2/2 Tosende Leere
Nele stand im Badezimmer. Sie hatte der großen Wanne, in der sie oft ein paar entspannende Minuten verbrachte, den Rücken gekehrt. Den linken Arm stützte sie auf den Rand des Waschbeckens. Der Ärmel des grauen Pullovers war hochgekrempelt.
In der rechten Hand hielt sie das Küchenmesser, das sie sich in ihrer Wut geschnappt hatte, ehe sie sich hier eingeschlossen hatte. Das scharfe aus Keramik, das sie sonst benutzte, um Fleisch zu schneiden. Ihre Finger umklammerten den Griff. Schwer atmend, starrte sie auf die Oberfläche des Hängeschranks vor ihr. Dunkle, weit aufgerissene Augen gafften zurück, doch sie registrierte ihr Spiegelbild kaum. Ihr Blick war nach innen gerichtet.
Dort wütete das Chaos.
Und das nur, wegen eines banalen Streits mit Sinah. Nele wusste nicht einmal mehr, wie es zu der Auseinandersetzung mit ihrer Frau gekommen war. Sie stritten selten – aber wenn, dann führte meist ein Wort zum anderen und schließlich stritten sie über Dinge, die schon Monate oder Jahre zurücklagen. Oder über Dinge, die andauernd leise und kaum beachtet zwischen ihnen schwelten. So war es auch dieses Mal gewesen. Heute war ihre Auseinandersetzung aus dem Ruder gelaufen. Nele war laut geworden, hatte Türen zu geknallt und hatte Worte gesagt, die sie überhaupt nicht sagen wollte. Worte, von denen sie nur zu gut wusste, wie sehr sie Sinah verletzten. Und noch während sie ihren Mund verließen, hatte Nele sich innerlich angebrüllt, verflucht noch mal endlich ihre Klappe zu halten – doch sie hatte unaufhaltsam weitergemacht, bis schließlich auch Sinah der Kragen geplatzt war.
Mit Tränen in den Augen, hatte ihre Frau zurückgebrüllt. Hatte verbal ebenso zielsichere Treffer gelandet, wie Nele zuvor und plötzlich war da jenes Beben in ihr gewesen, das sie schon länger nicht mehr empfunden hatte. Der Jähzorn und der Hass auf sich selbst, die ihr Blut zum Kochen brachten und es heiß durch ihre Adern peitschten. Sie war wie ein Vulkan gewesen. Der Drang all diesen Hass, die Wut, die Hilflosigkeit hinauszulassen, war körperlich geworden. Es hatte geschmerzt, nichts davon herauslassen zu können. Schreien hatte nicht geholfen. Sinah verletzende Worte an den Kopf zu werfen, erst recht nicht – das hatte die Sache nur schlimmer gemacht. Nele hatte gewusst, dass es auch nichts nutzen würde, dem Brennen in sich nachzugeben und Sinah eine Ohrfeige zu verpassen oder stattdessen irgendein Möbelstück zu zertrümmern.
Das war nicht immer so gewesen. Gerade in ihrer Jugend, als Nele mit so vielen Dämonen zu kämpfen gehabt hatte, war sie selbst ihr schlimmster Feind gewesen. Zu oft hatte sie ihrem Jähzorn freien Lauf gelassen, hatte die Hand gegen Sinah erhoben. Sie hatte sich selbst dafür verachtet. Tat es immer noch. Und das war auch der Grund gewesen, weshalb sie sich vor wenigen Minuten bebend von ihrer Frau abgewandt, sich das Messer geschnappt und sich im Badezimmer eingesperrt hatte. Sie wollte Sinah nie mehr wehtun!
Aber Nele kam mit sich selbst und mit ihren Gefühlen nicht klar. Es war zu viel. Die Wut, vor allem auf sich selbst, die Hilflosigkeit wegen der Unfähigkeit auszudrücken, wie es ihr wirklich ging und die Verzweiflung darüber, dass sie Sinah schon längst wehgetan hatte, auch wenn es nur Worte gewesen waren, waren die vorherrschenden Gefühle. Darunter mischten sich Angst, Selbsthass und Zweifel. Es war ein dunkler Strudel, der sie nach unten zog. Es war ein schwer zu erklärendes Paradoxon, dass sie sich gleichzeitig völlig leer, bleiern und leblos fühlte. Wie jemand, der unter der ganzen Last der Gefühle, zu verblassen droht; der irgendwann selbst nicht mehr lebt, sondern langsam in diesem Strudel ertrinkt.
Nele war ein Pulverfass, aber sie konnte nicht explodieren. Stattdessen drohte sie zu implodieren.
Weinen hätte vielleicht geholfen – aber sie konnte nicht. Ihre weitaufgerissenen Augen brannten zwar, doch da waren keine Tränen, die den Schmerz nach außen bringen konnten.
Nele setzte das Messer auf die Haut.
»Macht es das besser?« Es konnte kein Zufall sein, dass diese innere Stimme ausgerechnet wie ihre Therapeutin klang. Nele biss die Zähne zusammen. Ja, es würde besser werden. Das wusste sie von damals. Als sie achtzehn gewesen war, hatte sie eine Phase gehabt, in der sie sich beinahe regelmäßig verletzt hatte. Damals war sie dazu übergegangen, um nicht mehr anderen wehzutun, wenn sie von Zorn und Verzweiflung geschüttelt wurde; wenn sie in die Leere zu stürzten drohte.
Sie wusste noch allzu gut, wie es war: Der Schmerz, der dabei entstand, war irgendwie realer und greifbarer, als ihre inneren Qualen. Er lenkte von dem Chaos ab, das in ihr wütete. Und wenn sie dabei zusah, wie das rote Blut aus der Wunde sickerte, dann konnte sie beinahe spüren, wie auch die Wut und die Verzweiflung wichen.
»Aber der Trost ist nicht von langer Dauer, oder?« Schon wieder die Therapeutin.
Leider hatte sie recht. Der Trost war nie beständig. Ihm folgte stets das schlechte Gewissen und die Selbstverachtung. Denn eigentlich war Nele klar, dass sich selbst zu verletzen genauso schlimm war, wie anderen wehzutun.
»Warum hast du die Therapie begonnen? Was tust du hier?« Dass Nele in diesem Moment über diese Fragen nachdachte, war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass sie noch nicht gänzlich die Kontrolle über ihr Handeln verloren hatte. Das rationale Denken funktionierte zwar meistens noch einigermaßen, aber selten auf diese Weise. Meistens mahnte sie sich nur, nicht zu tief zu schneiden. Dass sie sich Frau Salomes Fragen ins Gedächtnis rief, gab ihr ein wenig Sicherheit - und sie begann, über diese Fragen nachzudenken.
Nele hatte die Therapie vor vier Jahren begonnen, weil es ihr damals sehr schlecht gegangen war. Das Leben hinterließ auf jeder Seele Spuren und Narben. Bei manchen mehr, bei anderen weniger. Bei einigen wollten die Wunden jedoch nicht heilen und so rissen sie ab und an wieder auf; quälten die Seele mit Schmerzen, die nicht abebben wollten. Nele besaß einige solcher Wunden. Dass sie die Dinge, die für diese klaffenden Löcher in Seele und Herz verantwortlich waren, nie wirklich verarbeitet hatte, hatte dazu geführt, dass Nele auf einen Abgrund zu gelaufen war. Nur allzu oft, waren ihre Gedanken darum gekreist, sich in die Dunkelheit zu stürzen.
Natürlich war ihr bewusst gewesen, dass es auch wundervolle Dinge in ihrem Leben gab, die ihr Kraft geben sollten: Sinah, die Liebe ihres Lebens; eine tolle Mama; eine Schwester, die sie sehr liebte und deren Töchter; ihr Hund – Lichtblicke am dunklen Horizont. So hätte es sein müssen. Aber in ihrem Gemütszustand waren die positiven Aspekte nur weitere Angriffsflächen für ihre Krankheit. Denn Nele hatte entsetzliche Angst, das was sie liebte zu verlieren. Zu Depressionen und Schlafstörungen hatten sich Angstzustände gemischt und schon bald hatte Nele Furcht vor dem Leben; Furcht vor dem Tod; Furcht vor allem gehabt. Morgens aufzustehen und das Haus zu verlassen, war eine nicht zu bewältigende Aufgabe geworden. Die Gedanken, in denen Nele darüber nachsann, wie leicht es sein würde, aus der Praxis, in der sie arbeitete, genug Betäubungsmittel mitgehenzulassen, um sich selbst, Sinah und ihrem Hund ein gemeinsames, friedliches Ende zu bereiten, wollten nicht mehr aus ihrem Kopf verschwinden. Nele war dabei gewesen zu verblassen.
Deshalb hatte sie die Therapie begonnen. So konnte es nicht weitergehen. Sinah zuliebe, musste sie wieder lieben können. Und vor allem sich selbst zuliebe, hatte sie etwas unternehmen müssen. Es war nicht einfach gewesen, diesen Schritt zu gehen. Denn auch davor hatte Nele Angst gehabt. Davor, nicht verstanden zu werden. Davor, stigmatisiert zu werden. Davor, zu versagen. Sie war im Zweifel gewesen, ob sie überhaupt das Recht hatte, sich schlecht zu fühlen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch das war paradox gewesen, denn man fühlte sich nun mal, wie man sich eben fühlte. Aber Nele hatte erst im Laufe der Therapie begriffen, dass man nicht vergewaltigt oder zusammengeschlagen werden musste, um Gewalt zu erleben. Gewalt hatte viele Gesichter und die meisten davon nahm man selbst nicht einmal als solche wahr. Oder schwächte sie ab. Oder ließ zu, dass andere sie abschwächten.
Nele umklammerte das Messer in ihrer Hand noch stärker und zwang sich dazu, endlich in ihre eigenen, leeren Augen zu blicken. Es war nur ein Streit mit Sinah gewesen. Wieviel hatte sie schon ertragen, ohne sich die Haut aufzuschneiden?
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