Kapitel 7
Nach dem Mittagessen - Neo, Flynn und Kayra waren zwischendurch zu ihnen gestoßen - brachen sie wieder zur üblichen Trainingswiese auf. Als sie dort ankamen, gingen sie gleich nach links am Waldrand entlang, bis sie einen halben Steinkreis erreicht hatten, der einen Teil des Platzes abgrenzte.
Schnell suchten sie sich eine Lücke zwischen den gut zwei Meter großen Steinen und betraten den kleinen, geschützten Platz der sich dahinter befand.
Ein paar Auszubildende waren schon da und unterhielten sich fröhlich. Ausbilder Kaigo war allerdings noch nicht zu ihnen gestoßen. Rasch setzten die fünf sich in einer Ecke am Waldrand auf das seichte Gras. Schön weit weg von der Stelle, von welcher der Ausbilder gleich seinen Unterricht starten würde.
Zum Glück warfen die großen Bäume lange Schatten über die Auszubildenden, denn die Sonne brannte um diese Uhrzeit immer schon unbarmherzig auf sie hinab.
Während Ruby noch in ihren Gedanken verweilte, ruhten plötzlich vier aufgeregte, aber auch besorgte Augenpaare auf ihr. "Was ist los?", fragte sie verwirrt. "Hast du nicht zugehört?", antwortete Neo vorwurfsvoll. "Nein, was ist denn los?", langsam machten sie Ruby Angst.
"Fenris kam gerade", meinte Flynn erschrocken. "Er sagt, er hätte Ausbilder Kaigo gesehen", ergänzte Kayra. "Und er hatte seinen typischen „Wir machen heute einen Test“ Ausdruck auf dem Gesicht", schloss Alina mit schreckensgeweiteten Augen. "Über die letzte Stunde", rief Ruby verschreckt. "Über welche denn sonst?", hörte sie eine giftige Stimme hinter sich, welche sie so schnell nicht zuordnen konnte.
"Dann ist ja alles gut. Man, habt ihr mich vielleicht erschreckt", seufzte Ruby und lehnte sich wieder entspannt zurück, wobei sie viele entsetzte Blicke trafen.
"Was soll daran bitte gut sein?!", rief Kayra schockiert aus. "Denkst du, ich habe auch nur eine Sekunde zugehört?" Nervös hüpfte sie auf und ab. Doch bevor Ruby noch etwas erwidern konnte, kam ihr Ausbilder zu den aufgedrehten Jugendlichen gestapft und schlagartig wurden alle still.
"Anscheinend wisst ihr es schon", sagte er mit stahlharten Gesichtszügen, aus denen sich keinerlei Emotionen ablesen ließen. Alle Blicke galten nun ihm, doch er fuhr unbeirrt fort. "Jeder bekommt drei zufällige Fragen. Wer diese nicht alle beantworten kann, muss den Test heute Nacht wiederholen. Wer ihn dann nicht besteht, wird zurückgestuft. Mindestens." Der Ausbilder sagte dies so ruhig, als ob das das alltäglichste der Welt wäre. Doch das war es definitiv nicht.
Dementsprechend war entsetztes einatmen bei allen Anwesenden zu hören. Sie konnten einfach so zurückgestuft werden?! Wie ging das denn? Sie waren im zweiten Ausbildungsjahr von dreien. Zurückgestuft zu werden bedeutete eine große Erniedrigung. Die meisten wurden deswegen von ihren Eltern ganz von der Schule genommen. Dann gab es zwei Möglichkeiten. Man endete entweder in der vordersten Front als menschliches Schutzschild - was dem Tod gleichkam - oder man musste für irgendwelche reichen Schnösel als Sklave arbeiten, was auch nicht unbedingt besser war.
Die Eltern gingen ein großes Risiko ein, ihre Kinder hierher zu schicken. Wenn sie sich gut machten, brachte ihnen dies Ansehen - falls die Kinder überhaupt die Aufnahme schafften - und alle aus der Familie hatten bessere Überlebenschancen. Wenn nicht, konnte ihnen das gesamte Hab und Gut genommen werden, falls man keine der zwei Möglichkeiten befolgte. Und das wollten nur die wenigsten für ihr Kind.
"Also, strengt euch an!", rief der Ausbilder kalt und holte Ruby somit auf den Boden der Tatsachen zurück. Angestrengt versuchte diese sich wieder zu entspannen. Du schaffst das schon. Du schaffst das schon, redete sie sich selbst Mut zu. Nun doch etwas panisch wechselte sie einen Blick mit ihren Freunden, die ebenso getroffen aussahen.
"Fangen wir mit der ersten Frage an", donnerte Kaigo los. "Warum werden im Kampf zuerst die Speere geworfen? Fenris?", der Ausbilder wandte sich an den schlacksigen Jungen von vorhin. Dieser musste bei der einfachen Frage nicht lange überlegen. "Damit diese mit ihren Widerhaken in den Schilden der Feinde stecken bleiben und sie somit unbrauchbar machen", ratterte er herunter. "Richtig", gnädig nickte der Ausbilder und feuerte seine nächste Frage ab.
Doch Ruby hörte ihrem Lehrmeister für Kampftaktik und Strategien nicht mehr richtig zu. Sein Auftreten irritierte sie. Sonst war er nicht so forsch, bewegte sich geschmeidiger. Nun wirkte er wie ein Roboter. Sie beobachtete ihn ganz genau. Doch, abgesehen vom Aussehen, konnte sie keine Ähnlichkeit mehr zwischen diesem Mann und ihrem Ausbilder erkennen. Hart befragte er einen nach dem anderen.
"Ruby!", schallte es auf einmal über die Lichtung. Sie zuckte zusammen. Sie hatte seine Frage nicht gehört. Hilfesuchend stupste sie unauffällig Kayra an. Diese verstand, aber der Ausbilder ließ sie keine Sekunde aus den Augen, sodass nicht die geringste Chance bestand, Ruby zu helfen.
Verzweifelt suchte Ruby in ihrem Gedächtnis, ob sie nicht doch ein paar Wortfetzen mitbekommen hatte. Zwecklos. Die anderen Auszubildenden schauten sie beunruhigt an.
Es war mucksmäusschenstill geworden.
Es schien, als wagte sich niemand mehr zu atmen. Nur das entfernte Kriegsgeschrei eines anderen Jahrgangs war noch leise zu vernehmen. Gerade, als Ruby aufgeben wollte, ertönte ein lauter Schrei. Ein wenig heiser, aber doch so durchdringend, dass sich alle Anwesenden gehörig erschreckten.
Alarmiert schaute Ausbilder Kaigo zum Himmel hinauf, an welchem ein riesiger Vogel seine Schwingen in die Winde gestreckt hatte. Er war nur als schwarzer Schatten zu erkennen und doch so majestätisch, dass man ihn als König der Lüfte bezeichnen könnte.
Genau diesen Moment nutzte Kayra, um sich unauffällig zu Ruby hinüber zu beugen und ihr die Frage zuzuflüstern: "Du sollst ihm sagen, wieso du dich eher nicht zum Schildträger eignen würdest." Dankbar schaute Ruby zu ihr, konnte aber nichts mehr sagen, da die volle Aufmerksamkeit nun wieder ihr galt.
"So, ich höre", sagte ihr Ausbilder auffordernd. "Weil ich eine eher schlanke Statur habe, die sich mehr für den Nahkampf oder das Bogenschießen eignet. Schildträger, sollten massiger sein, um die großen Eisenplatten über den fünf Mann stemmen zu können", sagte sie erleichtert. Kaigo nickte knapp und machte dann weiter. Nach, wie Ruby schätzte, circa einer Stunde, hatten alle Auszubildenden drei Fragen bekommen.
Erleichtert trat Ruby neben ihren Freunden wieder auf die weite Wiese hinaus. Zum Glück hatte sie das geschafft! Und doch versuchte sie ihre Freude nicht zu offen zu zeigen. Denn Neo und Alina hatten beide bei einer Frage gepatzt und Ruby hatte keine Gelegenheit gehabt, ihnen die richtige Antwort vorzusagen.
"Ich hatte es eigentlich gewusst. Aber er hat mich so überrascht, dass ich einfach nichts sagen konnte", beschwerte sich Alina. Ihre roten Locken hingen ihr wirr ins Gesicht. Doch sie kümmerte es nicht, was hieß, dass es sie wirklich traf. "Das bedeutet aber, dass du den zweiten Test locker schaffst. Du kannst doch schließlich alles", versuchte Ruby sie aufzumuntern.
"Genau", pflichtete Kayra ihr bei, während Flynn Neo etwas erklärte. Der sah mindestens genauso niedergeschlagen aus wie Alina. "Kommt schon Leute, wir schaffen das. Zusammen!", rief Ruby, als sie durch den Wald zum Lager unterwegs waren. "Und wie?", zweifelnd schaute Neo zu ihr.
"Wir essen halt mal kein Abendbrot und helfen euch stattdessen, euch auf den Test vorzubereiten!", sagte Ruby entschlossen. "Dürfen wir auch noch was dazu sagen?", fragte Kayra scherzhaft. "Nein", antwortete Ruby lachend. "Ich habe jetzt einfach mal für euch mitbestimmt". "War ja klar", sagte Flynn grinsend. Auch Alina und Neo schienen sich ein wenig zu entspannen.
"Gut", stimmten sie zu. "Dann kommt! Ich weiß, wo wir bis Sonnenuntergang ungestört sind", sagte Ruby energisch und führte ihre Freunde zu ihrem Lieblingsplatz, an welchem sie am Vorabend den Wolf getroffen hatte. Beim Gedanken an diesen, durchlief sie ein kalter Schauer und sie wollte eigentlich auf der Stelle umkehren und sich in ihrem sicheren Zelt verkriechen, aber hier war genau genommen zur Zeit der sicherste Ort.
Nebelwölfe hielten sich nie an derselben Stelle zweimal auf. Das bedeutete, dass er dort auf keinen Fall sein konnte. Dennoch war da dieses irrationale Gefühl der Panik in Ruby, das sich nicht mit Logik beruhigen ließ. Ruby versuchte ihren rasenden Puls zu beruhigen, während sich die anderen schon auf das weiche Moos setzten und es sich gemütlich machten. Das würde schließlich noch ein langer Abend werden.
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