1/2 Der Herr des steinernen Fluchs
Der Wind peitschte die Wellen mit unbändiger Kraft gegen die Klippen, die das Meer der Tränen vom Festland trennten. Die Gischt schäumte sprudelnd auf, wenn das Wasser auf die schwarzen Felsen traf und das gewaltige Tosen des Ozeans mit dem Sturm wetteiferte, der den Regen in Böen gegen die verfluchte Burg trieb. Sie war am höchsten Punkt des Gesteins erbaut worden und thronte wie ein dunkler Wächter über der tobenden See.
Niemand würde es wagen, hier an Land zu gehen. Der Grund dafür war nicht nur, dass es unmöglich war, mit einem Schiff an dieser Stelle festzumachen, sondern vor allem, dass sich kaum jemand freiwillig der Burg näherte. Der steinerne Fluch, so wurde sie genannt. Heimat der Aussätzigen. Hochsitz des Drachentöters.
Kayo M'Haaran, der Herr des alten Gemäuers, lächelte, als er daran dachte, welchen Namen ihm die Bewohner Taerins gegeben hatten. Es passte zu ihm.
Und doch schienen sowohl die Menschen als auch alle anderen Geschöpfe des Reiches immer noch nicht begriffen zu haben, was dieser Titel bedeutete. Dumm und naiv, wie sie waren, glaubten sie daran, dass ihr geliebter König sie retten würde. Sie redeten sich ein, dass es dem Verbannten nicht gelingen werde, auch noch den Letzten der vier Drachen des Goldenen Landes zu töten.
Dabei hatte Kayo bereits das Leben der anderen drei Beschützer des Volkes von Taerin ausgelöscht. Er hatte etwas vollbracht, von dem alle behauptet hatten, dass es unmöglich sei. Und noch immer fürchteten ihn diese Narren nicht genug. Er würde sie lehren, was es bedeutete, ihn zu unterschätzen!
Ein Blitz zuckte über den nachtschwarzen Himmel und erhellte für einen flüchtigen Moment die hoch aufgetürmten Wolken. Die angelaufenen Scheiben der Burgfenster erzitterten und ein lautes Heulen und Ächzen erklang, als sich der Wind seinen Weg durch die Ritzen im Gemäuer und durch das alte Holzgebälk suchte. Das Feuer der Fackeln, die in eisernen Halterungen, an den Wänden angebracht waren, flackerte ebenso wild, wie die Flammen der Kerzen, die auf Kayos Schreibpult brannten.
Seine Gemächer waren nicht pompös eingerichtet, wie die des Königs in seinem goldenen Palast. Hier gab es keinen Luxus. Der Herr des steinernen Fluchs verfügte lediglich über ein großes, rustikales Bett mit vier Pfosten, die von tiefen Kerben und Kratzern verunziert wurden. Der einstmals prächtige Betthimmel hing in Fetzen an den Seiten herunter und die abgewetzten Felle, die Kayo in kalten Nächten als Decke dienten, raubten dem betagten Möbelstück den Rest seiner Würde. Dem Schreibpult, an dem der Drachentöter saß, war es nicht besser ergangen. Die Tischplatte war abgenutzt und das Holz, das unter den Bergen vergilbter Pergamente, die sich auf dem alten Sekretär stapelten, sichtbar war, schimmerte nicht mehr in seinem ursprünglich rötlichem Farbton, sondern war inzwischen matt und glanzlos. Dem Kleiderschrank, in dem sich ohnehin nur zwei Hosen, ein Mantel und drei Hemden befanden, fehlte die linke Tür. Monatelang hatte sie einfach schief in den Angeln gehangen, bis sie vor drei Wochen endgültig aus den Scharnieren gebrochen war. Kayo wollte sie nicht ersetzten. Er hatte ohnehin nicht vor, noch lange in dieser Burg zu verweilen. Daher ließ er auch den Sessel mit der durchgescheuerten Sitzfläche und den Brandflecken, die entstanden waren, weil er ständig mit brennender Pfeife darauf einschlief, nicht noch einmal aufpolstern.
Mürrisch ließ er seinen Blick über sein Hab und Gut gleiten. Er fühlte sich nicht wohl, war nicht zu Hause an diesem Ort, der sein persönliches Exil war. Wenn er ehrlich war, beneidete er den jungen König, der in seinem Schloss in Pracht und Glanz residierte. Dem es an nichts mangelte und der weder darüber nachdenken musste, mit was er seinen knurrenden Magen füllen sollte noch darüber, welcher willige Frauenkörper sein Lager wärmen würde. Maeron Coin Ta'Havier, dem Herrscher über das Reich Taerin und dessen gleichnamige Hauptstadt, mangelte es an nichts. Gold, Frauen, Ansehen, Macht. Er besaß alles, was Kayo begehrte.
Mit dem Verstoßenen in seiner kargen, düsteren Behausung, hatte es die Welt nicht gut gemeint. Folglich meinte auch Kayo es nicht gut mit der Welt. Bald schon würde die Zeit kommen, in der er sich über all jene, die auf ihn hinabgesehen, die ihn gemieden und geächtet hatten, erheben würde. Nicht mehr lange und der letzte Drache würde sterben. Und mit ihm der verdammte König Taerins. Dann würde Kayo Herrscher über das Goldene Land sein. Das Land des Lächelns. Dass er nicht lachte!
Er hasste nicht nur die Menschen, sondern auch alle anderen Geschöpfe des Reiches, die sich für etwas Besseres hielten und von denen ein jedes glaubte, es sei über die anderen erhaben. Seine Rache würde wie die schwarze Nacht über die Völker hereinbrechen. Bei dem Gedanken stieg das wohlig warme Gefühl der Vorfreude in ihm auf. Seine Haut begann zu prickeln und sein Herz schlug höher, als er sich ausmalte, wie die Völker voller Furcht und Unterwürfigkeit zu ihm aufblickten, nach dem er ihnen gezeigt hatte, wo ihr Platz in seinem neuen Reich war. Sie würden alle im Staub vor ihm kriechen, sich nach einem netten oder lobenden Wort von ihm sehnen, während sie nachts nicht schlafen könnten, weil sie bangten, dass sie sein Missfallen auf sich gezogen haben könnten. Sie würden ihm endlich einen neuen Namen geben, der ihnen die gebührende Angst einjagte und ihm den wohlverdienten Respekt bewies.
Diese Zukunftsvision stimmte ihn euphorisch. Jahre lang hatte er im Rachedurst geschwelgt, hatte sich ausgemalt, wie er insbesondere die Menschen Taerins versklavte, sie genauso grausam behandelte, wie sie ihn einst behandelt hatten und wie er, der Verbannte, aus dem dreckigen Schatten trat, um den goldenen Thron zu erobern. Aber er würde nicht ins Licht treten. Nein, schon bald würde er den Schatten mitbringen und ihn über das ganze Land legen!
Als es laut an der Tür klopfte und sich diese kurz darauf knarrend öffnete, wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich schrill und boshaft lachte. Abrupt schloss er den Mund und musterte den Neuankömmling aufmerksam. Nicht zuletzt war er daran interessiert, wie er selbst wohl auf den Mann wirken mochte, der unsicher im Türrahmen stehen geblieben war.
Wie immer trug sein Berater einen durchlöcherten, blauen Umhang über einem zerschlissenen, schwarzen Seidenhemd und einer weiten Hose.
Die schwarzen Haare waren ölig und streng nach hinten gekämmt und die Flügel der auffälligen Adlernase bebten erregt. Entweder weil er die Treppen zu den Gemächern seines Herrn hinaufgerannt war oder weil die Nachricht, die er zu überbringen hatte, ihn so sehr erfreute. Vielleicht auch vor Furcht, wenn man bedachte, wie er Kayo angetroffen hatte.
Der Verbannte versuchte, sich selbst durch die Augen seines Vertrauten zu sehen, wie er über den alten Pergamenten saß, hysterisch lachend und mit einer Verachtung im Blick, die seinen silbrig-grauen Augen den Glanz des Wahnsinns verlieh. Sein rabenschwarzes Haar stand ungebändigt nach allen Seiten ab. Er fühlte sich wild und entschlossen.
Aber sein Berater musste noch etwas anderes wahrnehmen, denn sein schmieriges Lächeln flackerte, als er mit dünner Stimme fragte: „Fühlt Ihr Euch wohl, mein Herr?"
Kayo lachte erneut. Diesmal rau und erheitert. „Natürlich, lieber Shariel. Wie weit bist du mit den Vorbereitungen? Sind die Schlächter endlich fertig?"
Der abgemagerte Mann nickte eifrig und rang unterwürfig die Hände, ehe er mit einladender Geste zum Fenster deutete. Dieses befand sich dem Schreibpult gegenüber und gewährte einen Blick auf den Innenhof der verfluchten Burg. „Wenn ich meinen Herrn bitten darf. Das geflügelte Pferd wurde soeben hingerichtet."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro