5/2 Mein bester Feind (Lennarts Fluch)
Sonnenlicht drang durch das riesige Fenster, unter dem sich Zeitschriften auf Lennarts unordentlichem, beinahe verwüstetem, Schreibtisch stapelten. Comics vermischten sich dort mit langweiligen Wirtschaftsmagazinen. Der Playboy und die billigeren Tittenheftchen lagen ganz unten, damit seine Mutter sie nicht sehen konnte. Nicht, dass sie oft sein Zimmer betreten hätte, aber er wollte auf Nummer sicher gehen.
Die Strahlen des Morgens streckten ihre Fühler weiter in das Zimmer hinein, bis sie auf das Bett trafen, in dem Lennart sich blinzelnd aufsetzte und sich verschlafen die Augen rieb. Orientierungslos blickte sich der Sechzehnjährige um. Es war immer wieder irritierend nach der ganzen Zeit im Internat, plötzlich zuhause aufzuwachen. Es war der Samstagmorgen. Der erste Tag der Sommerferien.
Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sechs Wochen keine anstrengenden Lehrer. Sechs Wochen keine verdammte Schuluniform. Sechs Wochen, in denen er tun und lassen konnte, was er wollte.
Und er musste nicht mal auf seine engsten Freunde verzichten, denn die wohnten, wie er im Ort und sie konnten sich treffen, wann immer sie wollten.
Seiner nervigen, kleinen Schwester würde er somit oft genug aus dem Weg gehen können. Mit etwas Glück würde er auch seine Eltern nicht allzu oft zu Gesicht bekommen.
Lennart schwang die Beine aus dem Bett und tapste in sein privates Badezimmer.
Nach einer ausgiebigen Dusche, fühlte er sich bereit für den Tag. Eilig schlüpfte er in ein kurzärmliges Puma-Shirt und eine dazu passende Shorts, dann stieg er die geschwungene Marmortreppe ins Erdgeschoss hinab.
Als er die Küche betrat, schlug ihm sofort eine gereizte und unangenehme Atmosphäre entgegen.
Seine Schwester saß am Tisch und löffelte mit missmutiger Miene ihre Cornflakes aus einer teuren Porzellanschüssel. Ihre blonden Haare hatte die Zwölfjährige zu zwei Zöpfen geflochten. Eine höchst alberne Frisur, wie Lennart fand. Bei Grundschülern mochte das niedlich aussehen. Bei ihr wirkte es, als versuche sie zwanghaft auf Gut-Kind zu machen.
Der kunstvoll ineinander verflochtene Haarknoten seiner Mutter wirkte nicht minder deplatziert, sah aber wenigstens gut aus. Dorothea Mühlenkamp nippte mit sauertöpfischer Miene an ihrem Kaffee, der bestimmt wieder viel zu süß war und fixierte dabei ihren Mann, der ihr gegenüber saß, einen aufgeschlagenen Ringordner neben seinem Teller, auf dem ein angebissenes Marmeladenbrot lag. Sein Terminkalender lag wiederum auf den Seiten, die im Ordner abgeheftet waren. Außerdem hielt er sein Handy an sein Ohr gepresst.
„Mmh – mh", brummte Guido Mühlenkamp gerade, als Lennart sich seiner Schwester gegenüber setzte. „Ja, verstehe. Nein, dann geht das natürlich nicht. Dann muss ich das verschieben."
Die letzten Worte ließen Tabea und Dorothea gleichermaßen ungläubig die Augen aufreißen, woraufhin sein Vater halb genervt, halb entschuldigend die Augen verdrehte.
Lennart warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. „Dein Vater hat gerade beschlossen, dass unser Urlaub ausfällt!", zischte sie angefressen.
„Was soll ich denn tun?" Offenbar hatte Guido das Telefonat beendet.
„Keine Ahnung! Die Firma mal Firma sein lassen?", giftete seine Frau, hob aber sogleich entschuldigend die Hände. Dann atmete sie tief durch. „Tut mir leid. Ich weiß ja, dass du einfach eine Menge Arbeit hast und dass sich das Unternehmen nicht von allein führt. Ich hatte mich nur auf den gemeinsamen Urlaub gefreut."
„Ich weiß. Mir tut das ja auch leid, Liebes. Aber was nicht geht, geht nicht."
Lennart nahm sich ein Brötchen aus dem Korb, schnitt es auf und legte eine Scheibe Wurst darauf. Er war nicht überrascht. Der letzte Familienurlaub lag in etwa vier Jahre zurück. In letzter Zeit kam immer irgendetwas dazwischen. Wenn er ehrlich war, störte ihn das nicht sonderlich.
Tabea schien das anders zu sehen. Sie hob den Kopf, knallte ihren Löffel auf die teure Tischplatte und funkelte ihren Vater aufgebracht an. „Ich will aber nach Thailand! Du hast versprochen, dass wir nach Thailand fliegen!"
Lennart war beeindruckt und abgestoßen zugleich, als er sah, wie sich die Augen seiner Schwester mit Tränen füllten. Sie konnte das tatsächlich auf Knopfdruck.
„Ach, Schatz, nicht weinen. Weißt du was, ihr drei fliegt einfach ohne mich." Er schenkte seiner Tochter ein aufmunterndes Lächeln, ehe er seiner Frau zuzwinkerte. „Und wir zwei gönnen uns nach den Sommerferien eine gemeinsame Auszeit nur zu zweit, ja?"
Mit dieser Lösung waren scheinbar alle zufrieden, auch, wenn Dorothea ihr Bedauern darüber ausdrückte, dass er nicht mitfliegen würde.
Lennart räusperte sich. „Ich würde auch gern hier bleiben." Nichts war bedrohlicher für ihn, als zwei Wochen in einem fremden Land, mit seiner Mutter und seiner Schwester!
„Ja, bitte!"
„Tabea!", mahnte sein Vater, während seine Mutter beinahe erleichtert sagte: „Von mir aus."
Damit war die Sache besiegelt und die Familie widmete sich wieder wichtigeren Themen. Im Falle der weiblichen Anwesenden bedeutete das Mode, Schmuck, Klatsch und Tratsch der Oberschicht.
In Lennarts Fall war das sein Frühstück und für seinen Vater das Handy, das in diesem Moment erneut klingelte.
„Ah, Magnus, mein Freund. Wie geht es dir?"
Lennart überlegte, ob das ein guter Moment wäre, um aufzustehen und zu gehen. Er hasste das alljährliche Sommerferiengespräch zwischen seinem Vater und von Burghofen. Söhnevergleich. Wer hat den besseren? Es war zum Kotzen. Insbesondere, weil er selbst keinerlei Chancen hatte dabei zu bestehen. Gegen Nicholas war er einfach ... zweitrangig. Immer.
„Ja, ja. Ein hervorragendes Zeugnis. Nie schlechter als elf Punkte. Ich bin hochzu ... Ach, ja?" Der Blick, den sein Vater ihm zuwarf, machte deutlich, dass er bis vor drei Sekunden noch hochzufrieden gewesen war, sich nun aber ärgerte, dass Lennarts Zeugnis nicht besser ausgefallen war. „Nicht schlechter als dreizehn Punkte? Oh. Verstehe. Herzlichen Glückwunsch."
Lennart kaute auf seinem Brötchen herum. Dabei hatte er das Gefühl, das die Menge in seinem Mund immer größer, klebriger und trockener wurde.
„Ja, die Basketballsaison war toll. Ich konnte einige Spiele nicht sehen, aber Len hat immer ... Was für eine Auszeichnung?"
Konnte Magnus von Burghofen eigentlich nie seine Fresse halten? Es hatte einen gottverdammten Grund, weshalb er seinem Vater nichts davon erzählt hatte, dass Nicholas zum besten Spieler gewählt worden war.
Mühsam würgte er das Essen hinunter und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter. Die andere Hälfte des Brötchens ließ er liegen. Ihm war der Appetit vergangen. Wortlos stand er auf und verließ die Küche. Er hatte keine Lust mehr, dabei zuzuhören, wie seiner und der Vater seines besten Freundes „Mein Sohn ist besser als deiner" spielten.
Als er sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte, überlegte er kurz, ob er sich eines der Heftchen krallen und sich einen runter holen sollte. Das entspannte ihn und brachte ihn auf andere Gedanken.
Das leise „Ping" mit dem sein Handy einen Nachrichteneingang ankündigte, ließ ihn inne halten. Wichsen konnte er später auch noch.
Die Message war von Nicholas.
Hey, Len. Ich hol dich in einer Viertelstunde ab. Treffen mit den Mädels in der Eisdiele.
Grinsend tippte er eine Antwort: Geht klar.
Dann konnte er Katharina sehen. Er wusste, dass sie ihn gern hatte. Auch wenn ihr Vater es lieber sah, wenn sie mit Nicholas verkehrte. Nicks Eltern hatten einfach die dickere Kohle und den größeren Einfluss.
Eine Viertelstunde. Das reichte, um sich vorzustellen, wie er Katharinas Brüste massierte, wie er sich über sie schob und in sie eindrang, während sich ihr Gesicht vor Lust verzerrte. Wie sie vor Gier und Schmerz wimmerte, wenn er heftiger in sie stieß.
Der Gedanke machte ihn so scharf, dass er sich sofort eine Hand in die Hose schob, um seinen erigierten Penis zu umfassen.
Er zuckte heftig zusammen, als plötzlich die Tür zu seinem Zimmer aufgerissen wurde. Hitze schoss in seine Wangen, als der Blick seines Vaters missbilligend auf seinen Schritt fiel. Hastig zog er die Hand aus der Hose, brachte es nicht fertig Guido ins Gesicht zu sehen.
„Mein Gott!", brachte sein Vater angewidert hervor. „Such dir eine Freundin, verdammt nochmal."
Lennart wollte sterben vor Scham. Am liebsten wäre er geschrumpft und in irgendeiner Ritze im Boden verschwunden. Ihm war ganz schlecht und seine Haut brannte unangenehm.
Er war froh, als sein Vater das Thema wechselte.
„Ich habe gerade mit Nicks Vater gesprochen."
Ja, das war ihm nicht entgangen.
„Besseres Zeugnis. Bessere Leistung im Team. Sogar eine Auszeichnung. Außerdem hat er mir erzählt, dass Katharinas Vater ihm mehr oder minder mitgeteilt hat, er könne sich eine Verbindung ihrer beider Familien gut vorstellen. Ich dachte du bist interessiert an dem Mädchen."
Lennart zuckte mit den Schultern. „Ist doch egal. Wir sind Freunde."
Guido Mühlenkampf winkte ab. „Ja, ja! Freundschaft ist auch was ganz tollen, Lennart. Aber willst du der ewig Zweite bleiben? So ein bisschen Konkurrenzdenken, auch unter Freunden, schadet nicht, Junge! Sieh' dir doch Nicholas mal an! Den kümmert es auch nicht, wen er auf seinem Weg zum Erfolg auf der Stecke lässt!"
Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er widersprechen sollte. Immerhin hatte Nicholas sich stark dafür gemacht, dass Lennart vor zwei Jahren in den Kader des Teams kam, obwohl er das Auswahltraining verkackt hatte. Außerdem half Nick ihm auch bei den Hausarbeiten für die Schule und ließ ihn, wenn möglich, auch bei den Klausuren abschreiben.
Wenn er das aber seinem Vater sagte, würde dieser nur noch enttäuschter von ihm sein. Also schwieg er.
„Fahr doch mal die Ellbogen aus. Du bist doch keine verweichlichte Schwuchtel, meine Güte. So ein weichgespülter Lauwarmer bringt es zu nichts. Schau dir nur meinen ehemaligen besten Freund an. Herbert war auch immer der ewig Zweite. Und jetzt? Jetzt lebe ich in einer Villa, führe meine eigene Firma, habe eine Frau und zwei Kinder. Und er? Streetworker. Einzimmerwohnung. Liderlicher Lebensstil. Willst du das?"
Den Blick auf das Parkett gerichtet, schüttelte Lennart den Kopf.
„Gut. Dann hör' auf dir selbst die Eier zu kraulen und mach mal was!"
Stumm nickte Lennart, auch wenn er keinerlei Ahnung hatte, was er tun sollte.
Nicholas war ... Ihm flog einfach alles zu.
Sein Vater verließ verärgert murrend das Zimmer und ließ seinen Versagersohn mit Bauchschmerzen und einem scharfen Ziehen in der Herzgegend zurück. Schmerz. Er war es gewohnt, trotzdem tat es weh.
Von draußen drang ein lautes Hupen durch das geöffnete Fenster.
Lennart erwachte aus seiner Starre, in der er wie ein geprügelter Hund verharrt hatte, schüttelte sich und straffte die Schultern.
Wenn er mit Nicholas unterwegs war, konnte er den Scheiß hier für ein paar Minuten vergessen. Mit ihm wirkte alles so ultraleicht. Er hatte diese Art, diese Ausstrahlung, die einem vorgaukelte, das Leben sei total easy.
Eilig schnappte er sich sein Portemonnaie und stürmte aus dem Raum. Als er am Zimmer seiner Schwester vorbeikam, blieb er stehen. Von Tabea war keine Spur zu sehen, aber seine Mutter packte gerade ein paar Sachen in einen Koffer. Dabei summte sie vor sich hin.
„Mama, ich gehe mit Nicholas Eisessen."
„Ja."
„Ich weiß noch nicht wann ich wiederkomme."
„Ja." Sie klang abwesend. Überlegend spähte sie in den Kleiderschrank. „Das muss sie unbedingt mitnehmen." Beherzt griff sie hinein und holte ein weißes Kleid mit pinkem Blumenmuster hervor.
„Du bist froh, dass ich nicht mitfliege, oder?"
„Ja-ha. Bis später, Len."
Alles klar, Mama. Sorry, dass ich kein Mädchen bin.
Seine Laune sank einen weiteren Level. Dennoch bemühte er sich um ein fröhliches Lächeln, als er die Eingangshalle durchquerte und nach draußen trat.
Dieses erstarb allerding, als er sah, dass Tabea bei Nicholas stand.
Sein bester Freund lehnte an seinem nachtblauen Roller, den schwarzen Helm lässig unter den Arm geklemmt, die Haare modisch verstrubbelt.
„Lennart ist durch die Führerscheinprüfung gefallen", posaunte Tabea gerade heraus.
Lennart spürte, wie sich ein Druck in seinem Brustkorb aufbaute, der ihm für ein paar Sekunden das Atmen erschwerte. Am liebsten hätte er vor Frust laut aufgebrüllt.
„Echt?" Nicholas runzelte die Stirn. „Hat er mir gar nicht erzählt."
„Weil er ein Feigling ist!"
„Hey, du sollst doch nicht so über ihn sprechen, Prinzessin!" Neckisch zog sein bester Freund an den Zöpfen seiner Schwester, was diese zum Kichern brachte.
„Ist doch aber so. Du bist viel cooler." Tabea trat einen Schritt näher an Nicholas heran, beinahe sah es so aus, als wolle sie sich an ihn schmiegen.
Doch in diesem Moment entdeckte Nick ihn und schob Tabea auf Armeslänge von sich. „Na los, zieh' Leine, Kleine. Da kommt Len."
Murrend kam seine kleine Schwester der Aufforderung nach, nicht, ohne ihm im Vorbeigehen den Mittelfinger zu zeigen. Kleine Bitch.
Nick begrüßte ihn mit Handschlag und reichte ihm dann einen zweiten Helm. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du durch die Prüfung gefallen bist?"
Lennart zuckte mit den Schultern. „War mir peinlich?"
„Ach, was! Passiert. Ich helf dir beim lernen, wenn du willst."
Als Lennart nur schwieg, ließ Nicholas es gut sein. Er wusste meistens, wenn Len nicht über eine Sache reden wollte.
Nicholas ließ ihn hinter sich aufsitzen und kurz darauf brausten sie auf dem Roller durch die Ortschaft Richtung Eisdiele.
Sarah und Katharina waren bereits da und winkten ihnen von einem Tisch aus zu, der draußen in einer schattigen Ecke stand. Kai verspätete sich offenbar. Oder war nicht eingeladen worden.
„Und? Hältst du dich heute bei Katta mal ran?", wollte Lennart wissen.
Nick wusste, was von ihm erwartet wurde, aber aus irgendeinem Grund, kam er nicht aus den Puschen. Überhaupt verhielt er sich in den letzten Wochen total komisch.
„Nö. Aber du kannst ja mal rangehen." Sein bester Freund grinste und wackelte mit den Augenbrauen. „Da lass' ich dir ausnahmsweise mal den Vortritt. Dann musst du nicht länger auf Papier wichsen."
„Ach, fick dich!"
Nicholas kicherte, zwang sich aber wieder zur Ernsthaftigkeit, als sie den Tisch erreichten.
„Hey!", grüßte Katharina und fiel dann direkt mit der Tür ins Haus, ohne Len eines Blickes zu würdigen. „Nick, mein Vater hat dich für heute zum Essen eingeladen."
Lennart wollte kotzen. Nick hier, Nick da. Außerdem war er mit ihm verabredet.
„Geht nicht", platzte er gönnerhaft hervor. „Wir gehen ins Kino."
Nicholas winkte lässig ab. „Oh, sorry. Ich muss euch beiden eine Absage erteilen. Ich hab schon was vor."
Len schaute ihn fragend an, aber Nicholas ließ sich zu keiner Erklärung herab.
Stattdessen grinste er unschuldig. „Du kannst ja mit zum Essen gehen."
„Als zweite Wahl, oder was?", stichelte Sarah.
„Ey, hinter mir Zweiter zu sein, ist keine Schande, ja?"
Fick dich, Nicholas!
Irgendwann würde es eine Schwäche geben, die Nick zum Zweiten hinter Lennart machte. Er musste sie nur finden. Und dann würde er seinen Triumpf auskosten.
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