Sam erinnert sich (1)
"Das soll eine Geschichte für Kinder sein?" General Fischer ist sichtlich geschockt und sein Sohn, Hauptmann Markus Fischer, erklärt, dass er froh ist, dass seine Eltern solche Geschichten nicht nötig hatten, um ihn zu erziehen. Ich atme einmal tief durch, während ich mir den Tag wieder in Erinnerung rufe. Mein perfektes Gedächtnis lässt dabei nicht die kleinste Kleinigkeit aus und es sind nicht nur Bilder die ich sehe, auch Geräusche, Gerüche und Gefühle strömen wieder auf mich ein. Dieses erste Kapitel ist das härteste, weil ich an jenem Tag meine heißgeliebten Eltern verlor sowie das Leben wie ich es bisher kannte.
"Ich erinnere mich an unser Haus, wie es da strategisch günstig auf einer kleinen Anhöhe stand und uns ermöglichte jeden Besucher schon frühzeitig zu entdecken. Ich hatte die Männer ebenfalls gesehen, denn schon damals hatte ich ausgesprochen scharfe Augen, auch wenn sie nicht mit unserem Adler mithalten können." Ich zwinkere dem genannten Mann am Tisch des Elitetrupps von Nordwall zu, der sich mit einer angedeuteten Verbeugung für das Lob bedankt. Die meisten Zuhörer sind froh, dass ich damit die Situation ein wenig auflockere doch Mark scheint zu bemerken, dass ich das auch tue um einen Moment von mir abzulenken und mich zu sammeln. Dann sehe ich grinsend zu meiner Schwester die mich erwartungsvoll ansieht.
"Du warst damals stinksauer, denn du hast gerade Prinzessin gespielt und wolltest unbedingt ein Mädchen sein und nicht schon wieder den Jungen geben. Wir haben dich nicht aus Mamas Nachthemd gekriegt aber in unserem Mauseloch, wie wir diesen kleinen Kellerraum nannten, ist dir der Spaß schnell vergangen und ich konnte dich endlich in Hose und Pullover stecken und dir anständige Schuhe anziehen." Max schüttelt nur den Kopf weil sie sich wohl wirklich nicht daran erinnern kann. Ich finde das aber nicht schlimm. Im Gegenteil, es gibt Tage da wünschte ich mir, dass ich dasselbe von mir behaupten könnte.
"Mama sah damals genauso aus wie du heute, auch wenn ihre Kleidung weniger exklusiv und ihre Pflegeprodukte mehr auf Nützlichkeit als auf Schönheit ausgerichtet waren. Trotzdem wäre sie heute unglaublich stolz auf ihr kleines Mädchen." Ich seufze und meine Augen glänzen mit Sicherheit verräterisch. "Ihre letzten Worte erinnerten mich daran, was ich zu tun hatte. Ich habe damals nicht verstanden, warum unsere Eltern sich nicht mit uns verstecken konnten, doch ich erinnere mich daran, wie die Männer um das Haus herum gelaufen und über unserem Luftloch darüber diskutiert haben, wie viel Aufwand sie für die Verfolgung zweier kleiner Jungs betreiben wollten. Mama war es, die sie wollten und hätten sie sie nicht gefunden, hätten sie nicht aufgegeben. Sie hat sich geopfert, um uns die Flucht zu ermöglichen."
Einen Moment bleibe ich still, bevor ich meine Erinnerungen an das damalige Geschehen mit der gespannten Zuhörerschaft teile. Dabei höre ich erneut den Schuss und den Todesschrei meines Vaters genauso, wie das wütende Brüllen eines Mannes, wo die Kinder seien sowie die tränenerstickten Beteuerungen meiner Mutter, dass sie ihre Söhne schon vor Tagen zu Verwandten nach Europa geschickt habe. Und schließlich auch die fiese Stimme eines Bandenmitglieds die ich versuche so gut wie möglich nachzuahmen. "Is doch ejal Boss, warn eh nur Jungs. Lass uns die Bude abfackeln un verschwinden." Ich sehe zur Decke um die Tränen zurückzuhalten, und erdulde noch einmal, was ich damals mitbekommen habe und was sich unlöschbar in mein Gedächtnis gebrannt hat. Als ich Maxines Hand an meiner spüre, die mich sanft drückt, finde ich zurück ins hier und jetzt und fahre mit meiner Geschichte fort.
"Ich erinnere mich wie heute an die große Hitze die sogar bis in unser Mauseloch vordrang und den Gestank von verbrannten Gegenständen. Trotzdem saßen wir da und zitterten vor Angst und Kälte, die uns tief in den Knochen steckte. Wir hatten immer wieder trainiert und die Zeit gestoppt um zu sehen, wie schnell wir in den Keller kamen und was zu tun war, wenn es keine Entwarnung gab." Ich weiß nicht wie oft Mama und Paps uns am Ende kontrolliert haben, ob wir nichts vergessen hatten. "Einmal, als ich sechs war, ging Paps mit mir den Weg bis nach Europa und wieder zurück und so kannte ich jedes Schlupfloch und jedes Haus auf dem Weg, wusste worauf ich achten musste und lernte viel über die Natur, die Tiere und die Gefahren, aber auch hilfreiche Tipps und Tricks." Bei der Erinnerung an meinen Vater muss ich schlucken.
"Er war wie ich groß, schlank und dunkelhaarig und ist damals den Verbrechern entgegen gegangen, um sie aufzuhalten und uns Zeit für die Flucht ins Versteck zu erkaufen und ich habe ihn schreien gehört, als er erschossen wurde." Wieder stocke ich und meine Blicke sind in weite Ferne gerichtet, als ich ihn wieder vor meinem inneren Auge vor mir stehen sehe, voller Vertrauen und Stolz auf mich. Meine Eltern werden immer einen Platz in meinem Herzen haben, welches sich als groß genug entpuppt hat, um freiwillig und ganz von sich aus sechs weitere Dads aufzunehmen, obwohl diese niemals so etwas verlangt oder erwartet hätten. Für eine Frau die von mir erwartet hat, die Vergangenheit ruhen zu lassen und stattdessen ein neues Leben mit neuen Zielen und ihr als neuer Mutter anzunehmen, blieb es jedoch immer verschlossen. Bis heute bin ich nicht sicher, warum ich mich ihr gegenüber nie öffnen konnte, doch die Tatsache, dass sie nicht unter den Gästen vor der Bühne ist, gibt mir eine Ahnung davon.
"Mäxchen nach Europa zu bringen und in Sicherheit, das war jetzt meine Aufgabe und ich unterdrückte meine Tränen und meine Angst, riss mich zusammen und übernahm die Rolle, die man mir zugedacht hatte. An diesem Tag verlor ich alles, mein Zuhause, meine Eltern, mein Leben und meine Kindheit. Was mir blieb, als wir loszogen, war Maxine, meine Schwester, und eine vage Hoffnung, nach Europa und in Sicherheit zu kommen."
Ich lasse bewusst eine kleine Pause entstehen während ich etwas aus dem Glas vor mir trinke und weiche absichtlich den Blicken meiner Gäste aus, denn ich will das Mitleid und das Entsetzen in ihnen nicht sehen. Es reicht mir zu wissen, dass es unter ihnen welche gibt, die mir Trost spenden wollen und ansonsten eher Stolz auf unsere Leistung empfinden als Trauer über das, was wir erleben mussten. Stattdessen sehe ich lieber dem Mädchen an meiner Seite in die Augen, die mich mich voller Vertrauen und Bewunderung aber auch mit Erstaunen und Mitgefühl ansieht und erkenne den Blick wieder, denn schon damals hat sie mich immer so angesehen und mich damit jedes Mal darin bestärkt, das ich stark sein musste, für sie und um die Wünsche meiner Eltern zu erfüllen.
Schließlich nicke ich ihr zu, damit sie das nächste Kapitel vorliest.
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