4 - Sechs Männer für Shaileen
Mit Sam durch den Baumarkt zu laufen, ist furchtbar anstrengend. Er bleibt überall stehen und schaut sich alles ganz genau an. Statt einfach nur sein Zeug zusammenzusuchen, das er für den Schlitten braucht, lässt er sich auch noch bezüglich eines Vogelhäuschens beraten - was er aber zum Glück nicht kauft.
Wobei ihm ein Papagei auf der Schulter bestimmt gut stehen würde ...
Das Thema „Santa" verdränge ich während unserem Ausflug bewusst. Einerseits, weil ich nicht weiß, was ich darüber denken soll, und andererseits, weil ich mich nicht von Sam verarschen lassen möchte.
„Den Weihnachtsmann gibt es nicht!", hallen die Worte von Oliver wie ein niemals endendes Echo in meinem Kopf wider.
Nach unserem Besuch im Baumarkt legen wir noch einen Zwischenstopp im Discounter ein, um Hühnersuppe für den kranken Rudolph zu kaufen. Ich bin mir nicht sicher, warum uns die anderen Menschen mit schrägen Blicken bedenken, aber ich tippe mal, dass das entweder an Sams rotem Umhang oder an meiner Zombie-Wenigkeit liegt.
Ein erleichtertes Seufzen entflieht meinen Lippen, als wir zweieinhalb Stunden später mein Haus erreicht haben. Ich parke das Auto in der Garage und helfe Sam dann dabei, die ganzen Bretter, die er gekauft hat, zu seinem Schlitten zu tragen.
Draußen ist es noch immer eiskalt und es schneit. Wenn das so weitergeht, versinken meine Zwerge bald komplett im Schnee.
„Und?", frage ich Sam, als ich die Haustür aufschließe. „Glaubst du, dass sich deine Jungs gut benommen haben?"
Er lächelt zwar, doch es sieht eher wie eine gruselige Fratze des Jokers aus. „Klar", behauptet er.
„Sicher?", hake ich misstrauisch nach.
„Nein."
Na toll. Hoffentlich hat Sam eine gute Versicherung, falls die Rentiere mein ganzes Haus auseinandergenommen haben sollten. Nicht, dass es dort viele Wertgegenstände geben würde, aber ich kann es mir nicht leisten, alles neu einzurichten und zu dekorieren.
Mein Herz schlägt schneller, als ich in meine Olaf-Hausschuhe schlüpfe und danach in Richtung Wohnzimmer schlurfe. Es ist leise. Zu leise! Oh oh, das ist bestimmt kein gutes Zeichen.
Entweder hecken die Rentiere irgendetwas aus oder sie haben einen Porno angeschaltet.
Sam scheint denselben - oder zumindest einen ähnlichen - Gedankengang zu haben wie ich, denn er sieht nervös aus.
Ich atme noch einmal tief ein und wieder aus, ehe ich all meinen Mut zusammennehme und das Wohnzimmer betrete. Was ich sehe, lässt mich halb überrascht und halb entsetzt die Luft anhalten.
So falsch lag ich gar nicht mit meiner Porno-Annahme, denn zwei Rentiere liegen gemeinsam auf dem Sofa. Oder besser gesagt übereinander. Oder besser gesagt ineinander verschlungen.
Ich bin mir nicht sicher, was genau sie da gerade treiben, doch es sieht so aus, als würden sie sich küssen. Oder zumindest herumzüngeln.
Nichts gegen gleichgeschlechtliche Liebe und nichts gegen Rentierliebe, aber ein bisschen bizarr ist dieser Anblick schon.
Weil ich keine Ahnung habe, was ich jetzt sagen oder machen soll, schaue ich verunsichert zu Sam, der neben mir im Türrahmen lehnt. Er erwidert kurz meinen Blick, bevor er extra laut in die Hände klatscht und mit stichelndem Unterton in der Stimme sagt: „Bernd! Otto! Ich dachte, ihr zwei wärt nur gute Freunde. Habt ihr das Plus vergessen?"
Ertappt lassen die beiden Rentiere voneinander ab. Da ihre Schals miteinander verknotet sind - es ging wohl ziemlich heiß her - schaffen sie es nicht, Distanz zwischen ihren Körpern herzustellen, sondern krachen mit ihren Geweih-Köpfen zusammen.
„Schleich dich doch nicht so an, Sam!", beschwert sich Bernd. Woran ich ihn erkenne? An seiner Zahnlücke, die beim Sprechen sichtbar wird. Und an dem Geruch von faulenden Eiern, der zu mir herüberweht.
„Genau, Sam", pflichtet Otto seinem Freund bei, „das macht man nicht!"
Ich bin mir sicher, dass die beiden Rentiere unter ihrem Fell puterrot anlaufen, denn ihre beschämten Blicke sprechen für sich.
Da ich Mitleid mit den beiden habe, bin ich so nett und wechsele das Thema, indem ich wissen möchte: „Wo sind eigentlich die anderen?" Nur weil das Wohnzimmer noch steht, heißt das ja nicht automatisch, dass auch der Rest vom Haus verschont geblieben ist.
„Die haben deine Bruchbude aufgeräumt", kommt prompt die Antwort von Otto. „Nichts für ungut, Shay, aber es gleicht einem Wunder, dass hier noch keine Ratten und Mäuse unterwegs waren."
Wow. Das ist also der Dank dafür, dass ich die beiden Turteltäubchen aus Sams Kreuzverhör gerettet habe? Alles klar. Werde ich mir merken.
Um mir nicht den Stempel der Chaotin aufdrücken zu lassen, verteidige ich mich: „Ich wollte sowieso heute putzen." Dass das eine Lüge ist und ich einfach die letzten Wochen zu faul war, um die ganzen Chipskrümel wegzusaugen, verraten vermutlich meine Wangen, die sich von innen wie kochend heiße Lava anfühlen.
Man, warum kann ich nicht auch Fell im Gesicht haben? Das ist voll unfair!
„Alfred ist ein sehr ordentliches Rentier", mischt sich Sam wieder in das Gespräch ein. „Wenn er nicht gerade schläft oder mich austrickst, um an Schokolade zu kommen, räumt er gerne auf. Er ist auch immer derjenige, der unser Haus am Nordpol putzt."
Nordpol? Ich schlucke schwer, denn mir fällt wieder ein, dass sich Sam selbst als Santa bezeichnet hat. Es wird Zeit, das zu klären.
„Sam?" Ich traue mich nicht, ihn anzuschauen.
„Ja?"
Ich habe Angst, ihm zu nahe zu treten, doch ich muss meinen Gedanken freien Lauf lassen, andernfalls explodiere ich bald. „Wer bist du wirklich?", möchte ich von ihm wissen. „Den Weihnachtsmann gibt es nämlich nicht."
Schockiert ziehen Bernd und Otto die Luft ein. Auch Sam gibt einen entrüsteten Laut von sich.
Als wären diese Reaktionen nicht schon unangenehm genug, trampeln plötzlich die restlichen drei Rentiere ins Wohnzimmer. Sie alle schauen mich aus geweiteten Kulleraugen an und schnauben empört.
„Hast du das gehört, Sam?", fragt Schnurbart-Alfred.
„Sie sagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Pah!" Diese Stimme habe ich bisher noch nicht kennengelernt. Sie gehört einem kleinen Rentier, das eine rote Nase hat. Keine Ahnung, ob das nur ein witziger Zufall ist, aber ich gehe mal ganz stark davon aus, dass es sich um Rudolph handelt.
„Glaubst du überhaupt an Rentiere, Shay?", erkundigt sich Bernd skeptisch bei mir.
„Bestimmt nicht", übernimmt Brokkoli-Cornelius das Antworten.
„Soll ich ihr eine Gehirnwäsche verpassen?" Otto schaut abwartend in die Runde. Zum Glück ist sein Schal immer noch mit dem von Bernd verknotet, denn sonst würde er sich bestimmt mit dem allergrößten Vergnügen auf mich stürzen.
Da ich total überfordert bin, bleiben mir die Worte im Hals stecken.
Zum Glück springt Sam für mich ein. „Nein!", sagt er bestimmt. „Setzt euch alle hin und haltet die Goschen." Oha, so temperamentvoll habe ich ihn bisher noch nicht erlebt.
Die Rentiere gehorchen aufs Wort und quetschen sich gemeinsam auf das Sofa. Cornelius hat das Pech, sich neben Otto setzen zu müssen, und verzieht auch sogleich sein Gesicht zu einer Grimasse. „Igitt!", schnaubt er. „Ist das da Kuss-Sabber auf dem Sofa?"
Ertappt senken Otto und Bernd den Kopf, sodass ihre Geweihe aneinander krachen.
Na toll ... Hoffentlich ist Alfreds Putzfimmel so groß, dass er sich gleich noch um mein Sofa kümmert. Über eine Rentier-Sabber-Reinigung wäre ich ihm auf jeden Fall sehr dankbar.
„Setz dich bitte auch hin, Shay", wendet sich Sam nun an mich. Da auf dem Sofa kein Platz mehr ist, hocke ich mich im Schneidersitz auf den quietschgrünen Teppich, den Granny so sehr geliebt hat.
Sams Blick ist ernst und eindringlich, als er von mir wissen möchte: „Warum denkst du, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt?"
„Weil Oliver mir das gesagt hat!", antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Und im Internet steht das auch." Ich fühle mich wie im Gericht, wo ich mich vor mehreren Richtern und Anwälten verteidigen muss. Und nein, das ist kein schönes Gefühl.
Eins gegen sechs. Dass ich verlieren werde, ist klar, oder?
„Oliver ist ein Idiot", behauptet Sam ruhig, „und das Internet auch."
Ich weiß, dass es riskant ist, doch ich erwidere: „Vielleicht bist du ja auch der Idiot."
Wie zwei Blitze schießen Sams Augenbrauen in die Höhe. Sein Blick verdunkelt sich und er sieht unzufrieden aus. „Alles, was die Menschen nicht erklären können, stempeln sie als Lüge ab", raunt er leise und geheimnisvoll. „Es gibt keine rationale Erklärung für Rentiere, fliegende Schlitten oder mich; Santa. Deshalb ist es für den Großteil einfacher, nicht daran zu glauben."
Sam kommt langsam auf mich zu. Er hockt sich neben mich auf den Teppich und durchlöchert mich mit seinem Blick. „Ich bin mittlerweile seit fünf Jahren im Santa-Business tätig. Es ist meine Aufgabe, in der Weihnachtszeit Wunschzettel einzusammeln und an Heiligabend die Geschenke zu verteilen. Den Rest des Jahres habe ich frei und wohne zusammen mit meinen Jungs am Nordpol in einem schicken Haus. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, Shay."
Tut mir leid, aber das alles klingt total bescheuert. Mein sechsjähriges Ich hätte sich voller Hoffnung an Sams Worten festgekrallt, doch mittlerweile bin ich 24 und glaube nicht mehr an Santa.
„Und bevor du fragst: Ja, es gibt mehrere Weihnachtsmänner und sogar Weihnachtsfrauen", fährt Sam fort, ohne dass ich etwas sagen muss. „Ende November teilen wir unsere Gebiete ein. Jeder hat seine eigenen Rentiere, seinen eigenen Schlitten und seine eigenen Weihnachtselfen, die bei den Vorbereitungen helfen."
Ich habe das Gefühl, dass mir schwindelig wird.
Das alles ist bloß ein abgefahrener Scherz. Oder?
Vielleicht ist Sam keine Halluzination, immerhin konnte Mrs. Miller ihn auch sehen, aber die Rentiere sind bestimmt nicht echt. Vielleicht irgendwelche modernen Roboter. Oder Projektionen. Oder ... Ach keine Ahnung!
Ich bin verwirrt und das nervt mich.
Am liebsten würde ich diese ganzen merkwürdigen Vorkommnisse auf den Glühwein von gestern Abend schieben, aber mittlerweile müsste ich wieder nüchtern sein. Es sei denn, jemand hat mir Drogen ins Getränk gemischt. Das würde so einiges erklären. Zumindest die sprechenden Rentiere.
„Hör zu, Shaileen." Sam nimmt vorsichtig meine Hände in seine. Seine Haut ist angenehm, weich und warm. Irgendwie hat es sogar etwas Beruhigendes und Vertrautes an sich, ihn zu berühren. Jap, eindeutig Drogen. „Du kannst an mich glauben oder nicht, aber Fakt ist, dass wir mindestens die nächsten vier Tage unter einem Dach wohnen werden. Also sollten wir versuchen, miteinander auszukommen, oder?"
Ich kann nicht verhindern, dass mir ein amüsiertes Glucksen entflieht.
Schön, dass Sam einfach davon ausgeht, dass er und seine Rentiere bei mir wohnen dürfen. Sehe ich aus wie eine Hotelinhaberin, oder was?
Sam scheint zu bemerken, dass etwas nicht stimmt, denn er runzelt verunsichert die Stirn. Panik umhüllt seine dunklen Iriden, als er nachhakt: „Wir dürfen doch bei dir bleiben, nicht wahr?"
Seine Angst scheint ansteckend zu sein, denn plötzlich werden auch die Rentiere unruhig.
„Otto und ich haben uns schon so gut an dein Sofa gewöhnt", murmelt Bernd mit weinerlicher Stimme. Dass sein Blick dabei auf den Kuss-Sabber-Fleck fällt, entgeht mir natürlich nicht.
„Und ich habe dein ganzes Haus geputzt!", steigt Alfred in die Überzeugungs-Rede mit ein. Seine schwarzen Augen funkeln, als er hinzufügt: „Ich würde auch freiwillig noch dein Klo saubermachen. Die Bremsspuren sind ja mindestens schon drei Wochen alt."
Gott, warum müssen diese Rentiere so verdammt direkt sein?
„Deine Küche gefällt mir auch total gut", schmunzelt Cornelius, „obwohl du keinen Brokkoli hast. Aber das können wir ja noch ändern."
Tatsächlich bringt mich sein Argument zum Lachen.
Ist es eventuell möglich, dass ich diese fünf Fellnasen schon jetzt in mein Herz geschlossen habe? Ich denke schon.
„Hm", grübele ich. Ich lege gespielt nachdenklich meinen Zeigefinger an die Schläfe und tippe mir dagegen. „Kann jemand von euch eine Waschmaschine bedienen?", erkundige ich mich neugierig. „Und kochen?"
Alle Blicke richten sich auf Alfred. Okay, er ist also ein waschechtes Hausmann-Rentier.
„Alfreds Lasagne ist Weltklasse!", bestätigt Cornelius meine Gedanken. „Und von seinem Vanillepudding kann man einfach nicht genug bekommen."
Das klingt schon mal vielversprechend.
„Und was ist mit der Wäsche?"
„Äh, na ja", stammelt Alfred verlegen. „Eventuell habe ich einmal Sams Unterhosen geschrumpft, aber ansonsten hatte ich nie Probleme mit Waschmaschinen."
Na gut, dieses Risiko nehme ich in Kauf.
Gibt es sonst noch irgendeinen Vorteil, den ich für mich und meine Faulheit herausschlagen könnte?
Nach ein paar Sekunden Bedenkzeit hake ich nach: „Hat zufällig jemand von euch Erfahrungen im Massieren?"
Die Rentiere schauen sich verdutzt an. Kurz herrscht verlegenes Schweigen, bis Rudolph mit angeschlagener Stimme sagt: „Also Bernd und Otto können gut massieren. Aber nur ein gewisses Körperteil beim jeweils anderen."
Während die Rentiere lachen, habe ich mit meinem Kopfkino zu kämpfen. Es war schon seltsam genug, zu sehen, wie sich zwei Rentiere küssen. Wie sie sich gegenseitig befriedigen, möchte ich mir echt nicht vorstellen müssen.
„Genug Scherz und Schabernack!", schaltet sich Sam wieder ein. Ein helles Leuchten lässt seine Teddyaugen erstrahlen und seine Mundwinkel formen sich zu einem Lächeln. „Das Massieren würde ich gerne übernehmen."
„Echt?", hake ich überrascht nach.
Sam nickt. „Wenn du uns bei dir wohnen lässt, wirst du hier das Paradies auf Erden haben, Shay. Versprochen!"
Ich tue so, als müsste ich noch überlegen, dabei weiß ich schon ganz genau, dass ich diese merkwürdige Bande nicht mehr gehen lassen werde. Egal ob Halluzination oder nicht: Ich mag die Rentiere. Und Sam auch.
„Also gut", erlöse ich alle von ihrem Leid, woraufhin die Rentiere jubeln, „aber ich erwarte in einer halben Stunde den ersten Vanillepudding."
Meine Augen landen auf Alfred. Es sieht witzig aus, wie er mit seinem Huf salutiert und beinahe vom Sofa plumpst.
„Alles, was du willst, liebste Shay."
Perfekt. Mit sechs Männern, die mir jeden Wunsch von den Lippen ablesen, wird es sich bestimmt gut leben lassen. Jetzt muss nur noch der Vanillepudding schmecken.
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