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Immer ist alles im Wandel. Immer und alles. Ist dem wirklich so? Gibt es nie einen Stillstand – niemals?
Artema lauscht aus ihrem gewohnten Unterschlupf, der sich unter dem Felsvorsprung befindet, dem windigen Treiben zu. Das mittlerweile vertraute Rascheln begleitet die Böen genauso wie das stetige, durch den Wald hallende Pfeifen. Leise Tropfen gesellen sich hinzu und prasseln vor ihr auf den zunehmend härteren Boden herab. Artema zieht ihre Vorderpranken näher zu sich heran. Aufschauend – aber nicht unnötig viel bewegend – versucht sie ihre wirren Gedanken den vorbeiflatternden Blättern mitzugeben. »Sollen die sich doch damit herumschlagen«, grummelt sie.
Mit der Zunge fährt sie über ihre Tatzen und ihr Fell, um überschüssiges Nass loszuwerden. Noch ist diese Schlafstätte ausreichend, doch schon bald wird es Zeit, sich in eine Winterhöhle zu begeben. Ein Innehalten scheint nicht möglich. Oder doch? In diesem kleinen Augenblick vielleicht.
Rote, orangene, rot-orangene, orange-gelbe, gelbliche Blätter. So viele in den verschiedensten Variationen. Im Frühling ergrünen sie, im Herbst verbunten sie. Ein kunterbuntes Farben-Schauspiel mit dem Tanz des Windes. Und im Einklang des Wandels.
Eine Winterhöhle, auch wenn sie keinen Winterschlaf halten wird – suchen oder graben? Wo und wann genau? Artema driftet bereits wieder in ihrem Strudel aus Fragen ab. Sie kennt die Gegend hier noch nicht so gut; hat hier noch keinen Herbst; keinen Winter verbracht.
Vielleicht hat Arnt einen Rat. Doch wo wird sie ihn heute wohl antreffen? Seitdem der Adler im Sommer – wohlweislich durch sie – gelernt hat, auf sich ebenso zu achten wie auf seine Mittiere, ist es nicht immer leicht zu erahnen, wo er sich gerade befinden könnte. Zumeist muss Artema ihn auch nicht suchen gehen. Sie kennt seinen Wunsch nach Unabhängigkeit und genauso weiß sie, dass er sie stets in regelmäßigen Abständen aufsuchen kommt. Doch nun möchte sie nicht warten, bis er Zeit findet, die Tage vorbeizuflügeln.
Kleine Äste und Zweige werden in die Öffnung ihres Unterschlupfs geweht, der Wind scheint seine Richtung zu wechseln. Wenn Artema nun losgeht, peitscht er ihr nicht die ganze Zeit ins Gesicht. Als erstes wird sie wie gewohnt zu ihrem ganz besonderen Treffpunkt gehen. Dem Ort, an dem ihre Freundschaft vor einigen Monaten begonnen hat.
Kaum ein anderer kreuzt Artemas Weg – abgesehen der losgelösten Buntheit, die sich auf dem Boden häufen. Ihre Tatzen streifen bei jedem Schritt die zahllosen knisternden Blätter und Zweige. Sie verleihen dem Wald einen träumerischen Anblick. Wandel. Im Herbst steht alles auf dem Kopf – im Gegensatz zu dem Frühling. Was vorher noch oben war, ist nun unten. Der Pfad erblüht, der Baum wird kahl.
Nur ab und zu begegnet sie jemand anderes. Ein Eichhörnchen, was die letzten Vorräte noch zusammensammelt oder doch noch schnell eine andere, womöglich bessere Stelle dafür auserkoren hat. Oder einen Dachs, der seinen Bau ausbessert. Das Treiben durch die tobenden Tiere ist ersetzt worden durch das Suchen von Verstecken und diese dann wettertauglich zu machen – und nicht zu vergessen den Vorrat an Nahrung.
Artema wandelt weiter zu der alten Birke, die allen Wetterlagen trotzt. Auf dem Pfad schnappt sie sich abgeworfene Früchte der Bäume und schiebt sie sich ins Maul. Sie muss sich ja selbst schließlich ebenso auf die nächste Jahreszeit vorbereiten und daher ihren Winterspeck anfuttern.
