1/7 Drachentränen
Als sie sich dem Fuß des Feuerbergs näherten, kam Kayo sich neben dem riesigen Gestein beinahe unbedeutend vor. Ein leiser Anflug von Zweifel stieg in ihm empor und schnürte ihm für einen flüchtigen Augenblick die Kehle zu. Doch dann ermahtne er sich selbst und erinnerte sich daran, an die Prophezeiung der Schwarzen Priesterin zu glauben. Sie hatte ihm praktisch versprochen, dass er siegreich aus diesem Kampf hervorgehen werde. Außerdem war er der Mann, der drei der Himmelshüter getötet hatte. Da konnte man ihn kaum als unbedeutend bezeichnen.
Beeindruckend war die Naturfestung dennoch. Vielleicht würde er die Steinmetze beauftragen, einen Palast im Innern des Felsens zu bauen, damit er eine Sommerresidenz haben würde, wenn er König von Taerin sein würde.
Ein dumpfes Grollen riss ihn aus seinen Zukunftsvisionen und brachte den Boden unter den Hufen der Pferde zum Erzittern. Der Hengst legte die Ohren an und tänzelte ein paar Schritte zur Seite. Kayo brachte ihn mit energischem Schenkeldruck zur Raison.
„Es geht los", teilte er seinen beiden Begleiterinnen mit angespannter Stimme mit. Er stieg aus dem Sattel, nahm eine der Glasphiolen und ein sauberes Leinentuch aus den Ledertaschen und gab dem Rappen anschließend einen Klaps auf den Hintern, sodass dieser in die Richtung davon trabte, aus der sie gekommen waren. Nicht, dass er das Tier so sehr liebte und daher nicht wollte, dass ihm bei dem Kampf gegen den Drachen etwas zustieß! Kayo ging einfach nur davon aus, diese Auseinandersetzung zu gewinnen und er hatte nicht die geringste Lust, den ganzen Weg zum Meer der Tränen zurücklaufen zu müssen.
Er zog sein Schwert aus der schwarzen Scheide und begann damit, die Klinge mit dem goldenen Blut des Geflügelten Pferdes einzureiben. Dabei summte er vor sich hin und ignorierte das neuerliche Grollen des Berges. Der Drache war erwacht. Bald würde er kommen. Und dann würde er sterben.
Die Zwillinge beobachteten sein Tun mit angewiderten Blicken. So abgebrüht sie in mancher Hinsicht sein mochten, so zimperlich waren sie, wenn es um Einhörner und deren Verwandte ging. Die einstigen Amazonen weigerten sich, mit dem Lebenssaft der geflügelten Halbwesen in Kontakt zu kommen, denn sie verehrten diese Geschöpfe geradezu. Immer wieder betonten sie, welch Frevel es sei, eine dieser Kreaturen zu töten, aber das hielt sie nicht davon ab, Kayo bei seinem Kriegszug zu begleiten. Ihre Dankbarkeit, aber vielleicht auch die Furcht davor, dass er sie seines Schutzes berauben und sie vor die Tür seiner Burg werfen würde, war zu groß. Allerdings hatten sie es entschieden abgelehnt, ihre Pfeilspitzen mit dem Gift zu manipulieren.
Er hatte das akzeptiert. Es reichte ihm, wenn sie dafür sorgten, dass sein Gegner ihn nicht mehr sehen und lokalisieren konnte, bis er mit seinem Schwert die lähmende und schließlich tödliche Substanz in die Blutbahn des Drachen brachte, damit sie dort ihre Wirkung entfalten konnte.
Abermals erklang das bedrohliche Rumoren und der Boden bebte nun so sehr, dass die Reittiere der Zwillinge Probleme hatten, das Gleichgewicht zu halten.
Auch Kayo kämpfe um einen festen Stand und verstärkte den Griff um das Heft seines Schwertes.
Dann kam er in Sicht. Solaraneos musste sich auf der anderen Seite des Berges in die Lüfte erhoben haben, als er die Anwesenheit seiner ungebetenen Besucher gehört oder gerochen hatte. Die mächtigen Schwingen und die goldenen Schuppen seines riesigen Körpers glänzten im Sonnenlicht. Er winkelte seine starken Hinterbeine und die etwas schmächtigeren Vorderläufe geschickt an, sodass sie ihn beim Fliegen nicht behinderten, als er seine gewaltige Gestalt in einer weitläufigen Spirale in den klaren, blauen Himmel schraubte.
Es war ein majestätischer und atemberaubender Anblick, der sogar Kayo für einige Sekunden den Atem verschlug. Der Gedanke, dass er es sein würde, der diesem unbändigen und stolzen Geschöpf das Leben nehmen würde, versetzte ihn in Ekstase. Seine Haut begann zu kribbeln und er fühlte sich plötzlich ganz leicht. Als sei er losgelöst von allen Fesseln, die ihn je gehalten hatten. Er konnte alles vollbringen. Alles!
Mit fiebrigem Blick beobachtete er, wie der Drache ihnen seinen keilförmigen Kopf zu wandte. Die Augen funkelten wie goldene Diamanten, als sie sich auf ihn richteten.
DRACHENTÖTER!, erklang es dröhnend in Kayos Geist.
Er hatte das Gefühl, die Welt würde kippen, dabei war er selbst es, der unter den donnernden Worten des Himmelkönigs ins Wanken geriet. ICH WEIß, WESHALB DU GEKOMMEN BIST. DU HAST MEINE BRÜDER UND SCHWESTERN GETÖTET UND NUN WILLST DU MICH VERNICHTEN.
Der Halbelf unterdrückte den Impuls sich die Hände auf die Ohren zu pressen und sich unter dem Schatten des massigen Körpers zu ducken. Sattdessen richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und reckte stolz das Kinn. Solaraneos sollte ihn in all seiner Furchtlosigkeit sehen und seinen eisernen Willen kennenlernen. Ein bösartiges Lächeln umspielte die Lippen des Verbannten, als er eine spöttische Verbeugung andeutete. Gleichzeitig versicherte er sich mit einem flüchtigen Blick über die Schulter, ob Zisi und Zara ihrer Pflicht nachkamen.
Auf die Zwillinge war Verlass. Die Pfeile waren eingelegt und die beiden Frauen hatten die Sehnen bis zu ihrem Kinn zurückgezogen. Sie waren bereit und warteten nur noch auf seinen Befehl.
Solaraneos hielt sich nicht mehr mit Konversation auf. Er kannte den Ernst seiner Lage, wusste, dass Kayo niemals ruhen würde, bis einer von ihnen besiegt und tot war.
Der goldene Koloss setzte zu einem Sturzflug an und hielt geradewegs auf ihn und die ehemaligen Amazonen zu.
Kayo lauschte seinem eigenen schnellen Herzschlag, der von einem unangenehmen Rauschen in seinen Ohren untermalt wurde. Innerlich vibrierte er vor Aufregung. Äußerlich blieb er kühl.
Der Halbelf hob einen Arm und ließ diesen nach vorn schnellen. Im selben Augenblick, in dem die Sehnen ihre Pfeile sirrend auf den Weg schickten, öffnete der Himmelshüter sein gewaltiges Maul und spie ihnen einen Schwall lodernden Feuers entgegen.
Überrascht warf Kayo sich aus der Reichweite des brennenden Strahls.
Das flammende Inferno zischte fauchend und tosend an ihm vorbei. Die Hitze fraß sich durch das Leder und schien seine Haut zu verbrennen, obwohl die Flammen ihn nicht einmal berührten.
Der Herr des steinernen Fluchs schlug auf der Seite auf und rollte einige Meter durch das hohe rote Gras. Zunächst raubte ihm die Wucht des Aufpralls den Atem, dann glaubte er seine Lunge würde verbrennen - so unerträglich heiß war die Luft um ihn herum.
Als er sich blinzelnd und hustend erhob, konnte er das Ausmaß der Katastrophe erkennen. Wo die Waffe des Feindes gewütet hatte, zog sich eine schwarze Schneise durch die saftige Pflanzenebene. Dort wo Zisi auf ihrer Schimmelstute gesessen und auf das linke Auge des Drachen gezielt hatte, war nur noch ein rauchender, schmieriger Rußhaufen zu erkennen, von dem ein übelkeitserregender Gestank ausging.
„Zisi!", brüllte Zara verzweifelt. „Bei den Göttern, nein! Nein!" Ihre Stimme brach und ihr Schluchzen drang an Kayos Ohr.
Doch es kümmerte ihn nicht. Er hatte ganz andere Sorgen!
Dass der verdammte Beschützer des Throns von Taerin Feuer speien konnte, hatte er nicht gewusst. Die anderen hatten es nicht gekonnt. Sie zu blenden, und anschließend zu eliminieren, war leichter gewesen, als er es erwartet hatte.
Dieser Kampf versprach, deutlich schwieriger zu werden.
Hektisch schaute er nach oben, um seinen Gegner nicht aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig arbeitete sein Verstand auf Hochtouren und versuchte eine neuen Plan zu entwerfen. Er hatte eine seiner Kriegerinnen verloren und Zara war auch keine Unterstützung mehr. Sie wurde von der Trauer um ihre Schwester vereinnahmt. Ihre hysterischen und schmerzerfüllten Schreie drangen an sein Ohr und zerrten an seinen Nerven.
Solaraneos war unterdessen eine Schleife um den Berg herumgeflogen und näherte sich ihnen nun erneut. Er hielt Kurs auf Zara, die noch immer voller Entsetzen, das anstarrte, was von ihrer Schwester übrig geblieben war.
Kayo rannte los. Wenn der Drache schneller war als er, dann hatte er kaum eine Chance, denn vom Boden aus, nur mit einem Schwert bewaffnet, würde er nichts gegen seinen Feind ausrichten können.
„Zara!", brüllte er. „Wirf deinen Bogen rüber!"
Die Einäugige schien verwirrt und war in ihrer Trauer kaum ansprechbar. „Los! Den Bogen!", wiederholte er daher lauter und herrischer. Aber das Ableben ihres Zwillings nahm die ehemalige Amazone so sehr mit, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Situation richtig einzuschätzen. Oder aber die drohende Gefahr war ihr egal und sie nahm es in Kauf, ihrer Schwester in den Tod zu folgen, denn sie würdigte weder Solaraneos noch ihn eines Blickes.
Kayo erinnerte sich an ihre Worte. Zisi war für sie wichtiger gewesen, als ihr eigenes Leben.
Noch immer weinend schwankte sie zu der Asche hinüber und fiel auf die Knie.
„Zara! Wirf den verdammten Bogen rüber oder ich schwöre, ich werde dich am Leben halten, bis du alt und grau bist!"
Noch immer vor dem stinkenden und schmierigen Ruß kniend, hob die Einäugige den Blick und starrte ihn an. Ihre tränennassen Wange, waren kreidebleich, aber ihr sie funkelte ihn voller Hass und Verzweiflung an. Dann nahm sie den Boden und den Köcher und schleuderte beides mit einem lauten Schrei, in dem sowohl ihr Zorn als auch all ihr Kummer lagen, in seine Richtung.
Es reichte nicht ganz, dennoch atmete der Halbelf erleichter auf, als die Waffen nur ein Stück von ihm entfernt in das rote Gras fielen.
Kayo spurtete die letzten Meter und ignorierte seine brennende, protestierende Lunge. Er konnte das Schlagen der Flügel bereits hören, als er hastig, das mit Blut getränkte Leinentuch hervorholte und einige der Pfeilspitzen damit einrieb.
Als er den Blick hob, erschrak er. Die riesige Kreatur hielt nicht länger auf die geschockte Kriegerin zu. Anscheinend befand der Herr der Lüfte sie für unwichtig, nun, da sie unbewaffnet war. Stattdessen war er abgedreht und nahm nun Kurs auf Kayo.
Dieser schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf die Magie, die ihm innewohnte. Als eine Kreuzung aus Licht- und Nachtwesen, war er in der Lage sowohl die Magie des Schattens als auch die des Lichts zu nutzen. In Letzterer war er nie sehr erfolgreich gewesen, aber wenn es darum ging, beide Komponenten miteinander zu verschmelzen, war er unschlagbar.
Der Drache öffnete abermals seinen riesigen Rachen und der Verbannte konnte schon die Hitze auf seiner Haut spüren, als seine Fähigkeiten Wirkung zeigten.
Als einziger Hybrid seiner Art, war allein er in der Lage, im Licht zu verschwinden und an anderer Stelle wieder zu erscheinen, so wie es sonst nur die Nachtschwärmer im Schatten fertigbrachten.
Das flammende Inferno, das aus dem Maul des Himmelshüters hervorschoss, verpuffte wirkungslos, während sich Kayo an einem Punkt hinter der majestätischen Kreatur materialisierte.
Mit geschickten Bewegungen legte er einen Pfeil ein, zog die Sehne zurück und zielte auf die Stelle, an welcher der linke Flügel aus dem massigen Körper des Geschöpfes herauswuchs. Die Augen und der Ansatz der Schwingen, wo die Haut weich war, waren die einzigen wunden Punkte, an denen er seinen Gegner verletzen konnte. Überall sonst wurde Solaraneos durch die dicken Schuppen geschützt, als trüge er einen Panzer.
Kayo ließ los und der Pfeil flog sirrend durch die Luft.
Er stieß einen lauten, triumphalen Schrei aus, als sein Feind schmerzerfüllt aufbrüllte und an Höhe verlor. Vergessen waren die Angst und die kalten, flüsternden Stimmen, die ihm ein Lied des Todes gesungen hatten, als er beobachtete, die der gewaltige, goldene Körper ins Straucheln geriet. Die Verletzung beeinträchtigte die Spannkraft der gewaltigen Schwingen.
Der Verbannte sah zu, wie der Koloss schlingernd eine weitere Schleife flog, schätzte ab, welchen Kurs er nehmen würde und legte erneut einen Pfeil ein. Abermals löste er sich im Licht auf, ritt auf den Sonnenstrahlen, wie sonst auf den Schatten und erschien nur wenige Meter vor seiner Beute am Boden. Er brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um sich zu orientieren, zielte und schoss. Diesmal auf den rechten Flügel.
Erneut traf er und der Herr des Himmels sackte abermals einige Meter herab. Während der Drache verzweifelt um sein Gleichgewicht und seine Kräfte kämpfte, entfaltete sich das Gift in seiner Blutbahn. Die Schwingen schlugen nun nicht mehr im selben Rhythmus, schienen eher gegeneinander zu arbeiten und waren nicht in der Lage, ihn noch in der Luft zu halten. Voller kalter Genugtuung und der Gewissheit über das Leben des Königsdrachens zu triumphieren, genoss Kayo den Anblick, wie Solaraneos trudelnd der Ebene des Feuers entgegen fiel und unter lautem Grollen, das den Boden zum Beben brachte, im roten Gräsermeer aufschlug.
Der Halbelf näherte sich dem gefallenen Beschützer dennoch vorsichtig.
Der Brustkorb der majestätischen Kreatur hob und senkte sich langsam. Der Atem klang röchelnd und angestrengt.
Die lähmende Wirkung, die das Blut des Geflügelten Pferdes auf Solaraneos hatte, hatte eingesetzt und alle Muskeln versagten nun ihren Dienst. Das Herz würde nun immer langsamer schlagen, bis es schließlich ganz zum Erliegen kommen würde. Schon jetzt konnte sich der Koloss nicht mehr bewegen.
Kayo trat um den gigantischen Schädel, der die Ausmaße eines kleinen Bauernhauses hatte, herum, und blickte seinem Feind in die glanzlosen Augen.
„Du warst der Letzte", sagte er, während er aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel eine leere Phiole herausnahm. „Der Zauber, der dich an den König Taerins bindet, sorgt dafür, dass der Herrscher der Goldenen Stadt in dem Moment seinen letzten Atemzug tut, in dem du stirbst. Das weißt du." Er beobachtete, wie sich das Auge des Gefallenen unruhig hin und her bewegte. Das Wissen darum, dass sein gefallener Gegner alles verloren hatte, in allem versagt hatte, alles in Scherben sah, wofür er geschaffen worden war, bereitete Kayo unbändige Freude. Dort am Boden, im Staub zu seinen Füßen - dort gehrte Solaraneos hin. Er und all jene, die er mit seinem jämmerlichen Leben beschützen sollte.
Nun wusste der Drache, dass der Drachentöter den Thron besteigen würde. Wusste, dass die Menschheit fortan in Sklaverei unter dem grausamen Joch eines kaltherzigen Hybriden leben würde.
Dieser Gedanke trieb Kayo ein triumphierendes Lächeln ins Gesicht. Er trat näher und legte den Kopf schief. „Deine Rasse ist ausgelöscht, Solaraneos. Du und deinesgleichen. Ihr habt versagt. Eure Schwäche ist schuld am Leid des Volkes von Taerin. Nicht ich."
Eine glasklare Flüssigkeit bildete sich darin und Kayos Herz schlug vor Erregung höher. Er musste nur noch ein einen Schritt weitergehen.
„Du warst der Letzte!", wiederholte er. „Der Weg zum Thron ist frei für mich. Ich werde das lächelnde Volk unterwerfen. Ich werde den Menschen und allen anderen Geschöpfen des Reiches das Fürchten lehren. Es wird keine Drachen mehr geben. Keine Freude. Kein Lachen. Kein Glück!" Es war ein düsteres Versprechen, das seine Wirkung nicht verfehlte. Eine einzelne Träne löste sich aus dem trüben Auge, während Solaraneos schwer seufzte und endlich starb.
Kayo fing den Tropfen mit vor Erregung zitternden Händen in der kleinen Phiole auf und betrachtete die gläserne Karaffe fasziniert und liebevoll. Ihr Inhalt war eine Kostbarkeit, denn noch nie hatte ein lebendes Wesen einen Himmelshüter weinen sehen. Aber eines wusste jeder, denn es wurde in Hunderten von Sagen, Geschichten und Überlieferungen erzählt: Wer Drachentränen trank, erlangte Unsterblichkeit.
Das war seine Belohnung. Der Thron. Grenzenlose Macht. Unendliches Leben!
Mit einem befriedigten Lächeln setzte Kayo die Phiole an die Lippen und leerte sie in einem Zug.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro