2. Familie & Ruf
Als Akari vorsichtig die Haustür öffnete, war der Unterricht bereits seit zwei Stunden vorbei. Ihre Hausaufgaben hatte sie auf einem Spielplatz in der Nähe der Haltestelle gemacht, danach war sie eine Weile herumspaziert. Aber nun konnte sie nicht noch länger warten, sonst würden sich ihre Eltern Sorgen machen, warum sie nicht nach Hause kam.
So leise wie möglich, schloss Akari die Tür wieder und stellte ihre Schuhe ordentlich an den Rand.
Es war erstaunlich still, fand sie, als sie auf Socken durch den Flur, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer schlich. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, atmete sie auf und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Ihr Bett, der sicherste Ort im ganzen Haus. Und definitiv der gemütlichste, mit den flauschigen, violetten Decken und Kissen.
Nach ein paar Minuten kramte sie ihre Kopfhörer aus ihrer Schultasche und versteckte sich in ihrer Welt aus Musik. Erst nach dem dritten Lied fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit leise mitgesungen hatte. Sie lachte leicht.
Dann klopfte es an ihre Tür und sie verstummte sofort.
Hastig legte sie die Kopfhörer beiseite, stoppte die Musik und setzte sich auf.
"Hallo, Akari Schatz. Ich wollte nur schauen, ob du schon Zuhause bist. Du hast gar nicht hallo gesagt!"
Ihre Mutter trat ein und lächelte sie an. Akari zwang sich, das Lächeln zu erwidern.
"Tut mir leid, ich war müde und wollte mich hinlegen. Außerdem dachte ich, du wärst beschäftigt und wollte dich nicht stören."
Gelogen.
"Ach, du weißt doch, dass ich für meinen Schatz immer Zeit habe."
Ihre Mutter musterte sie kurz aus ihren hellblauen Augen, als wolle sie sichergehen, dass alles in Ordnung war und Akari ihr nichts verheimlichte.
"Dann gönn dir ein bisschen Ruhe, ich gebe dir später Bescheid, wenn es Essen gibt."
"Dankeschön."
Langsam schloss ihre Mutter die Tür wieder und Akari hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Sobald sie sicher war, dass niemand mehr hereinkommen würde, verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht und sie fiel seufzend zurück in ihr Kissen.
Lügen. Alles gelogen. Auch das scheinheilige Lächeln ihrer Mutter sah so falsch aus, in ihren Augen.
Ja, sie sorgte sich um Akari. Sie war unglaublich lieb und sorgte sich daher oft schon zu viel. Aber vor allem tat sie immer so, als wäre alles in Ordnung. Und das war schlimmer, als wenn sie einfach zeigen würde, dass ihre Familie in Scherben lag.
In diesem Moment klangen wütende Schreie zu ihr nach oben. Ihre Mutter, die ihren Vater anschrie und anders herum. Ein Streit, wer von ihnen schuld war, dass Akari niemanden begrüßt hatte.
"Du gehst ihr mit deiner schrecklich aufdringlichen Art immer nur auf die Nerven! Merkst du nicht, dass du sie störst?!"
Akari zuckte zusammen, als sie ihren Vater so laut hören konnte, als würde er direkt neben ihr stehen. So schnell sie konnte, steckte sie sich ihre Kopfhörer in die Ohren und startete ihre Playlist wieder.
Die Musik musste lauter sein.
Noch lauter.
Laut genug um ihre Eltern zu übertönen.
Laut genug, um so tun zu können, dass es keinen Streit gab. Dass in diesem Haus alle ruhig miteinander umgingen und alles in Ordnung war.
Sie wünschte sich diese Illusion so sehr. Trotzdem schmerzte es, wenn ihre Mutter nicht zu merken schien, was sie tat. Ihr scheinheiliges Lächeln und die heile Welt hielten nur so lange, bis sie das Zimmer verließ und ihrem Vater begegnete.
Akari ertrug diese Mischung nicht. Es war schwer, nicht zu wissen, ob etwas wirklich in Ordnung war oder ihre Mutter wieder nur so tat.
Und so blieb Akari regungslos liegen, die Arme um ein großes Kissen geschlungen, bis ihre Mutter irgendwann hereinkam und sie zum Essen bat. Ihre normalerweise sehr helle Haut war noch immer leicht gerötet, sie hatte wohl gerade erst aufgehört mit Akaris Vater zu streiten.
Akari stand sofort auf und folgte ihrer Mutter brav die Treppe nach unten ins Esszimmer.
Ihr Vater, ein hagerer Mann mit schwarzen Haaren und rotbraunen Augen, saß bereits auf seinem Platz, den Blick auf sein Handy gerichtet.
Als er sie bemerkte lächelte er sie kurz an. "Schön dich zu sehen."
Akari erwiderte sein Lächeln kurz und ging zum Tisch. Ihr Stuhl stand nicht an ihrem Platz.
Ihre Mutter bemerkte ihren Blick und lachte, während sie sich ihre langen braunen Haare zusammenband, damit sie beim Essen nicht im Weg sein würden.
"Ich hab vorhin einen Stuhl in der Küche gebraucht, du kannst ihn später holen, wir haben ja genug Plätze hier."
Das Lachen ihrer Mutter hallte Akari falsch und schrill in den Ohren nach.
"Kein Problem, ich kann ihn auch jetzt kurz holen", antwortete sie bemüht fröhlich. Die Küche war nichtmal ein anderer Raum, sondern nur durch die Küchenzeile und einige Hängeschränke vom Ess- und Wohnzimmer abgegrenzt.
Während sie ihren Stuhl holen ging, seufzte sie leise.
Was sollte das? Die beiden waren so ... kindisch.
Ihr Platz war an der Stirnseite des Tisches, das war schon seit etwa zwei Jahren so. Und zwar aus einem einzigen, guten Grund: Andernfalls müsste sie entweder neben ihrem Vater oder ihrer Mutter sitzen. Und damit würde sie einen von ihnen bevorzugen und noch mehr Potential zum Streiten bieten.
Hastig schüttelte Akari den Kopf, bevor ihre Gedanken sie vollkommen einnehmen konnten.
Sobald sie an ihrem üblichen Platz saß und sich selbst etwas zu essen genommen hatte, überlegte sie, ob nun ein guter Zeitpunkt wäre, ihre Eltern zu fragen. Die Stimmung war nicht unbedingt angespannt, alle bemühten sich, den Schein einer perfekten Familie zu wahren.
"Nori hat mich gefragt, ob wir am Samstag etwas unternehmen können. Darf ich?"
Niemanden ansehen, beschwor sie sich. Einfach geradeaus schauen.
Ihre Mutter würde es ihr vermutlich sofort erlauben, weil sie ihr nichts abschlagen wollte. Ihr Vater stimmte in der Regel bei allem zu, es schien ihn nicht zu interessieren, wo sie war oder was sie tat.
Obwohl sie es hassten, einander zuzustimmen, entschieden sie sich meist dazu, ihr die Erlaubnis zu geben. Denn niemand wollte derjenige sein, der ihr etwas verbot.
Beinahe wie aus der Pistole geschossen antwortete ihre Mutter: "Selbstverständlich darfst du. Wohin genau geht ihr denn? Und was macht ihr?"
Ihr Vater nickte nur. „Klar, mach ruhig."
"Wir wollten in die Stadt und Karaoke singen. Und danach noch zu Nori, um zu lernen", antwortete Akari ihrer Mutter und bedankte sich lächelnd bei ihren Eltern. Diesmal war es ernst gemeint.
Dann aß sie schweigend weiter. Ihre Mutter versuchte ein einziges Mal, ein Gespräch zu beginnen, aber niemand antwortete ihr wirklich und so schwiegen sie alle.
Akari fand das angenehm. Stille war so viel besser als Stimmen, vor allem laute Stimmen.
Sobald sie fertig war, brachte sie ihren Teller in die Küche und verschwand mit der Begründung, dass sie noch Hausaufgaben machen müsse, nach oben in ihr Zimmer.
Seufzend setzte sie sich an ihren Schreibtisch und informierte Nori darüber, dass sie die Erlaubnis ihrer Eltern hatte. Dann begann sie, sich durch ihre Japanisch-Aufgaben zu quälen. Den Rest hatte sie immerhin schon erledigt.
Als sie letztendlich fertig war und auf die Uhr schaute, stellte sie fest, dass es bereits 23 Uhr war, also Zeit für sie schlafen zu gehen.
Sie wollte gerade ihr Zimmer verlassen, als sie gegenüber eine Tür knallen hörte.
Akari erstarrte, die Hand auf der Türklinke. Einen Moment später konnte sie wütende Stimmen hören, die durch die Tür zwar gedämpft, aber immer noch gut zu hören waren.
Ohne Zähne zu putzen oder nochmal anderweitig das Bad zu nutzen, legte sie sich mit Kopfhörern ins Bett und stellte die Musik laut genug, damit sie nichts anderes mehr hören konnte.
Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie einschlief. Allerdings wusste sie genau, dass es zu lang gedauert hatte, als dass sie noch genug Schlaf bekommen würde.
Als Akari sich am nächsten Morgen an ihren Platz setze und mit Nori über die Hausaufgaben redete, fiel ihr auf, dass Sasaki nicht da war.
War es vielleicht die Wahrheit gewesen, dass er gestern ausnahmsweise pünktlich gekommen war? Sie hatte sich am Morgen nichts aus der Bäckerei geholt, obwohl das Gebäck dort wirklich lecker war. Ihre Unsicherheit darüber, Sasaki erneut zu treffen und vielleicht wieder mit ihm zur Schule zu fahren, hatte überwogen.
Während der ersten Stunde tauchte Sasaki nicht mehr auf und Akari hatte ihre Aufmerksamkeit dem Unterricht zugewandt.
In der Pause begleitete sie Nori zu einem Automaten, da ihre Freundin kein Trinken dabei hatte.
Dort trafen sie auf Sasaki, der fröhlich die Hand hob, als er Akari erkannte.
"Morgen!"
Akari nickte ihm schnell zu, sagte aber nichts.
Während Nori und Sasaki beide etwas von den Automaten kauften, blieb Akari zwischen ihnen stehen und wartete.
"Du wohnst doch in der Nähe der Bäckerei, oder?", erkundigte sich Sasaki und warf ein paar Münzen ein.
Akari nickte wieder.
"Cool, wo genau denn?"
"Das geht dich nichts an", kam Nori ihrer Freundin zuvor und blickte Sasaki drohend an.
Er hob beschwichtigend die Hände und lachte.
"Alles gut, wollte nur vorschlagen, dass du morgens öfter was bei uns kaufen kannst. Dann komme ich öfter pünktlich."
Sasaki lächelte Akari freundlich an, dann griff er nach seinem Getränk und machte sich auf den Weg zum Klassenzimmer.
Nori sah ihm misstrauisch nach und schüttelte dann den Kopf. Ihre schulterlangen, glatten Haare, die sie immer offen trug, flogen leicht durch die Luft.
"Der heckt doch irgendwas aus. Warum sollte er pünktlich kommen, wenn du bei ihm was kaufst? Du bist doch einfach seine Klassenkameradin, warum macht das einen Unterschied?"
Akari zuckte zaghaft mit den Schultern.
"Er wirkt eigentlich nett."
Nori wiegte nachdenklich den Kopf und sie liefen ebenfalls zurück ins Klassenzimmer.
"Dafür hat er aber einen echt schlechten Ruf. Er prügelt sich regelmäßig, hab ich gehört. Die anderen nennen ihn alle einen Schläger. Wenn man so groß ist, ist man vermutlich im Vorteil."
Dann war die Pause vorbei und der Unterricht ging weiter.
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