Mampfend trudelt sie bei der Birke ein und noch bevor sie sich umschauen muss, erklingen wilde Flügelschläge, die sie zuordnen kann. Speichel mit Futterresten tropfen zu ihren Maulwinkeln heraus, weil sie das zum Grinsen bringt.
»Artema – du auch hier. Wie schön, da haben wir wohl den gleichen Gedanken gehabt«, begrüßt sie Arnt beim Anflug.
»Ach, sag bloß, du weißt auch noch nicht, wo du die kalten Saisonen des Jahres verbringen willst«, entscheidet sie sich unvermittelt preiszugeben, was sie belastet.
Nachdem sich der Adler auf einem Ast mit festeren umschlungenen Krallen als sonst niederlässt, starrt er sie an. Er ist dem Boden näher als sonst – vermutlich wegen des Windes, damit sie sich problemloser austauschen können.
Sein Köpfchen hält er schräg seitlich zu ihr hinunter. Allmählich wird ihr mulmig, so wie er sie mit seinem einen Auge ausführlich begutachtet.
»Ich nehme an, das war Ironie«, dachst er und begibt sich in eine aufrechte Position.
»Eigentlich nicht«, erwidert Artema prompt. »Zumindest, was mich angeht.«
Arnt wendet seinen – kleiner als ihre Pranke – Schädel zur Seite, weg vom Wald. »Also ... In die Richtung kommen Kürbisfelder. Da würde ich nicht hingehen, aber ansonsten ... habe ich absolut keine Ahnung. Ich bin ein Adler und kein Bär.« Mit jedem weiteren gesprochenen Wort schwillt seine Brust mehr an, Artema nimmt das aber nicht persönlich oder gar als Angriff auf sich und ihre Art.
Was ihr als Erstes jedoch in den Sinn kommt: »Kürbisfelder? Ich habe doch keine Angst vor diesem angeblichen Hexen-Gewächs.«
»Doch nicht deswegen«, amüsiert sich Arnt. »Erst einmal sind es keine Hexen-Gewächse und zweitens werden sie auf den Feldern wohl kaum Grimassen schneiden.« Arnt hingegen gerade schon. »Ich meinte viel eher, weil vielleicht noch welche geerntet werden könnten und du dort dann nicht deine Ruhe hättest.«
»Jetzt noch ernten?«, fragt Artema irritiert nach. Immerhin ist die Erntesaison schon vorbei.
»Das Wetter, Artema. Es ist nicht mehr dasselbe. So vieles ist im Wandel, auch das Klima – damit auch die Umwelt, die sich fortwährend anpassen muss. Es gibt noch Späternten.«
»Aber die geschnitzten Kürbisse sind doch sicherlich schon alle fertig. Was wollen die denn jetzt noch damit anfangen?«
»Suppe zum Beispiel.«
»Iiiiihhh! Die machen aus dem orangenen Zeugs Suppe? Bäh!«
Wie ein Lama – nur aus anderen Gründen – spuckt Artema aus. Tröpfchen fliegen ungewollt im hohen Bogen in die Luft. Nicht nur die Zeit scheint für diesen kleinen Moment stehen zu bleiben, sondern auch die Böen – zu Arnts Pech. Genau auf ihn fliegt der Speichel zu. Gekonnt kann der Adler jedoch manövrieren und eine halbe Pirouette auf dem Ast schwingen, bevor es neben ihm – auf seinem Plätzchen von vor einigen Sekunden – platscht.
Mit angehaltenem Atem wartet Artema Arnts Reaktion ab. Doch statt wütend zu werden, kringelt sich Arnt vor Belustigung ein. Seine beiden Flügel streichen dabei über Kreuz sein Bäuchlein. Artemas anfängliche Anspannung aufgrund ihrer nicht bestehenden Beherrschung bröckelt und lässt sich von Arnts Lachen anstecken. Um einiges leichter plumpst sie auf den Boden unter der Birke.
Allmählich verklingen ihre Laute in dem wieder einsetzenden rhythmischen Melodien des Windes. Ihre Gedanken kehren zurück, damit eine Ruhe, die auf Antworten pocht.
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