11/2 Wie gewonnen, so zerronnen
Die Septembersonne sandte ihre warmen Strahlen durch das Fenster ihres gemeinsamen Schlafzimmers. Sie tauchte das Doppelbett mit dem orangefarbenen Bezug in goldenes Licht.
Timothy stand vor dem Kleiderschrank und betrachtete sich in dem mit Holz gerahmten Ganzkörperspiegel. Schick sah er in dem schwarzen Anzug aus. Fast wie am Tag seiner Hochzeit.
Bedächtig band er den Knoten seiner Krawatte und fixierte dabei die unberührten Decken des Bettes in seinem Rücken. Tief atmete er ein, meinte schwach Michelles Geruch wahrzunehmen - eine Mischung aus Rosenblättern und Citrusfrüchten.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er an sie dachte. Daran, wie es war, die zarte, weiche Stelle hinter ihren Ohren zu küssen und wie erregend er es fand, wenn sie zwischen leisem Kichern und hingebungsvollem Genuss schwankte.
„Daddy?" Miriams Stimme riss ihn aus seiner liebevollen Erinnerung.
Die Sechsjährige stand in der Tür und spähte vorsichtig zu ihm hinein. Ihre dunklen Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern fielen. Sie trug ein nachtblaues Kleid, dazu eine weiße Strumpfhose und schwarze Lackschuhe. Es war nicht das, was sie eigentlich hätte tragen sollen; nicht das Outfit, das Michelle für diesen Tag ausgesucht hätte. Wenn seine Frau mit ihrer Tochter einkaufen gewesen wäre, trüge sie heute vermutlich etwas in Orangetönen, die an Sommer und Sonne erinnerten.
Der Gedanke schwebte an ihm vorbei wie eine Seifenblase - viel zu träge und langsam, um ihn nicht wahrzunehmen, aber zu schwerelos und unbeständig, um ihn festzuhalten.
„Ja, Liebes?"
Miriam kam ins Schlafzimmer und ließ sich auf dem weichen Bett nieder. Sie blickte ihn ernst an, ehe sie das Foto nahm, das auf dem Nachttisch stand und es lange betrachtete. Das Bild zeigte Michelle und ihn, wie sie gemütlich vor einem Feuer am Kamin saßen, beide eine Tasse mit heißer Schokolade in den Händen. Es war während eines gemeinsamen Urlaubs in den Bergen mit Patty und Jason, ihren besten Freunden, aufgenommen worden. Miri war damals gerade mal ein Jahr alt gewesen.
„Erzählst du mir noch einmal wie du Mummy kennengelernt hast?"
Timothys Herz zog sich bei der Erinnerung zusammen. Die Vergangenheit überflutete ihn, spülte jeden klaren Gedanken davon und ließ nur noch Raum für das, was damals gewesen war. Der Schmerz war so süß, so warm und lieblich, dass er sich ihm beinahe gern hingab. Oh, er wusste noch genau wie es gewesen war, als er Michelle kennengelernt hatte ...
... Timothy kam zwei Stunden später als geplant aus der Kanzlei. Wieder mal. In seiner schwarzen Aktentasche befanden sich weitere Unterlagen, die ihm sein Chef kurz vor Feierabend noch auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Also würde Tim auch an diesem Abend eine Tiefkühlpizza in den Ofen schieben und anschließend im Schein seiner einsamen Bürolampe bei einem Glas Rotwein Schriftsätze durcharbeiten, bis ihm die Augen zufielen.
Sein Leben war eintönig geworden.
Müde und kraftlos drückte Timothy auf den Knopf neben den Chromtüren des Aufzugs. Kurz darauf öffneten sich diese mit einem leisen „Bing". Selbst dieses Geräusch war für seinen schmerzenden Schädel zu laut. Er rieb sich die Schläfen und dachte über den Fall Jeffreys gegen Jeffreys nach. Ein gutgestellter und angesehener Geschäftsmann in Atlanta, der sich von seiner untreuen Gattin scheiden lassen wollte. Natürlich ohne ihr viel von seinem teuer verdienten Vermögen abtreten zu müssen, was sich als schwierig erweisen würde, weil der Gute es versäumt hatte, einen Ehevertrag abzuschließen.
Tims Problem daran war, dass Edward Jeffreys sein eigenes Verschulden daran nicht wahrhaben wollte und nun ihn dafür verantwortlich machte, sein Geld vor seiner gierigen Noch-Frau zu schützen.
Warum, um alles in der Welt, hatte er sich nur auf Scheidungsrecht spezialisiert?
Als der Lift ihn im Erdgeschoss wieder ausspuckte, schlurfte Timothy motivationslos durch das feine Ambiente des Foyers, das regelmäßig die reiche Klientel anzog. Der rotgeäderte Marmorboden und die dazu passenden, glatten Fliesen der Wände spiegelten das grelle Licht der Deckenbeleuchtung. Einzig und allein die Palmen- und Bambusgewächse, die in ihren anthrazitfarbenen Gefäßen wuchsen, schufen eine freundliche Atmosphäre. Doch an diesem Tag bereiteten Tim selbst die Pflanzen keine Freude.
Ausdruckslos starrte er an ihnen vorbei durch das Glas der riesigen Fensterfront.
Der Himmel war von schweren, dunkelgrauen Wolken verhangen und der Regen ergoss sich in unermüdlicher Ausdauer auf den bereits nassen Asphalt.
Auf den Bürgersteigen liefen die Passanten unter dem Schutz von Regenschirmen in überwiegend blauen, grauen oder schwarzen Farben. Einige, die wie Tim keinen Schirm dabei hatten, rannten zwischen den Menschen entlang, schufen sich mit Ellbogen und Händen Platz, um schneller voranzukommen.
Timothy trat durch die Drehtür nach draußen und hieß die kühlen Tropfen, die sofort auf ihn niederprasselten, willkommen. Sollten sie den Stress und den Druck wegspülen. Die Einsamkeit und die Angst davor, zu versagen - alles sollte von ihm abgewaschen werden.
Er blieb nicht lange im Regenguss stehen und benötigte nur fünf Minuten, bis er den Parkplatz erreichte, auf dem er seinen schwarzen Mercedes abgestellt hatte. Sein nasses Jackett legte er auf dem Beifahrersitz ab, ehe er den Motor anließ und zurücksetzte.
Ein Ruck ging durch den Wagen. Ein lautes Krachen und das schrille Piepsen seiner Parksensoren drangen aufdringlich in seine Ohren. Reflexartig trat Tim auf die Bremse. Der Gurt drückte unangenehm gegen seinen Oberkörper und der Schreck nahm ihm für einen Sekundenbruchteil den Atem.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm die Scheinwerfer eines großen SUVs, der genau hinter ihm zum Stehen gekommen war.
„Scheiße!", fluchte er ungehalten. Hatte er nicht nach hinten geschaut, als er angefahren war? Wie hatte er dieses Monstrum nur übersehen können?
Mit wild pochendem Herzen und weichen Knien stieg Timothy aus dem Auto.
Im ersten Moment war er erleichtert, als er sah, dass eine Frau aus dem anderen Fahrzeug stieg. Innerlich war er schon darauf gefasst gewesen, sich mit einem empörten Großverdiener herumärgern zu müssen, der ihm einen Vortrag über das korrekte Ausparken halten würde. Kurz darauf ergriff ihn allerdings Entsetzen, als er den dicken Bauch unter dem Regenmantel der Unfallgegnerin wahrnahm. Sie umklammerte ihn schützend, während sie auf ihn zu wankte.
„Oh mein Gott!", stieß er hervor. „Geht es Ihnen gut?"
Die Schwangere schüttelte den Kopf. Sie war kreidebleich im Gesicht und bei näherer Betrachtung sah er, dass ihre Unterlippe bebte.
Dabei war es kein schlimmer Aufprall gewesen. Soweit er sehen konnte, hatte ihr Wagen nicht mal einen Kratzer. Im Gegensatz zu seinem, dessen Stoßstange eingedrückt war.
„Haben Sie sich verletzt? Ich rufe einen Krankenwagen." Mit zitternden Händen und fahrigen Bewegungen kramte Timothy sein Handy hervor, während er die Frau besorgt musterte.
Ihre dunklen Locken hingen ihr nass und wirr ins Gesicht und ihre Augen waren vor Schmerz zusammengekniffen. Sie trug eine Jogginghose und einen weiten grauen Pullover unter dem Regenmantel. Fast so, als sei sie geradewegs aus dem Bett in ihren SUV geklettert.
Sie packte ihn mit erstaunlich festem Griff am Arm und hinderte ihn daran, sein Mobiltelefon zu benutzen. „Ich bin nicht verletzt. Aber ich kann nicht fahren. Sie müssen mich ins Krankenhaus bringen. Bitte!"
Mit Schrecken wurde Timothy bewusst, dass sich die Dame vielleicht bereits mitten in ihren Wehen befand. „Ich ... ähm..."
Sie ließ ihm keine Wahl, sondern drückte ihm ihre Autoschlüssel in die Hand. „Hören Sie! Um die Stoßstange Ihrer Potenzverlängerung können sich unsere Versicherungen gern später kümmern. Aber wenn Sie nicht vom Bürohengst zum Geburtshelfer umschulen wollen, dann bewegen Sie jetzt Ihren verdammten Hintern in mein Autor und fahren mich ins Krankenhaus!" ...
...„Granny sagt, dass Mummy dich immer gut im Griff hatte", stellte Miriam fest und legte den Bilderrahmen mit der Fotografie vorsichtig auf den Nachttisch zurück. „Das fing ja schon bei eurem ersten Treffen an."
Timothy nickte, während er über die wahren, wenn auch altklugen Worte seiner Tochter schmunzelte. „Bist du fertig?", fragte er.
Die Sechsjährige stand auf und drehte sich einmal im Kreis, um ihm ihr Kleid zu präsentieren. „Wie sehe ich aus?"
„Umwerfend." Für diesen kurzen Augenblick überstrahlte der Stolz auf Miriam alles. Die Trauer. Die Wut. Die Hilflosigkeit und die Sehnsucht - sie alle rückten in den Hintergrund und überließen dem warmen Gefühl der Liebe den ihr gebührenden Platz. So musste es sein. So sollte er heute fühlen. Das war Miriams Tag. Ihr sollte heute seine gesamte Aufmerksamkeit gelten.
„Ich habe Angst", gestand seine Tochter flüsternd und zeigte mit einem Mal ein äußerst ausgeprägtes Interesse an ihren Lackschuhen.
Sofort wurde das wohlige Gefühl mit giftigen Nadeln malträtiert, die ihre betäubende Substanz direkt in sein Herz spritzten. Die lähmende Wirkung des Argwohns und der Schuldgefühle fraß sich unaufhaltsam durch seine Empfindungen und seinen Verstand.
Mit aller Macht hielt er das Lächeln, mit dem er Miriam bedachte, aufrecht. Als er zu ihr hinüberging, schüttelte er den Kopf, legte ihr beide Hände auf die Schultern und ging in die Hocke, um ihr besser ins Gesicht blicken zu können. „Miri, hör mir zu! Es ist in Ordnung aufgeregt zu sein, weißt du?" Mit dem Daumen strich er sanft über ihre Wange. „Aber Angst muss du nicht haben. Die anderen Kinder sind bestimmt sehr nett. Und ich wette, dass du auch eine klasse Lehrerin bekommen wirst. Du wirst schon sehen. In zwei, drei Wochen hast du dich eingelebt, die ersten Freunde gefunden und vermutlich auch schon so viel gelernt, dass du mir nur noch Löcher in den Bauch fragen wirst."
Die Mundwinkel seiner Tochter zuckten. Schon jetzt war sie wissbegierig und liebte ihre Ausflüge an den Wochenenden, wenn er sie mit in die städtischen Museen und Ausstellungen nahm oder wenn er sich die Zeit freischaufelte, um mit ihr Lesen und Rechnen zu üben, obwohl niemand von ihr erwartete, dass sie das bereits konnte. „In zwei Jahren kann ich besser rechnen als du!", neckte sie ihn.
Erleichtert darüber, dass sie schon wieder Lächeln konnte, schlang er die Arme um sie und drückte sie fest an sich. „Nun müssen wir aber los, sonst kommst du noch zu spät zu deiner eigenen Einschulung."
Er folgte ihr aus dem Schlafzimmer hinaus, die Treppe hinunter in den Flur und griff nach dem Autoschlüssel, der in einer blaulackierten Tonschale lag, die auf der uralten Kommode stand. Michelle hatte sie auf einem Antiquitätenmarkt für einen Spottpreis erworben. Er hasste das klobige, lichtschluckende Ding, aber seine Frau hatte sich auf den ersten Blick in das Möbelstück verliebt. Und Timothy konnte einfach nicht „Nein" zu ihr sagen. Hatte es noch nie gekonnt ...
... Es kam ihm alles unwirklich vor. Die Fahrt ins Krankenhaus mit der wildfremden Frau an seiner Seite, die abwechselnd geflucht, gekeucht und gehechelt hatte. Das Eintreffen in der Notaufnahme und der Moment, in dem sich die Jogginghose seiner Begleiterin plötzlich dunkel verfärbt hatte und ihm klar geworden war, dass soeben ihre Fruchtblase geplatzt sein musste. Und auch die Situation, in der er sich jetzt befand, als er mit ansah, wie zwei Schwestern seine Unfallgegnerin auf eine Trage hievten, wirkte surreal.
„Ich werde dann ja ..."
„Wir fahren sie rauf!", wurde sein zaghafter Versuch, sich zu verabschieden, von einer resolut wirkenden Rothaarigen im blauen Dress des Krankenhauspersonals unterbrochen. „Dr. Sullivan soll schauen wie weit der Muttermund geöffnet ist. Vorsorglich schon mal den Kreissaal bereit machen."
Ihre Kollegin nickte, während sie ihr half, die Trage auf einen der Aufzüge im hinteren Teil der Notaufnahme zuzuschieben.
„Ja, gut. Ich bin dann ..."
„ Ja, ja. Kommen Sie. Wir kümmern uns um Ihre Frau!" Die Schwester packte ihn grob am Arm und zog ihn mit sich.
„Aber sie ist nicht meine Frau!"
Die Schwangere stöhnte unter einer scheinbar besonders schmerzhaften Wehe auf.
„Wie bitte? Sind Sie denn nicht der Vater?", wollte die Resolute von ihm wissen, als sich gerade die Türen des Fahrstuhls öffneten. Sie musterte ihn geringschätzig, als sei sie bereit, ihn sofort der Klinik zu verweisen, wenn er nun etwas Falsches sagte.
„Doch!" Die Frau, die mit ihrem SUV den Unfall verursacht hatte, bäumte sich auf und packte ihn am Kragen. Ihre blauen Augen waren in Panik geweitet und auf ihrer bleichen Stirn glänzte der Schweiß. „Doch, du bist der Scheißvater dieses Kindes! Von mir aus bist du auch mein gottverdammter Ehemann! Nur lass mich jetzt bloß nicht allein!"
Timothy griff nach der klammen Hand der Fremden und löste sie behutsam von seinem Hemd. Mit sanfter Gewalt und einem, wie er hoffte, beruhigendem Lächeln, das seine eigene Überforderung überdecken sollte, zwang er sie auf die Trage zurück.
Was war nur los mit dieser Frau, dass sie völlig allein, ohne jemanden, der ihr beistand, ins Krankenhaus fuhr, obwohl sie sich bereits in den Wehen befand? Gab es keinen Mann, der sich um sie sorgte? Keine Eltern? Keine Freunde?
Ihre Angst musste unermesslich sein. Er sah es in ihren Augen. Die Pupillen waren vor Schreck weit aufgerissen, die Farbe ihrer Iris verschwamm wie ein trüber Bergsee hinter unvergossenen Tränen.
„Schon gut ..." Er stockte, als ihm bewusst wurde, dass er nicht mal ihren Namen kannte.
„Michelle", presste sie hervor.
„Schon gut, Michelle. Ich bleibe bei dir." ...
... Timothy stieg ins Auto, während er noch halb in seinen Erinnerungen gefangen war. An dem verregneten Novembertag vor sechs Jahren war er Vater geworden, ohne die Mutter seiner Tochter vorher jemals gesehen zu haben. Mit Sicherheit gab es nicht viele Männer, die so etwas von sich behaupten konnten.
Ein Blick in den Rückspiegel, in dem er Miri sah, wie sie mit großen, vor Aufregung glänzenden Augen aus dem Fenster schaute, entlockte ihm ein liebevolles Lächeln.
Miriam war mehr, als er sich je zu hoffen gewagt hatte und er liebte sie so sehr, wie jeder gute Vater sein Kind lieben sollte.
Er würde den Moment im Kreissaal, als dieses kleine, verschmierte, rosarote Etwas zum Vorschein gekommen war und nur wenige Sekunden später aus Leibeskräften zu schreien begonnen hatte, niemals vergessen.
Völlig aufgewühlt war er gewesen. Seine Hand, die sich angefühlt hatte, als habe Michelle versucht, sie zu zerquetschen, hatte fürchterlich geschmerzt, und doch war sein einziger Gedanke gewesen, was für ein unglaubliches Wunder dieses schutzbedürftige Baby doch war.
Er erinnerte sich kaum noch an die darauf folgenden Stunden, als er nach Hause gefahren war, die Akten achtlos auf den Schreibtisch geschmissen hatte und ohne Abendessen todmüde in sein Bett gefallen war.
Umso deutlicher hatte er die Bilder des nächsten Tages vor Augen, an dem er beschlossen hatte, Michelle und „sein Kind" zu besuchen ...
... Die bleiche Wintersonne tauchte das sterile Krankenhauszimmer in ihr blasses Licht und verlieh den dunklen Locken der frischgebackenen Mutter einen hellen Glanz. Michelle blickte auf, als er vorsichtig den Kopf durch den Türspalt streckte, und lächelte erfreut.
„Komm rein, Timothy!", forderte sie ihn auf.
Leise, um die anderen drei Frauen im Raum nicht zu stören, schlich er zu ihrem Bett, das direkt am Fenster stand und spähte neugierig auf das kleine Wesen, das - in weiße Tücher gehüllt - friedlich in ihrem Arm schlummerte.
„Wie geht es dir?", wollte er wissen.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin Mutter." Ihre Worte wirkten verloren, der raue Klang ihrer Stimme hilflos und verzweifelt.
Aufmerksam musterte Tim ihr Gesicht. Abermals fand er die blauen Augen verschwommen und trüb vor.
„Wie kommst du damit klar?"
Sie lachte freudlos auf. „Ich liebe die kleine Maus." Ein unsicherer Blick zu ihm, dann fixierte sie das Gesicht ihrer Tochter, während ihre Finger unruhig mit den Tüchern spielten. „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Der Typ hat sich einfach verpisst." Erneut schaute sie ihn an. Diesmal lag Wut in ihrem Blick. „Ich war so dumm, Timothy! Alles habe ich ihm gegeben, diesem gottverdammten Luftschlossarchitekten mit all seinen Träumen vom Ruhm und der Überzeugung, er werde mit seiner Band bald den großen Durchbruch haben. Alles. Mein Geld, mein Auto, meine Wohnung. Und jetzt stehe ich da, mit nichts als einem Haufen Schulden!" Ein gezwungenes Lächeln verzerrte ihr Gesicht, während eine Träne ihre Wange hinabrollte. Mit dem Daumen strich sie zärtlich über die Stirn des schlafenden Säuglings. „Egal. Ich will dich nicht mit meinen Problemen belasten."
Timothy sagte nichts dazu. Er spürte, dass sie sein Mitleid nicht wollte, auch wenn ihr Anblick und ihre deutlich spürbare Verzweiflung ihm schier das Herz zerrissen.
„Wie heißt sie denn?", versuchte er, das Thema zu wechseln und deutete auf das hilflose Bündel in ihren Armen.
„Wie heißt deine Lieblingsoma?", war ihre verwirrende Gegenfrage.
„Miriam."
„Dann heißt sie Miriam."
Timothy starrte das Kind an, bei dessen Geburt er dabei gewesen war und das nun den Namen seiner Großmutter trug. Da war etwas. Dieses innere Ziehen, das ihn heute schon hierher getrieben hatte. Der Wunsch, etwas zu tun, da zu sein. Der Drang, Verantwortung zu übernehmen und Michelle und Miriam irgendwie zu helfen.
Der Säugling verzog das Gesicht, unruhig regte die Kleine sich, stieß ein unzufriedenes Quengeln aus.
„Sie hat Hunger", mutmaßte Michelle.
Timothy räusperte sich alarmiert und spürte, wie die Hitze der Verlegenheit in seine Wangen stieg. „Ich komme morgen wieder."
Er hielt sein Versprechen. Die folgenden Tage kam er immer nach der Arbeit ins Krankenhaus, mal mit Blumen und Pralinen, mal mit Obst und einem Schmusetier für Miriam.
Nach Michelles Entlassung besuchte er sie zwei Mal die Woche in dem billigen Motel, in dem sie untergekommen war. Schon bald bezahlte er die Rechnung für sie und sorgte dafür, dass der Kühlschrank gefüllt war und dass es „seiner Tochter" an nichts mangelte.
An Weihnachten - Miriam war genau einen Monat alt - beschloss er, Michelle zu überraschen. Mit alkoholfreiem Sekt und verschiedenen Leckereien aus dem Feinkostladen stand er am Abend vor ihrer Tür und klopfte gegen das splitternde Holz.
Michelle öffnete ihm mit Miriam auf dem Arm und einem Glas Wein in der Hand. Ihre Augen weiteten sich vor freudiger Überraschung und sie bat ihn ein wenig verlegen herein.
„Ich habe nicht mit Besuch gerechnet", gestand sie und deutete auf die fleckige Jeans und das labbrige graue T-Shirt, die sie trug.
Timothy grinste sie an. „Wenn ich mich angekündigt hätte, würdest du auch kein Abendkleid tragen, oder?"
Michelle lachte. „Damit Miri drauf kotzt? Bestimmt nicht." Sie deutete auf den niedrigen und völlig überfüllten Couchtisch des Einzimmerappartements. „Stell die Sachen dort ab. Möchtest du Wein? Zur Feier des Tages habe ich mir eine Flasche aufgemacht."
„Was hattest du vor? Ein einsames Frustbesäufnis?"
Sein besorgter Tonfall entlockte ihr ein beschwichtigendes Lächeln. „Keine Angst, das würde ich Miri nicht antun. Ich wollte mir nur ein Gläschen genehmigen und auf mich selbst anstoßen. Schau!" Sie zeigte auf das Bett, auf dem der Laptop lag, den er ihr zur Verfügung gestellt hatte. Der Bildschirm war an und er konnte eine Textdatei erkennen.
„Du schreibst wieder?"
„Die Idee zu dem Roman kam mir gestern Nacht. Ich habe sofort angefangen."
Er schenkte ihr ein glückliches Strahlen. „Das freut mich, Michelle!"
Sie lächelte verlegen, während sie Miriam in die Wiege legte, die neben dem schmalen Motelbett stand. Dann trat sie auf ihn zu und sah aus kristallklaren Augen zu ihm auf. „Danke, Tim. Für alles." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und kurz darauf berührten ihre Lippen sachte die seinen. Ein warmes, wohliges Prickeln breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er schlang die Arme um sie, zog sie näher an sich ...
...Die Aufführung der älteren Schüler zur Willkommensfeier der neuen Erstklässler ging nicht so schnell vorüber, wie Timothy gehofft hatte.
Während Miriam unruhig und aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, weil sie es kaum erwarten konnte, endlich ihre Klassenlehrerin kennenzulernen, kämpfte Tim mit seinem Selbstwertgefühl und den rasant drehenden Gedanken, die wie ein Brummkreisel durch seinen Verstand wirbelten.
Michelle sollte hier sein. Sie sollte neben ihm sitzen, seine Hand halten und ihm ein stolzes Lächeln schenken, nachdem sie ihre Tochter mit einem liebevollen Blick bedacht hatte.
Sie sollten zu dritt den schief gesungenen Liedern der anderen Kinder lauschen, so wie all die anderen Familien, die sich in der Turnhalle der Schule befanden.
Ihm war bewusst, dass es mit Sicherheit auch alleinerziehende Mütter und Väter in den Reihen der Zuschauer gab, aber die nahm er kaum wahr. Für ihn zählten die, die das hatten, was ihm fehlte: ein glückliches Familiendasein.
Mit hocherhobenem Haupt hielt er unermüdlich lächelnd Miriams Hand, während all die Erinnerungen an bessere Zeiten seinen Verstand fluteten.
Der Tag, an dem er Michelle gebeten hatte, seine Frau zu werden. Der Moment, als sie in ihrem weißen Kleid ein ehrfürchtiges „Ja" gehaucht hatte, nur, um wenige Stunden später mit vom Sekt geröteten Wangen zu fragen: „Können wir diese spießige Gesellschaft jetzt endlich verlassen und uns tatkräftig davon überzeugen, dass wir Mann und Frau sind?"
Michelle war seine Sonne gewesen. Sein Lebenselixier. Die treibende Kraft, die sein Glück und seine Liebe am Laufen gehalten hatte.
Ihr Lachen hallte durch seine Gedanken. Wie entzückt sie gewesen war, als er sie in ihr erstes gemeinsames Haus geführt hatte. Und wie viel Liebe sie aufgewendet hatte, um ihm und ihrer Tochter ein gemütliches Heim zu schaffen.
Er hatte es so genossen, nach einem harten Arbeitstag nachhause zu kommen, denn meist wurde er von einer fröhlichen Michelle, einer ausgeglichenen Miriam und einem leckeren Abendessen willkommen geheißen. Es war das pure Glück, das er am Tag des Autounfalls gewonnen hatte. Timothy hatte es perfekt gemacht, indem er Miriam adoptiert hatte. Nie würde er den Moment vergessen, an dem er die Papiere unterzeichnet hatte und wie Michelle und er abends mit einem Glas Wein beim Italiener darauf angestoßen hatten. Sie war so gerührt gewesen, dass sie ihm mit Tränen in den Augen für seine Liebe gedankt hatte.
Das war es gewesen. Familie, wie sie sein sollte. Wie er sie sich wünschte.
Aber Michelle war nicht hier.
Nachdem die Direktorin noch einmal alle herzlich willkommen geheißen und die Namen der Schüler aufgerufen und sie den dazugehörigen Lehrern zugeteilt hatte, sollten die Neuen noch kurz mit in die Klassenräume kommen, um schon mal einen kurzen Einblick zu bekommen. Ohne Eltern.
Miriam warf ihm einen unsicheren Blick zu.
Beruhigend drückte er ihre Hand. „Das wird schon. Keine Sorge. Ich warte im Hof."
Mit bangem Herzen beobachtete er, wie sich seine Tochter langsam der anwachsenden Kindertraube um Miss Tellinger näherte und dabei immer wieder zu ihm zurückschaute. Er hob den Daumen und lächelte. Gleichzeitig betete er, dass Miri wenigstens diese Viertelstunde überstehen würde, ohne über ihre Mutter sprechen zu müssen.
Als die Kinder verschwunden waren, begab sich Timothy an den Rand des Schulhofs und zündete sich eine Zigarette an. Eigentlich hatte er vor sechs Jahren aufgehört. Aber als sein Leben vor fünf Monaten aus den Fugen geraten war, hatte er wieder angefangen. Es ärgerte ihn selbst. Sucht war eine beschissene Sache.
Er hielt sich von den anderen Eltern fern, nickte nur hin und wieder höflich, wenn ihn jemand grüßte oder anlächelte. Unweit von ihm standen zwei Mütter und unterhielten sich angeregt. Eine von ihnen - ein extravagantes Wesen mit einem riesigen, weißen Hut und einer Sonnenbrille, die sie aussehen ließ wie eine Fliege - schaute ab und an zu ihm hinüber.
Er ignorierte sie. Hoffte, dass er sich die Feindseligkeit nur einbildete.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis Miriam wieder zurückkam. Sie war in Begleitung eines blonden Mädchens in einem rosa Kleid mit weißen Schleifen. Die beiden kicherten, als sie näher kamen und Timothy atmete erleichtert auf. Offenbar war es besser gelaufen als er gedacht hatte.
„Daddy, das ist Sophie", stellte Miriam ihre Klassenkameradin vor. „Sie sitzt neben mir und wir ..."
„Sophie!" Die Frau mit der Schmeißfliegenoptik klang beinahe hysterisch. „Komm bitte!" Während sie beobachtete, wie ihre Tochter mit entschuldigendem Lächeln Folge leistete, beugte sich die Hutträgerin zu ihrer Freundin und flüsterte deutlich hörbar: „Hast du den nicht erkannt? Das ist dieser Anwalt! Der Mann von der Besoffenen, die im April den kleinen Jungen im West End überfahren hat."
Timothy trafen die Worte bis ins Mark. Aber nicht so sehr wie Miriams Anblick.
Seine Tochter zog die Schultern hoch, versuchte, sich klein zu machen, zu verschwinden.
Für einige Sekunden erlaubte sich Timothy die Wut, das brennende Gefühl, das wie eine alles verzehrende Flamme in seiner Mitte zu fauchen begann und dann wie ein tosendes Inferno durch seinen ganzen Körper jagte.
Er hasste sie alle. Die Frau mit dem Hut und ihre Freundin. Michelle. Sich selbst. Am allermeisten sich selbst, denn er hätte es kommen sehen müssen. Wie Szenen aus einem Film sprangen die Bilder in seinen Kopf, nur, um dann flackernd zu verschwinden und durch neue ersetzen zu werden ...
...Er hatte an ihrem vierten Hochzeitstag nicht frei bekommen. Also war Michelle tagsüber mit Miriam im Zoo gewesen und hatte anschließend zusammen mit ihr gekocht, damit Daddy etwas Leckeres zu essen bekam, wenn er nach dem anstrengenden Tag in der Kanzlei nach Hause kam. Wieder einmal hatte er Überstunden geschoben. Als er endlich abgekämpft sein Heim betrat, sah die Küche aus wie ein Schlachtfeld und seine Tochter schlief bereits.
Michelle stand inmitten des Chaos, lächelte ihn an und reichte ihm ein Glas Weißwein. „Sie wollte warten, bis du kommst, aber sie hat es nicht geschafft. Du musst ihr morgen unbedingt sagen, wie dir der Nachtisch geschmeckt hat. Den hat sie selbst gemacht." ...
... An Miriams fünftem Geburtstag hatte er es geschafft, sich früher freizumachen. Er hatte die beiden überraschen wollen, doch als er die Tür aufschloss, war das Haus wie verlassen. Lautes Lachen und vergnügte Rufe führten ihn in den Garten, wo die beiden im Pool planschten.
Miriam war außer sich vor Freude, während Michelle zunächst erstaunt wirkte. Sie kam aus dem Pool und räumte eine Flasche Sekt beiseite, die bereits leer war. Offenbar hatte die Party ohne ihn begonnen ...
