch kein Ticket oder Geldbeutel dabei, lediglich ihr Handy.
Sie könnte zu Sasaki, schoss es ihr durch den Kopf. Aber diesen Gedanken verwarf sie noch schneller. Das war absurd. So gut befreundet waren sie nicht, es wäre schon an normalen Tagen merkwürdig, wenn sie unangekündigt bei ihm auftauchen würde. Aber an Weihnachten konnte sie das erst recht nicht tun!
Frierend lief sie die Straße entlang zum Spielplatz. Wahrscheinlich war er mittlerweile verlassen, sie wäre also ungestört. Sie wollte keinen Menschen begegnen, schon gar nicht in ihrer aktuellen Verfassung.
Je länger sie lief, desto schlimmer schien die Kälte zu werden. Es fühlte sich an, als würden tausend feine Nadeln auf ihre Arme und Beine einstechen. Ihr Gesicht wurde langsam taub, obwohl ihr heiße Tränen über die Wangen liefen.
Als sie den Spielplatz erreichte, ließ sie sich erschöpft auf eine Schaukel fallen und wäre fast wieder aufgesprungen. Die Kälte drang mühelos durch den Rock ihrer Schuluniform, die sie noch immer trug.
Es brannte ein bisschen, aber irgendwann wurden ihre Beine taub. Ihre Hände vergrub sie in ihren Ärmeln, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie aufhören würden zu schmerzen.
Dann fielen die ersten Schneeflocken.
Akaris erster Gedanke war hell, es gab Schnee an Heilig Abend! Das hatte sie sich früher immer gewünscht, aber meistens war es erst an Neujahr soweit gewesen.
Ihr zweiter Gedanke war das Gegenteil. Sie sah zu, wie die weißen Flocken auf ihr landeten und liegen bleiben, ohne zu schmelzen. Sie spürte den Schnee nicht auf ihren Beinen, er war nicht kälter als ihre Umgebung.
Sie musste wieder nach Hause gehen, wurde ihr klar. Sie würde erfrieren, wenn sie weiter draußen blieb.
Aber ...
Sie dachte an das Geschrei ihrer Eltern und zuckte zusammen, obwohl sie weiterhin von Stille umgeben war. Mit tauben Fingern zog sie ihr Handy aus der Tasche und sah nach, ob sie eine Nachricht hatte. Vielleicht hatten ihre Eltern bemerkt, dass sie verschwunden war und ihr geschrieben?
Sie hatte keine einzige Nachricht. Ihre Eltern hatten wohl wirklich noch nicht bemerkt, dass sie weg war. Vielleicht gingen sie davon aus, dass sie in ihrem Zimmer saß oder sie hatten noch nicht einmal wahrgenommen, dass sie gar nicht mehr im Esszimmer stand.
Akari steckte ihr Handy wieder ein und erneut schossen ihr Tränen in die Augen. Sie wollte Musik hören, um sich abzulenken. Aber ihre Kopfhörer lagen in ihrem Zimmer und sie schaffte es auch jetzt, allein im Dunklen, nicht, Musik laut mit ihrem Handy abzuspielen.
Ohne, dass sie sich Gedanken machen musste, welches Lied sie singen wollte, begann sich die Melodie von Ados »Where the Wind blows« in ihrem Kopf zu formen. Sie begann leise zu singen, der Text so niedergeschlagen wie sie selbst.
Aber je länger sie sang, desto leichter wurde der Druck in ihrer Brust. Sie wurde lauter und auch der Text hellte sich auf, wurde hoffnungsvoller.
***
Shuumei streckte sich, während er die Straße entlang lief. Es begann sogar zu schneien! Lächelnd blickte er in den Himmel. Weihnachten mit seiner Familie war toll, aber wenn seine Schwester wieder zu anhänglich wurde und Fragen stellte, diesmal über Akari, brauchte er manchmal eine kleine Pause.
Das Problem war ja nicht, dass er nicht zugeben würde, dass er das Mädchen liebte. Er wusste nur nicht, wie er erklären sollte, dass er es ihr bisher noch nicht gesagt hatte. Schließlich war er sonst nicht so vorsichtig und zurückhaltend.
Der Spaziergang an der frischen Luft tat wirklich gut, nachdem er die letzten Stunden im Wohn- und Esszimmer verbracht hatte, umgeben von Kuchen, Plätzchen und Zuckerfiguren. Er hatte irgendwann das Gefühl gehabt, dass er den Zucker sogar einatmete, so stark war der Geruch gewesen. Eigentlich liebte er das an Weihnachten, aber nach ein paar Stunden war es dann doch zu viel.
Nachdenklich warf er einen Blick auf sein Handy. Vermutlich sollte er langsam wieder reingehen, es waren bereits zehn Minuten vergangen und langsam wurde ihm trotz seiner Jacke ein bisschen kalt.
In einigen Metern Entfernung erkannte er den kleinen Zaun, der den Spielplatz umgab. Um diese Zeit war wahrscheinlich niemand dort, schließlich verbrachten alle Heilig Abend drinnen und es war schon lange dunkel.
Aber irgendwie hatte er das Gefühl, etwas zu hören. Eine Stimme, vielleicht Gesang?
Neugierig lief er weiter, schließlich kam es auf die paar Meter auch nicht an.
Je näher er kam, desto sicherer war er sich. Jemand sang. Und obwohl er weder Stimme noch Worte genau erkannte, spürte er eine leichte Gänsehaut und das Gefühl, als würde ihn jemand flüchtig umarmen. Er spürte den Wunsch, in den Himmel zu blicken und die Sterne zu betrachten, so unglaublich weit weg, aber trotzdem so wunderschön.
Während er diesem Wunsch nachkam, wurde ihm klar, wer sang. Es gab nur eine Person, die mit ihrem Gesang, so etwas in ihm auslösen konnte.
Hastig lief er die letzten paar Schritte und blieb am Rand des Spielplatzes stehen.
Tatsächlich, auf der Schaukel saß eine rothaarige Gestalt, den Blick in den Himmel gerichtet und den Mund zum Singen geöffnet.
"Akari!"
Er sprang über den kleinen Zaun und rannte zu ihr. Sie blickte ihn erstaunt an, vielleicht sogar ein wenig erschrocken über seine laute Stimme.
Warum saß sie hier draußen? Und warum trug sie nur ihre Schuluniform mit einem dünnen Strickjäckchen?
Ihre Beine waren zum Teil von Schnee bedeckt und Shuumei musste sich zusammenreißen, den Schnee nicht abzuwischen. Er konnte sie nicht ohne zu fragen so berühren. Aber warum tat sie es nicht selbst?
"Sasaki-san ... Was ... machst du hier?" Sie blickte ihn weiter überfordert an und er konnte erkennen, wie gerötet ihre Augen waren. Sie hatte bis gerade eben noch geweint, wurde ihm klar.
"Was machst du hier? Es ist viel zu kalt, steh auf!", fuhr er sie an. Akari zuckte zurück, aber tat hastig, was er gesagt hatte.
Zum Glück klopfte sie sich auch den Schnee ab, aber ihre Fingerspitzen sahen beinahe blau aus, genau wie ihre Lippen.
Shuumei überlegte nicht länger und zog seine Jacke aus.
"Zieh die an", forderte er sie auf.
Akari nickte gehorsam und versuchte, nach dem Stoff zu greifen. Allerdings bewegten sich ihre Finger kaum und die Jacke fiel zu Boden.
Shuumei hob sie wieder auf und half ihr beim Anziehen. Ihre Hände behielt sie in den Ärmeln, was zum Glück sehr einfach war, denn die Jacke war ihr viel zu groß.
"Was machst du hier?", fragte Shuumei erneut, diesmal ruhiger.
Akari blickte ihn nicht an und nach ein paar Sekunden Stille, schüttelte sie den Kopf.
"Willst du mit zu mir kommen?"
Shuumei war sich nicht sicher, warum er das fragte, denn eigentlich war die Wahrscheinlichkeit eher gering. Aber andererseits ... scheinbar war etwas daheim vorgefallen, sonst würde sie nicht in dieser Kälte sitzen.
"Komm mit."
Er ging voraus, drehte sich aber nach zwei Schritten um, da Akari ihm nicht folgte.
"Komm", wiederholte er.
Akari machte zögerlich einen kleinen Schritt, aber ihre Beine schienen sie nicht zu halten, denn sie knickten ein.
Erschrocken lief Shuumei zu ihr und fing sie auf. Wie lange war sie schon hier draußen? Ohne Jacke fror nun auch er, dabei waren noch keine zwei Minuten vergangen.
Akari machte keine Anstalten, wieder aufzustehen. Stattdessen hatte sie ihre Augen geschlossen. Es stiegen auch keine Atemwolken empor, bemerkte Shuumei.
Seine Angst überwältigte seine Vorsicht und er hob Akari hoch, ohne zu fragen.
Als er seinen Arm unter ihre Kniekehlen schob, spürte er keine Körperwärme. Es fühlte sich an, als würde er Schnee tragen.
Ohne weiter nachzudenken, rannte er los, sprang über den kleinen Zaun und sprintete weiter nach Hause.
Was wenn Akari erfror? Das durfte nicht passieren!
Statt zehn Minuten brauchte er nur vier und als er mit dem Ellenbogen auf die Klingel drückte, dauerte es auch nur einen kurzen Augenblick, bis seine Mutter die Tür öffnete.
"Da bist du ja ..." Sie brach ab, sobald sie Akari erkannte.
"Um Himmels Willen, was ist passiert?"
Sie trat zur Seite und ließ ihren Sohn mit Akari hinein.
"Ich hab keine Ahnung", begann Shuumei aufgelöst. "Ich hab sie auf dem Spielplatz getroffen, sie ist komplett kalt. Ich glaube, sie erfriert!"
Durch seine laute Stimme aufmerksam geworden, kam nun auch seine Schwester in den Flur.
"Oh Gott, die Arme! Ich hol schnell ein paar Decken!"
Shuumei Mutter winkte ihren Sohn in ihr Schlafzimmer. Während er sie dort aufs Bett legte, holte sie im Bad ein paar Handtücher.
"Es hat geschneit, oder? Dann ist sie ganz nass, das ist gefährlich!"
Shuumei sah überfordert zu, wie seine Mutter die Jacke öffnete und sie Akari vorsichtig auszog.
"Nimm dir ein Handtuch und trockne ihre Haare und vor allem die Kopfhaut ab", forderte sie ihn auf und er gehorchte sofort.
In diesem Moment kam auch seine Schwester mit den Armen voller Decken herein und warf sie neben dem Mädchen aufs Bett.
"Nimm dir auch ein Handtuch und trockne ihre Beine ab. Aber vorsichtig, auf keinen Fall rubbeln oder massieren, nur ganz vorsichtig abtupfen!"
Shuumei sah seine Schwester dankbar an, als sie ebenfalls sofort mithalf.
Er selbst war relativ schnell fertig und sah dann erwartungsvoll seine Mutter an, die mittlerweile gegoogelt hatte, was sie am besten tun sollte.
"Shuu, nimm zwei Handtücher und weich sie in warmem Wasser ein."
Hastig griff er nach den Tüchern und verschwand.
Als er zurückkam, hatten seine Mutter und seine Schwester Akari bis auf die Unterwäsche ausgezogen und in Decken eingewickelt. Seine Mutter nahm ihm schnell die Handtücher ab und legte sie unter der Decke auf Akaris Oberkörper.
"Wie geht es ihr? Wird alles wieder gut?", fragte er besorgt und lief im Raum hin und her.
"Sie ist zwar noch ohnmächtig, aber ihre Atmung ist schon stabiler geworden. Die nassen Sachen sind jetzt auch weg. Sie muss jetzt einfach langsam wieder warm werden. Wir haben auch vor ein paar Minuten den Notarzt gerufen, um sicherzugehen. Kann einer von euch ihr einen Tee machen, am besten mit viel Zucker?"
Shuumei atmete erleichtert auf und verließ direkt das Zimmer, um einen Tee zu kochen. Er hörte wie seine Mutter ihm folgte, nachdem sie mit seiner Schwester abgesprochen hatte, dass sie auf Akari aufpassen würde.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro