5 - Hühnersuppe aus der Dose
Alfreds Vanillepudding schmeckt überraschenderweise total gut. Ich gebe zu, dass ich anfangs skeptisch war, doch Alfred ist ein grandioser Koch. Wenn er mich jeden Tag so verwöhnt, habe ich am Ende der Weihnachtszeit mindestens fünf Kilo mehr auf den Rippen.
„Und?" Cornelius stupst mich neugierig mit seiner Schnauze an, an der noch Reste vom Pudding hängen. „Haben wir dir zu viel versprochen?"
Kurz überlege ich, die Rentiere zu ärgern und zu behaupten, dass es mir überhaupt nicht geschmeckt hätte, doch ihre hoffnungsvollen Blicke halten mich in letzter Sekunde davon ab. „Nein", sage ich also ehrlich, „es war superlecker!"
Die Rentiere grinsen sich zufrieden an. Vor allem Alfred sieht geschmeichelt aus und wackelt mit seinen gekringelten Schnurbarthaaren.
Oh man, kaum zu glauben, dass die fünf Fellnasen jetzt bei mir wohnen. Auf jeden Fall eine ziemlich schräge WG, die wir da gegründet haben.
„Seid ihr alle gut gestärkt?", wirft Sam die nächste Frage in die Runde. Seine braunen Teddyaugen glänzen und seine Lippen sind zu einem sanften Lächeln verzogen. Er sieht süß aus, wenn er so glücklich ist.
„Wir waren auch vorher schon stark!", beschwert sich Bernd entrüstet. Zum Glück riecht sein Mund nicht mehr nach verfaulten Eiern, sondern nach Vanillepudding.
Ein Hoch auf Alfreds Kochkünste!
„Ist ja gut." Sam hebt abwehrend die Hände in die Luft. „Es wird Zeit, dass ihr euren Auslauf bekommt, Jungs." Sein Blick wandert zu mir. „Gibt es hier in der Nähe einen Wald? Oder ein Feld?", möchte er von mir wissen.
„Äh ja", antworte ich, „direkt hinter meiner Gartenhecke ist ein Feld."
„Perfekt!", freut sich Sam. „Dann raus mit euch Chaoten!"
Als hätten die Rentiere nur auf Sams Signal gewartet, rennen sie grölend aus der Küche. Ihre Hufen klappern auf den Fliesen und ihre grün-rot-karierten Schals flattern wild hinter ihnen her.
In diesem Moment erinnern sie mich an eine Horde kleiner Kinder, die endlich im Schnee spielen dürfen.
Lachend folgen Sam und ich den Rentieren. Da ich meine armen Olaf-Hausschuhe nicht schon wieder dem Schnee aussetzen möchte, schlüpfe ich in meine dicken Winterstiefel und werfe mir einen langen Mantel über, der am rechten Ärmel einen Brandfleck hat.
Glühwein-Unfall lässt grüßen!
Draußen schneit es immer noch. Graue Wolken hängen am Himmel und verstecken die Sonne. Obwohl es ungemütlich und kalt ist, atme ich die frische Luft ein und lächele.
Ich mag den Winter. Daran hat sich seit meiner Kindheit nichts geändert und daran wird sich auch nichts mehr ändern.
Die Rentiere hüpfen fröhlich durch meinen Garten und hinterlassen Hufspuren im Schnee. Ihr freudiges Gelächter ist so laut, dass es die ganze Luft erfüllt und wie ein niemals endendes Echo von den Hauswänden widerhallt.
Hoffentlich kommen meine Nachbarn nicht auf die Idee nachzuschauen, was hier gerade vor sich geht.
„Die Jungs lieben es, im Schnee zu spielen", erklärt mir Sam, als wir den Rentierspuren folgen. „Sie sind voller Power und Energie und müssen sich mindestens zweimal am Tag austoben."
Mein Lächeln wird breiter, denn die Theorie mit der Horde kleiner Kinder nimmt immer mehr Form an.
„Danke übrigens, dass wir bei dir bleiben dürfen, Shay." Sams Stimme klingt warm und aufrichtig. „Das wissen wir sehr zu schätzen!"
„Schon gut", winke ich ab. „Ein bisschen Abwechselung in meinem langweiligen Alltag tut mir bestimmt auch mal gut."
Ich kann Sam ansehen, dass ihm mehrere Fragen auf der Zunge liegen, doch er schluckt sie allesamt hinunter. Zum Glück, denn ich bin noch nicht bereit, über mein verkorkstes Leben zu reden. Und nein, ich übertreibe nicht!
Gemeinsam umrunden wir schließlich die Hecke, sodass sich ein riesiges Feld, das mit Schnee bedeckt ist, vor uns erstreckt. Im Sommer wird hier Mais angebaut, doch im Winter wird die riesige Fläche oft von den Nachbarskindern zum Spielen und Toben genutzt.
Jetzt gerade sind die Rentiere allerdings die Einzigen, die im Schnee herumtollen.
Sie wälzen und kugeln sich in den weißen Flocken und hüpfen aufgeregt hin und her. Dass sie glücklich sind, ist nicht zu übersehen.
Nach etwa zehn Minuten überquert Rudolph das Feld und kommt zu Sam und mir zurückgelaufen. Seine Nase glüht dunkelrot und er zittert am ganzen Körper.
„Oh je, das war wohl zu viel des Guten", murmelt Sam leise, während er Rudolph liebevoll über den Kopf streichelt. „Am besten gehst du rein, isst eine Hühnersuppe und nimmst danach ein warmes Schaumbad."
Rudolph möchte antworten, doch seine Zähne klappern so laut aufeinander, dass es ihm nicht gelingt, auch nur ein einziges Wort von sich zu geben.
Der Arme!
„Würdest du Rudolph helfen?", wendet sich Sam nun mit großen Kulleraugen an mich. Sein Blick ist flehend, als er hinzufügt: „Dann kann ich den Rest der Bande im Auge behalten und schon mal anfangen, den Schlitten zu reparieren."
Auch wenn es mir Spaß macht, die Rentiere beim Spielen zu beobachten, nicke ich. Rudolph muss schnell ins Warme. Nicht, dass er noch auskühlt.
„Komm mit. Ich koche dir eine schön leckere Hühnersuppe, okay?" Da ich etwas überfordert bin und Angst habe, dass Rudolph vor Schwäche zusammenklappen könnte, nehme ich seinen Schal in die Hand und führe ihn wie einen Hund zurück in Richtung Haus. Vor der großen Wohnzimmerschiebetür bleiben wir stehen.
„Warte hier auf mich!", fordere ich Rudolph auf. „Ich hole dir ein Handtuch."
Möglichst schnell schlüpfe ich aus meinen Winterstiefeln und flitze dann ins Badezimmer, um fünf flauschige Handtücher zu holen. Rudolph bekommt passend zu seiner Nase ein rotes Tuch, mit dem ich ihm die Hufe und das Fell trocken rubbele.
Danach gehen wir gemeinsam in die Küche, wo ich einen Topf mit Dosen-Hühnersuppe fülle.
Ich bin bestimmt nicht so eine begnadete Köchin wie Alfred, aber mit Dosen- und Tütenessen komme selbst ich zurecht. Hoffentlich hat Rudolph keine allzu großen Ansprüche an mich.
Um das Schweigen zwischen uns zu brechen, schmunzele ich irgendwann: „Echt lustig, dass du eine rote Nase hast." Mit meiner Aussage spiele ich auf den Weihnachtsfilm Rudolph mit der roten Nase an.
Leider hat der Rudolph, der mir gegenüber am Küchentisch hockt, keinen Sinn für Humor, denn er schnaubt verächtlich. „Was soll denn daran lustig sein?", fragt er mich mit einem bissigen Unterton in der Stimme. „Rote Nasen sind bei Rentieren ein Zeichen dafür, dass sie erkältet und geschwächt sind."
Oh, ach so. „Also hast du gar nicht immer eine rote Nase?"
„Nein, natürlich nicht!"
Daraufhin breitet sich eine unangenehme Stille zwischen uns aus. Nur das leise Blubbern der Hühnersuppe erfüllt die Luft.
Als die Suppe dann ein paar Minuten später fertig ist, schöpfe ich sie mit einer Kelle auf einen Teller und stelle diesen direkt vor Rudolphs rote Nase. Obwohl es total warm in der Küche ist und sich erste Schweißflecke unter meinen Achseln abzeichnen, zittert Rudolph noch immer.
Ob das an seiner Erkältung liegt oder er allgemein eine Frostbeule ist, kann ich nicht genau sagen.
„Brauchst du einen Löffel?", frage ich das Rentier.
„Nein."
Keine Sekunde später versenkt er seine Schnauze in dem Teller und schleckt alles mit seiner Zunge aus.
Äh, okay ... Sicher, dass er ein Rentier und kein Hund ist?
Binnen weniger Wimpernschläge hat Rudolph den Teller leergeputzt, sodass ich ihm Nachschlag gebe. Während ich den Teller erneut vor seiner Nase abstelle, erkundige ich mich bei ihm: „Schmeckt es dir?"
Seine dunklen Augen richten sich wie Pfeilspitzen auf mich und bohren sich unangenehm in meine Haut.
„Ernsthaft?" Es sieht so aus, als würde Rudolph seine Brauen in die Höhe ziehen. „Dieser Dosen-Fraß schmeckt ekelig. Ich esse das Zeug nur, weil mich Sam sonst einen Kopf kürzer macht."
Wow, bei Rudolphs Dankbarkeit wird mir ja ganz warm ums Herz ...
„Wenn es dir nicht schmeckt, kannst du dir das nächste Mal ja selbst eine Suppe kochen", entgegne ich beleidigt.
„Nein, schon gut." Rudolph macht eine wegwerfende Geste mit seinem Huf und haut dabei beinahe den Suppenteller vom Tisch. „Ich weiß ja, dass du nicht so viel Geld für frische Zutaten hast. Die paar Tage werde ich schon mit dem Dosen-Fraß auskommen."
Autsch! Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich es hasse, wie direkt die Rentiere sind? Manchmal wäre es wirklich besser, wenn sie ihre Gedanken für sich behalten würden.
Da ich nicht über meine Geldprobleme sprechen möchte – erst recht nicht mit einem erkälteten Rentier – schweige ich und warte, bis Rudolph seine Hühnersuppe aufgegessen hat. Danach machen wir uns auf den Weg ins Obergeschoss, wo sich das Badezimmer mit einer Badewanne befindet.
Auch wenn Rudolph das kleinste der fünf Rentiere ist, sieht es superlustig aus, wie er die Treppe hochläuft. Er überspringt immer drei Stufen und wackelt merkwürdig mit dem Hintern. Außerdem muss er seinen Kopf einziehen, damit sein Geweih nicht in der Decke steckenbleibt.
Im Bad angekommen, lasse ich warmes Wasser in die Wanne laufen. Ich bin zwar ein bisschen skeptisch, ob Rudolph da überhaupt reinpasst, aber irgendwie wird er es bestimmt schaffen, sich passend zu verrenken.
Sobald die Badewanne bis zur Hälfte gefüllt ist, gebe ich noch ein grünes Anti-Erkältungsserum hinzu. Das war immer die Geheimwaffe meiner Granny, wenn ich als Kind eine Erkältung hatte.
„So ... Die Badewanne ist fertig", verkünde ich wenig später feierlich. Sofort steht Rudolph von dem kleinen Teppich auf, der vor der Toilette liegt, und kommt auf seinen zittrigen Beinchen zur Wanne gestakst.
„Igitt!", schnaubt er. „Grünes Wasser? Willst du mich etwa vergiften, Shay?"
„Nein!", versuche ich schnell, ihn zu besänftigen. „Das ist ein Erkältungsbad. Es wird dir bei deiner Genesung helfen. Versprochen."
Rudolph schaut mich misstrauisch an. Dann seufzt er jedoch ergeben und fragt mich kleinlaut: „Könntest du mir eventuell dabei helfen, den Schal abzumachen?"
Ich grinse. „Wie heißt das Zauberwort?"
Rudolph verdreht seine Augen und bringt mich damit zum Lachen. „Bitte, liebste Shay."
„Es heißt allerliebste Shay", korrigiere ich ihn zwinkernd, ehe ich ihn von dem grün-rot-karierten Schal befreie.
Direkt schüttelt sich Rudolph einmal. Ganz vorsichtig hebt er sein rechtes Vorderbein über den Badewannenrand und lässt es langsam ins grüne Wasser eintauchen. „Oh man", seufzt er zufrieden, „das tut gut."
Im Handumdrehen hat sich Rudolph mit seinem ganzen Körper in die Wanne gequetscht und schließt genüsslich die Augen.
Tatsächlich bilde ich mir sogar ein, dass das intensive Leuchten seiner roten Nase etwas schwächer wird. Scheint so, als würde das Erkältungsbad helfen.
Während es sich Rudolph in der Badewanne gutgehen lässt, verschwinde ich in meinem Schlafzimmer. Es ist ungewohnt, wie sauber und ordentlich es hier ist. Selbst mein Bett hat Alfred neu bezogen – wahrscheinlich, weil es zu sehr nach Billig-Glühwein gestunken hat.
Ich fische einen alten Pullover von meiner Granny aus dem Schrank und laufe damit zurück ins Badezimmer. „Schau mal, Rudolph!" Das Rentier öffnet die Augen und hebt neugierig den Kopf. Als er den quietschgelben Pullover mit dem Kaktus sieht, füllt sich sein Blick mit Entsetzen. „Für dich", säusele ich halb ernst und halb schadenfroh, „damit dir nicht mehr so kalt ist."
Ich kann Rudolph ansehen, dass er gerne protestieren möchte, aber irgendetwas hält ihn davon ab. Vielleicht die Sorge, dass Sam ihn einen Kopf kürzer machen würde.
Nach einer guten Viertelstunde ist Rudolph dann fertig mit dem Baden. Nett, wie ich manchmal sein kann, rubbele ich sein braunes Fell mit einem Handtuch trocken und föhne es sogar noch. Danach versuche ich ihm den quietschgelben Pullover anzuziehen, was wegen seines riesigen Geweihs gar nicht so einfach ist, doch irgendwie schaffe ich es am Ende.
„Danke", lächelt mich Rudolph schüchtern an. „Du bist eine gute Rentierpflegerin, Shaileen."
Oh, wie süß. Das ist das schönste Kompliment, das ich jemals bekommen habe.
Damit sich Rudolph ausruhen kann, überlasse ich ihm freiwillig mein frisch bezogenes Bett. Ich decke ihn noch zu und dunkele den Raum ab, ehe ich nach Sam und den anderen Rentieren schauen möchte, allerdings hält mich Rudolphs Stimme zurück.
„Shay?"
Ich bleibe im Türrahmen stehen und drehe mich um. Abwartend schaue ich ihn an.
„Kannst du dich zu mir legen und mir eine Geschichte erzählen?" Es ist niedlich, wie unschuldig mich Rudolph aus seinen schwarzen Knopfaugen anschaut. In der Kombination mit seiner rotglühenden Nase kann ich ihm seinen Wunsch unmöglich abschlagen. „Bitte."
„Okay." Ich klettere ins Bett und lege mich neben Rudolph. Kaum habe ich mich unter die Decke gequetscht, kuschelt sich das Rentier vorsichtig an meine Seite, bedacht darauf, mir nicht mit seinem Geweih ein Auge auszustechen.
Und so erzähle ich ihm von all den Weihnachtsfilmen, die ich in der letzten Zeit geschaut habe, bis wir irgendwann Kopf an Kopf einschlafen.
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