12
»Abwarten und Tee trinken«, schnattert Arnt zum wiederholten Male an diesem Nachmittag herum. Er kann es kaum fassen, dass das Artemas Ernst gewesen sein soll. »Abwarten und Tee trinken!« Er kann es nicht lassen und doch ...
Gleichsam breitet sich ein gewisses Kribbeln in ihm aus. Nicht wegen des Abwartens – gewiss nicht. Zum Glück hat er eine Aufgabe bekommen. So leise, wie es ihm möglich ist, elstert er durch einige Gassen und klaubt dies und jenes zusammen. Stumpf rattert er in seinem Geiste die Liste ab, was er mitzubringen habe.
Für ihr Treffen. Am heutigen Abend zu späterer Stunde. Nicht bei einsetzendem Sonnenuntergang, doch sobald eine Dämmerungsphase nach der anderen vollzogen ist und die Dunkelheit ihre Zeit erhält.
Sodass die Sterne und der Mond sie in helles Licht tauchen werden. »Abwarten und Tee trinken«, mahnt er sich nun schon selbst. Abwarten, was Artema mit all dem vorhat. Tee trinken kann er nun nicht, aber ihm ist natürlich bewusst, was die Redewendung zu bedeuten hat. Er ist schließlich Arnt – der Adler, der König der Lüfte.
Sein Raubzug entpuppt sich allmählich als eine Last. Wie soll er das alles in seinem Schnabel noch länger transportieren? Wenn er das nächste Teil aufnimmt, wird ihm sicherlich alles herunter fliegen. Er betrachtet die mögliche Flugbahn seiner Beute und siehe da, dort liegt etwas, als würde es nur auf ihn warten.
Er wirft sein nächstes und letztes Mitbringsel zum neuen Ziel – den Weidenkorb –, es plumpst sogar direkt hinein und stürzt dann selbst flink hinunter. Schnell lässt er seine Habseligkeiten aus dem Schnabel dort hinein fallen und greift dann mit seinen kraftvollen Krallen den geflochtenen Ring des Korbs.
Die Sonne ist schon vor geraumer Zeit hinter dem Horizont verschwunden, die ersten beiden Dämmerungsphasen vorübergezogen – Arnt macht sich auf den Weg zu Artema.
Noch ist es nicht ganz dunkel, als er ankommt. »Abwarten und Tee trinken«, erinnert er sich ein weiteres Mal.
»Schön, dass du es dir zu Herzen nimmst.«
Arnt hat sie gar nicht herannahen gehört. Er dreht sich auf dem Ast um und sieht, wie sie gerade angelaufen kommt. Dann muss er ja sehr laut gegrummelt haben, was nur ein weiteres Grummeln aus ihm entlockt.
»Aber weißt du was, ich habe damit eigentlich noch mehr gemeint«, amüsiert sie sich nun mal wieder prächtig auf seine Kosten, als sie vor der Birke zu stehen kommt. Und da er sie nur wieder anstiert, fährt sie fort: »Dass wir heute gemeinsam ausgiebig schlemmen und es uns gut gehen lassen!«
»Während wir abwarten und Tee trinken«, grummelt Arnt – doch, was er nicht zugeben wird, hat sie ihn mit dem Wort schlemmen direkt gehabt.
»So ähnlich, ja«, lacht sie. »Deswegen bist du für die Getränke zuständig gewesen und ich für die Nascherei.« Sie zeigt auf den Korb bei ihm, dann auf die Tasche bei sich.
Nachdem die Worte von Artema es schaffen, bei Arnt durchzudringen, schielt er von ihr zu dem Inhalt in seinem Korb. »Getränke?«, fragt er verwirrt.
»Du wirst schon sehen. Hast du denn alles gefunden?«
»Aber selbstverständlich, was hast du denn gedacht?« Sein Stolz bekommt wieder mal einen kleinen Spliss.
»Nichts anderes habe ich erwartet«, bestätigt sie ihm mit zwinkerndem Auge. Dadurch beruhigt sich seine anschwellende Brust.
»Na dann ...«, meint Artema und nickt zum Korb. Arnt schnappt sich den und will ihr den herunter bringen. Nervosität flutet stetig steigend durch seine Gliedmaßen bis in die Federspitzen, sodass ihm der Korb aus den Krallen rutscht.
Genau in Artemas Hände. »Nichts passiert«, sagt sie sofort.
Hibbelig gesellt er sich zu ihr und schaut ihr gebannt hin, was nun damit geschehen wird und was sie mitgebracht haben mag.
Artema begutachtet die Ware anerkennend, öffnet dann ihre Tasche, um ihre Mitbringsel zu offenbaren. Zunächst kramt sie drei Behältnisse heraus. In das größere schaufelt sie Schnee hinein und stellt es dann zur Seite.
Sie wendet sich wieder Arnt zu. »Ich mache vor, du nach – okay?«
Die Trauben füllen sie in ihre Behältnisse vor sich und werden mit dünnen Ästen fein zerdrückt, Orangenschalen werden hinein gelegt, Zimtstangen gestellt und zum Schluss wird das Ganze mit geschmolzenem Schnee aufgefüllt.
»Et voilà, unser Getränk!«
»Und es sieht beinahe aus wie ein Glühwein!«, ruft Arnt begeistert aus. »Nur in kalt«, lacht er dann. Aber sein Schnabel beginnt dennoch zu glühen, nur eben vor Aufregung.
»Ganz genau!«, freut sich Artema über Arnts Freude. »Und nun kommen wir«, Artema greift erneut in ihre Tasche, »zu dem hier.«
»Das sieht gut aus!« Arnts Augen sind noch größer geworden und beginnen zu leuchten. »Was ist das denn?«
»Praniki.«
»Pra-ni-ki?«
»Leckerer Pfefferkuchen.«
»Wo hast du den denn auftreiben können? Pfefferkuchen an sich sind ja schon schwieriger hier zu finden, aber dann einen von woanders.«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Aber natürlich, ich möchte immer gerne alles wissen – das solltest du doch wissen.«
Sie beide müssen anfangen zu lachen. »Stimmt, das hätte ich mir wirklich denken können.« Artema schaut um sich herum, dann hoch in den Himmel, dann wieder runter auf den Boden, der mit Schnee bedeckt ist. »Lass es uns gemütlich machen, dann erzähle ich es dir.«
Artema nimmt einen bereits abgefallenen Ast vom Boden auf und lehnt diesen an die Birke, sodass Arnt sich in ihre Nähe setzen kann. Sie selbst lehnt sich an den Stamm des Baums an.
»Also als ich von meiner ehemaligen Heimat aufbrach, konnte ich natürlich nicht viel mitnehmen. Aber ich wollte etwas dabei haben, was mich an sie erinnert. Das stellte mich vor eine Zwickmühle.«
»Weil nicht alles lange hält?«, fragt Arnt mitfühlend nach und sie nickt ihm zu. »Und Praniki schon?« Wieder nickt sie. »Und jetzt möchtest du es mit mir teilen?« Mit schimmernden Augen wippt ihr Kopf erneut in der gleichen Geste.
Arnt hüpft vorsichtig auf sie zu und dann auf ihre Schulter, um ihr noch näher zu sein. »Danke dir.« Weitere Worte fallen ihm vor Rührung nicht ein, doch er glaubt, Artema weiß auch so, wie viel es ihm bedeutet.
Er verweilt, sie bleibt still. Beide beobachten die leuchtenden Sterne. Nach einigen ruhigen Momenten fragt Artema jedoch: Pfefferkuchen gibt es also auch hier?«
»Aber selbstverständlich. Um genau zu sein ...«
Arnt fällt in seine Eulen-Rolle als Meisterlehrer – und strahlt dabei mit den Himmelskörpern um die Wette. Das ist schön zu sehen, daher gewährt Artema ihn und lauscht seinen Worten. Über Pfeffer- und Lebkuchen, die unterschiedlichen Traditionen in den jeweiligen Ländern und damit verbunden natürlich den verschiedenen Bedeutungen. Bei Dämonen und Tod schiebt sie gleich ihre Pranken vor, davon mag sie nicht viel hören, hingegen das Bild von Familie und Zuhause und dem Dankbarsein, da legt sie ihre Tatze auf ihr Herz. Natürlich lässt Arnt es sich auch nicht nehmen, über die Geschichte des Glühweins zu plaudern, der für Gesundheit und Glück steht. Arnt genießt es richtig, der Braunbärin das alles erzählen zu können und zu dürfen.
Seit einigen Momenten ist eine angenehme Stille eingekehrt, in der sie beide den Sternen zuschauen.
»Artema?«, spricht er sie an, gerade als sie hinunter beugt, um aus ihrem Trinkgefäß einen Schluck nehmen zu können.
»Art reicht«, antwortet sie.
»Hm?«
»Das ist mein Spitzname. Art. Und da wir uns doch nun schon länger kennen, dachte ich ... Nun, nenn mich Art.«
Arnt beäugt sie akribisch. Sein Schnabel ist kurz davor, ihre Wange zu pieksen. Hat sie das gerade wirklich gesagt?
»Na dann eben nicht. Tut mir leid, wenn ich da etwas–«, spricht sie hastig und hat sein Gestarre verständlicherweise missverstanden.
Doch er unterbricht sie schnell, als er das merkt. »Nein, nein. Entschuldigung, so war das nicht gemeint.«
»Okay – was ist dann?«
»Ich nenne dich gerne Art, Art.«
»Aber warum hast du dann so seltsam reagiert?«
»Weil ...« Arnt bringt mal wieder nur dieses seltsame kehlige Räuspern zustande.
»Na los, Arnt, bisher haben wir doch auch alles gemeistert.«
»Art.«
»Ja, richtig. Aber–«
»Nein«, er schüttelt mit seinem ganzen Körper, »nenn mich Art, denn–«
»Nein?«
»Doch ja, genau.«
Nun starrt Artema Arnt ungläubig an und versteht vermutlich nur zu gut, wie es ihm eben erging. »Das ist ja nicht zu fassen, was für ein kurioser Zufall!«, bringt sie dann heraus.
»Oder auch nicht ...«
»Ja, oder auch nicht«, stimmt sie ihm zu.
»Wir haben schon eine Menge gemein«, spricht er seine Gedanken aus.
»Und manches auch nicht, aber wir haben voneinander ...«
»... voneinander gelernt«, vervollständigt Arnt ihren Satz. »Und uns bestärkt und ernst genommen in unseren Sichtweisen.«
»Das haben wir«, bestätigt sie. »Und das werde ich immer.«
»So wie ich.«
Sie lächeln sich an und schauen dann gemeinsam wieder zum Himmel empor.
»Was wolltest du eben eigentlich fragen?« Artema fällt auf, dass er sie ja angesprochen hatte.
»Weiß ich gar nicht mehr.« Doch das scheint auch gar nicht mehr wichtig zu sein. Abwarten und Tee trinken kann so wertvoll sein – vor allem mit Praniki und ihrer Art von Glühwein.
Gemeinsam genießen sie den Rest des Abends und noch so viele weitere wunderbare Tage. Sie verbindet vieles, allen voran ihre gemeinsamen Erlebnisse. Doch dazu sind sie beide mutig und nehmen, wenn nötig, andere Sichtweisen ein – obgleich unterschiedliche. Sie haben den jeweils anderen angenommen und ihre Perspektiven in sich aufgenommen.
Saisonal bestärkt sind sie eins geworden – Art.
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E N D E
Teil 4
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