... Letztes Jahr an Weihnachten hatten sie gemeinsam die Gans zubereitet und dazu eine Rotweinsauce und Knödel gekocht. Michelle war großzügig mit dem Alkohol umgegangen. „Hey, hey!", hatte er sie gebremst und ihr die Flasche aus der Hand genommen. „Miri soll auch was von der Sauce essen können, oder?"
Michelle hatte gelacht. „Das verkocht doch. Ist schon nicht so schlimm. Sie trinkt das Zeug ja nicht wie Traubensaft."
Das Essen war schön gewesen. Ein gemütlicher Abend, an dem sie beisammen gesessen und viel geredet und gelacht hatten. Michelle war öfter draußen gewesen. Mal, um nach dem Dessert zu schauen. Mal auf Toilette. Und mal, weil sie geglaubt hatte, ein Geräusch zu hören.
Am nächsten Morgen war die Rotweinflasche leer gewesen. Timothy hatte nicht schweigen wollen. „Sag mal, hast du gestern den Wein ausgetrunken?", hatte er beiläufig gefragt, während er die Flasche weggeräumt hatte.
Michelle, die gerade Cornflakes für Miri in eine Schüssel füllte, hatte ihn mit verärgerter Miene angesehen. „Wieso sollte ich? Sie ist mir umgekippt."
„Hast du mir gar nicht erzählt."
„Ich erzähle dir auch nicht, wenn ich scheißen war." Damit war sie aus der Küche gerauscht ...
Es war schleichend schlimmer geworden und er hatte es nicht gesehen. Hatte es nicht sehen, sondern lieber in seiner Blase des Glücks verweilen wollen.
„Daddy?" Das ängstliche Flüstern seiner Tochter riss ihn aus seinen Gedanken. „Fahren wir jetzt zu Mummy?"
„Ja." Seine Stimmt brach und er räusperte sich. „Ja, das habe ich dir doch versprochen."
„Glaubst du, sie hat mich noch lieb?"
Tim schloss die Augen, kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, gegen den Kloß in seinem Hals und gegen die hilflose Ohnmacht, die er empfand.
Seit Michelle im Rausch den kleinen Owen totgefahren hatte und dafür verurteilt worden war, hatte Miri ihre Mama nicht mehr gesehen. Heute durfte sie mitkommen, wenn er sie besuchte. Das erste Mal.
Seit einer Woche trug seine Tochter sich mit Hoffnung und Angst. Mit Aufregung und Abneigung.
Es war an ihm, ihr zu helfen. Sanft strich er ihr über das Haar und lächelte sie ermutigend an. „Mummy wird dich immer lieben, Kleines. Egal, wo du bist. Egal, wo sie ist und egal, wie viele Meilen zwischen euch liegen. Sie liebt dich mehr als alles andere auf der Welt."
„Granpa sagt, dass sie den Alkohol lieber hat als uns."
Und wieder kämpfte Timothy die Wut nieder. Wieder war er für Miriam stärker als er je gedacht hatte, sein zu können. „Mummy ist krank, Schatz. Alkoholsucht ist eine Krankheit. Niemand sucht sich das aus. Niemand wird freiwillig abhängig von so etwas. Dort, wo deine Mum jetzt ist, lernt sie, wieder ohne Alkohol zu leben. Und glaube mir: Sie hat längst bemerkt, dass du so viel wichtiger bist."
Zu spät. Aber das würde Miri jetzt nicht weiterhelfen. Wenn Michelle raus kam, würde ihre Tochter erwachsen sein. Mit etwas Glück würde sie ihr verzeihen. Bis dahin würde Tim alles tun, um seine Familie irgendwie zusammenzuhalten.
„Was ist mir dir, Daddy? Liebst du Mummy noch?"
„Immer!"
Er konnte die Frau, die ein Kind überfahren hatte, nicht so sehr hassen, wie sie sich selbst hasste.
Er war wütend. Ohnmächtig. Bestürzt. Beschämt.
Aber er war auch nicht unschuldig. Er hatte weggesehen, als der Alkoholismus Michelle langsam aufgefressen hatte.
Trotzdem würde er sie immer lieben. Die Frau, die hinter der Sucht so oft hervorgeblitzt war, die ihn zum Lachen brachte, die so voller Liebe steckte. Die Frau, die immer versuchte, es allen anderen recht zu machen und dabei selbst viel zu kurz kam. Die Frau, die unter all der Stärke so schutzbedürftig war und die so viel falsch gemacht hatte und so vieles bereute.
Timothy würde versuchen, seine Familie zusammenzuhalten, auch, wenn das Glück, das er gewonnen hatte, so schnell zerronnen war. Er würde versuchen, es wieder zu finden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro