1/6 Die Ebene des Feuers
Am Mittag des nächsten Tages zügelte Kayo seinen Rappen, stellte sich in die Bügel und spähte angestrengt nach vorn. Hinter ihm brachten auch Zara und Zisi ihre Pferde zum Stehen.
Den Vormittag hatten sie damit verbracht, den Rest der felsigen Wüste zu durchqueren und nun standen sie an deren Rand und blickten direkt auf die Ebene des Feuers.
Sie war nicht das, was man sich vorstellte, wenn man nur ihren Namen hörte. Kayo erinnerte sich daran, enttäuscht und gleichzeitig beeindruckt gewesen zu sein, als er sie zum ersten Mal erblickt hatte.
Es gab keine rauchenden Krater, keine Lava, die sich in Furchen ihren Weg über schwarzen, toten Boden bahnte und auch keine Flammen, die an Steinbrocken oder abgestorbenem Holz leckten. Stattdessen erstreckte sich vor ihnen eine unendlich weite Fläche, die mit hohem Gras bewachsen war, das in allen erdenklichen Rottönen erblühte. Feuergras wurde es genannt – und das aus gutem Grund. Wenn der Wind über die Ebene fegte und die langen Halme in Bewegung brachte, dann sah es tatsächlich so aus, als würde sie in Flammen stehen. Es war ein atemberaubender Anblick.
In der Mitte der weiten Fläche ragte ein riesiger Berg bis in den Himmel hinauf. Er stand ganz für sich allein und wirkte wie eine Festung der Natur. Und in gewisser Hinsicht war er das auch, denn er beherbergte den Hort des mächtigsten Drachen des Landes. Es war Solaraneos' Heim. Der Feuerberg.
Der Bewuchs des roten Grases zog sich noch bis zur Mitte des riesigen Kolosses hinauf, ehe er langsam dünner wurde und dann ganz verschwand, sodass man nur noch den blanken Fels sehen konnte. Erst am Gipfel wurde dieser wieder von einer dicken Schicht Schnee verdeckt.
„Siehst du irgendetwas?" Auch ohne sich umzudrehen, wusste Kayo, dass es sich um Zara handelte. Er kannte die Zwillinge lange genug, um sie an ihren Stimmen zu erkennen. Ihre war dunkler und rauer, während Zisi's
immer einen Hauch betörend wirkte.
Die Schwestern hatten ihre kurzen Bögen und gut bestückte Köcher bei sich und zusätzlich baumelten mehrere kleine Messer und Dolche an ihren Gürteln. Diese klirrten leise, als die Einäugige im Sattel hin und her rutschte.
„Dasselbe wie ihr. Gras und einen Berg." Selbst mit seinem besseren Sehvermögen, war nicht mehr auszumachen, als das.
Keine von beiden schenkte seinem Sarkasmus Beachtung.
Zisi trieb ihre Stute näher an seinen Hengst heran, was diesen dazu veranlasste, die Ohren anzulegen und nach dem anderen Reittier zu beißen. Kayo verpasste ihm einen Klaps auf den Hals, um ihn zurechtzuweisen.
„Lebt er da drin?", fragte sie unbeeindruckt.
Er nickte. „In wenigen Stunden sind wir dort. Dann wird es ernst."
Zara lachte spöttisch auf. „Das ist es schon drei Mal geworden. Glaubst du, diesmal wird es schlimmer?"
„Nein", gab er zur Antwort und tastete nach den anderen Phiolen, die er in einem Beutel bei sich trug. „Mit dem Gift des Geflügelten Pferdes wird es keine Probleme geben. Und ich bin sicher, dass ihr eure Aufgabe genauso gut erfüllen werdet wie zuvor." Sein Tonfall war eine Mischung aus Lob und Drohung. Er war zufrieden mit ihnen, aber er würde ihnen bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn sie heute versagten! Das sollten sie ruhig wissen. Ihm war durchaus bewusst, dass dieser Gedanke unsinnig war, denn sollten die beiden Frauen nicht die Leistung erbringen, die er von ihnen erwartete, dann konnte er froh sein, wenn er den Kampf überlebte; Gift an der Klinge hin oder her. Aber er bezweifelte, dass er dann in der Lage wäre, sich an den Schwestern zu rächen, ehe sie über alle Berge wären.
Doch bisher hatten sie immer getroffen. Hatten nie versagt. Ihn nie enttäuscht. Kein Grund, sie zu beseitigen.
„Haltet die Bögen bereit!", wies er die ehemaligen Amazonen an und verdrängte den Gedanken an Morssas Vorschlag. Er würde sich der Schwestern immer noch entledigen können, wenn er spürte, dass sie abtrünnig zu werden drohten. „Ich will, dass ihr vorbereitet seid, wenn diese goldschuppige Ausgeburt an Arroganz bemerkt, dass wir uns seiner Zufluchtsstätte nähern."
Zara schnaubte. „Du bist es doch, der den Thron erobern und die Herrschaft erringen will, obwohl du weder von den Göttern noch von den Drachen dafür bestimmt worden bist. Wen nennst du also arrogant, Kayo?"
Hitze schoss ihm in die Wangen und Zorn flutete wie glühende Lava seine Adern. Er unterdrückte den Impuls, ihr seinen Handrücken ins Gesicht zu schlagen. Wie konnte sie es wagen, so frech und respektlos über ihn zu sprechen?
Aber er kämpfte seine Wut nieder, spannte den Kiefer an, schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Er brauchte sie noch und konnte es sich nicht leisten eine von beiden gegen sich aufzubringen. Von den Zwillingen hing das Gelingen seines Plans ab. Ein Schuss von jeder. Ein Pfeil in jedem Auge seines Gegners.
„Das will ich. Und das werde ich auch!", belehrte er sie kühl, ehe er seinem Hengst die Sporen gab und ihn in das rote Gräsermeer trieb.
Vielleicht würde er auch nur eine beseitigen und die andere behalten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro