Kapitel 20
„Was passiert jetzt?“, ängstlich hörte sich diese Stimme an. Leise und undeutlich drang sie in Rubys Bewusstsein ein. Verwirrt drehte sie ihren Kopf. Ihre Augen hatte sie noch geschlossen. Angestrengt versuchte sie diese aufzubekommen.
Grelles Licht schien ihr entgegen und sie war gezwungen, ihre Lider sofort wieder zu schließen. Etwas langsamer öffnete sie ihre Augen abermals und sah zwei verschwommene Gestalten vor sich.
Ruby fühlte sich hilflos, während ihr Blick sich langsam klärte und sie Flynn und Kayra am Rande des Zeltes, in dem sie sich anscheinend befand, ausmachen konnte. Ahnungslos drehte sie ihren Kopf herum. Sie lag auf einer Pritsche. Nein, ihrer Pritsche. In ihrem Zelt. Sonnenlicht fand seinen Weg durch einen Riss in der oberen Plane.
„Was ist passiert?“, krächzte sie. Ihre Kehle war trocken. Ihre Erinnerungen brüchig. Sie waren in einem Wald gewesen. Sie hatten irgendetwas vorgehabt. Aber was? Sie erinnerte sich noch, wie die Ausbilder sie festgehalten hatten, doch mehr nicht. Auf ihre Frage hin, kamen Flynn und Kayra sofort angerannt, auch wenn sie einen respektvollen Abstand hielten. Sie schienen nicht so recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Fragend schaute sie sie an. So waren sie doch sonst nicht. Dann gab Kayra sich einen Ruck und erzählte alles aus der gestrigen Nacht.
Je mehr sie erzählte, desto mulmiger wurde Ruby zu Mute. Am Ende senkte Kayra betroffen den Kopf: „Sie haben alle Angst vor dir, Ruby", waren ihre letzten Worte, bevor sie ihren Kopf wegdrehte. Nicht wagte, sie anzuschauen. „Und du auch?“, erwiderte sie ein wenig beleidigt. Auch wenn sie ihre Freundin im Grunde verstehen konnte.
Kayra antwortete darauf jedoch nichts und Flynn ergriff das Wort. War er am Anfang noch zurückhaltend gewesen, machte ihm das jetzt nichts mehr aus. Er trat näher an sie heran. Ruby versuchte sich aufzusetzen und Flynn setzte sich neben sie. „Sie wollen dich umbringen", sagte er leise. Ruby erwiderte nichts. Sie hatte es schon gewusst, doch es jetzt zu hören, war viel schlimmer. „Nur weil ich anders bin?“, fragte sie verbittert. Wohl wissend, dass sie es vorher auch nicht für komplett falsch enpfunden hatte, dass alle menschengeborenen Magier getötet werden sollten. Immerhin hieß es so in der Prophezeiung.
Mühsam versuchte sie eine Träne zu unterdrücken. Doch es half nichts. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nicht, was sie mit diesen Informationen anfangen sollte. Sie war eine Magierin. Genauso wie der Großmeister. Sie sollte getötet werden und ihre Freunde hatten Angst vor ihr. Schluchzend zog sie ihre Knie an sich und stützte ihren Kopf darauf. Zögernd setzte sich Kayra zu ihr. Versuchte, ihr ein wenig Beistand zu leisten.
„Großmeister Zhan hat zu viel Einfluss. Er wird frei gelassen, darf sich aber nie wieder hier blicken lassen. Auch wenn das gar keinen Sinn macht. So wird die Prophezeiung auch nicht befolgt", meinte Flynn nach einer Weile zähneknirschend. Hätte ihr Plan nur funktioniert.
Sie wollten eigentlich die anderen befreien und dann Großmeister Zhan mit der Wahrheit, dass er ein Magier war, erpressen, sodass er sich nicht mehr an dieser Kriegsschule blicken ließ. Zum Tode verurteilen, wollten sie ihn dann doch nicht. Wieso hatte das nicht einfach funktionieren können?
„Sind die Gefangenen frei?“, fragte Ruby matt. Was mit dem Großmeister geschehen würde, war ihr, ehrlich gesagt, im Moment ziemlich egal. „Ja“, antwortete Kayra mit belegter Stimme. „Sie sind wohl auf", ergänzte Flynn. „Das ist gut", brachte Ruby irgendwie heraus. Sie hatte aufgehört zu weinen. Wusste, dass sie ihrem Schicksal nicht so recht entkommen konnte. Ihr Hinterkopf schmerzte noch immer und brachte ihren letzten Funken Willen sich zu wehren, sich zu widersetzen, zum Schweigen.
„Wir lassen das nicht zu!“, rief Flynn auf einmal bestimmt und auch Kayra nickte. Sie schien ihre anfängliche Scheu überwunden zu haben. Oder besser gesagt ihren Schrecken. „Wir schaffen das schon“, sagte sie energisch.
Dankbar sah Ruby zu ihren Freunden. Und doch brannte ihr noch eine Frage auf der Zunge. Eigentlich wollte sie die Antwort nicht wissen und doch musste sie es. „Was ist mit Neo und Alina?“, wagte sie zu fragen. „Neo hat Angst vor dir. Es gibt so viele schaurige Geschichten über Magier“, antwortete Kayra betrübt. „Und? Ausbilder Legon hat uns doch die glaubwürdigste Überbringung erzählt. Da kommen die Magier doch gar nicht so schlimm rüber!“, rief Ruby verzweifelt aus.
„Genau. Die Glaubwürdigste. Das heißt immer noch nicht, dass es die richtige ist. Und du kennst die anderen", erwiderte Flynn missmutig. Seine Augen glänzten nicht mehr so teuflisch. Er schien genauso verbittert und traurig zu sein, wie die Mädchen. So saßen sie da. Schweigend.
"Und Alina?", fragte Ruby noch einmal. Im Grunde wusste sie die Antwort, aber sie musste sie noch mal hören. "Du weißt doch...ihre Eltern", erklärte Kayra vorsichtig. Ruby nickte stumm. Bei ihr war es verständlich, aber es schmerzte dennoch. Innerlich.
„Und jetzt?“, blicklos starrten Rubys Augen durch die Gegend. Schienen die Zeltwand zu fixieren und doch auch wieder nicht. „Wir finden einen Fluchtweg für dich. Dann kannst du abhauen und keiner muss sterben", flüsterte Flynn.
„Und danach? Was ist, wenn die Überbringung doch die Richtige ist und ich dann Unheil über die Menschen bringe. Einfach, weil ich lebe", schluchzte Ruby. „Du hast doch bis jetzt auch gelebt und es ist nichts großartiges passiert!“, protestierte Kayra empört. „Außerdem bekriegen sich die Menschen doch eh schon. Was für Unheil willst du da noch über sie bringen?“, setzte Flynn, mehr ironisch als alles andere, noch nach. „Genau! Was soll da noch passieren?“, bekräftigte Kayra.
„Danke", hauchte Ruby. Sie glaubte nicht daran, dass sie noch lange zu leben hatte. Und doch war es schön zu wissen zwei so treue Freunde um sich zu haben. Das brachte sie ein wenig aus ihrem Trübsal blasen heraus.
„Wie können wir dich nur hier weg bringen?“, fragte Kayra nach einer Weile des schweigenden Daseins. Ihre Stimme zitterte bei diesen Worten leicht. „Flynn? Du weißt sowas doch sonst auch immer“, wandte sie sich flehend an den Jungen.
Doch dieser hatte nur traurig die Schultern und den Kopf gesenkt und schien in seiner eigenen Welt zu sein. Ruby wusste nicht einmal, ob er ihnen noch zuhörte. Doch bei Kayras Worten schaute er leicht hoch. Kurz schien er desorientiert, bis das Gesprochene endlich in seinen Kopf eindrang. „Ich weiß auch nicht. Sie halten die ganze Zeit Wache", hauchte er. „Vor unserem Zelt?“, flüsterte Ruby erschrocken.
„Ja, sie wollen sicher gehen, dass du eben dies nicht tust", antwortete er leise. „Wie viele?“, fragte sie schnell. „Vier", kam sogleich die Antwort von Kayra. „Sie haben sich rund um das Zelt aufgestellt“. „Wie viel Zeit habe ich noch?“, flüsterte Ruby zögernd. Alleine diese Frage auszusprechen, brachte sie der Realität viel näher, als sie wollte.
„Ich schätze vier volle Stunden", sagte Flynn. Seine Stimme zitterte leicht. Auch wenn er es zu verbergen versuchte. Aus großen Augen schaute er zu Ruby auf. Sie erstaunte es immer wieder wie diese schwarzen Augen so viele Emotionen zeigen konnten. Auch wenn er für viele einfach nur der Witzbold vom Dienst war, war er doch sehr einfühlsam und emotional – wenn man ihn nur besser kannte. Nun zeigten allein schon seine Augen seine tiefe Trauer. Der Schmerz der darin lag, brach ihr das Herz.
„Es tut mir Leid", murmelte Flynn und wandte sein Gesicht ab, er konnte sie nicht mehr anschauen. „Ich hätte mir etwas anderes ausdenken sollen", seine Stimme zitterte nun so sehr, dass man dachte, er würde gleich anfangen zu weinen. Doch er hielt sich zurück.
„Das war nicht deine Schuld! Ich bin nun mal so. Irgendwann musste es doch auffallen", protestierte Ruby sogleich. Sie wollte nicht, dass er dachte, er wäre Schuld. Er wagte es, sie wieder anzusehen. Er guckte gequält. Wusste nicht, was er tun sollte. Er fühlte sich schuldig und nichts was Ruby sagen könnte, würde ihn vom Gegenteil überzeugen.
Kayra erhob wieder das Wort. Je mehr Zeit sie in diesem Zelt zusammen verbrachten, desto normaler wurde sie auch. „Komm schon Flynn. Du musst jetzt mal dein kleines Erbsenhirn anstrengen, um uns zu helfen", zankte sie ihn.
„Willst du mich damit ernsthaft provozieren?", fragte Flynn. Allerdings hatte er dabei ein ganz leichtes Lächeln auf den Lippen. "Funktioniert es?", fragte Kayra gespannt. „Das ist ein ganz schwacher Plan mich zu manipulieren, aber ich tue es trotzdem, um dir ein für alle mal den Beweis zu liefern, dass du das Erbsenhirn hier bist", erwiderte Flynn gelassen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann hat es funktioniert", lachte Kayra.
„Nein, das hat-", Flynn wurde von einer Wache unterbrochen. Harsch riss sie die Plane zur Seite und streckte ihren Kopf herein. Eine Lanze an der einen Hand, ein Schwert in der anderen. Eine silberne Rüstung erstreckte sich über seinen ganzen Körper. Der Helm saß ein wenig schräg auf seinem Kopf, was ihn aber nicht zu stören schien. „Leise! Sonst müsst ihr raus!“, brüllte er ungehalten und verschwand dann so schnell wieder, wie er gekommen war. Erschrocken starrten sich die Freunde an, bis Ruby auf einmal etwas einfiel.
„Wieso dürft ihr eigentlich bei mir sein. Es ist doch Training", fragte sie neugierig. Verächtlich schnaubte Flynn. „Die Ausbilder waren so freundlich und haben gesagt, und ich zitiere: Da es ja euer letzter Tag ist, wollen wir nicht zu böse sein und euch noch Abschied nehmen lassen. Ein bisschen Menschlichkeit gehört auch noch dazu. Zitat Ende. Wenn die schon von Menschlichkeit anfangen, sollten sie erstmal überlegen, ob es so menschlich ist, jemanden wegen seinen Fähigkeiten zu ermorden. Als wäre man unreiner Dreck, wenn man anders ist!“, Wut begann in dem Jungen zu brodeln.
„Wie überaus großzügig", stimmte Ruby ironisch zu. Und doch war sie auch etwas froh darüber. Alleine sein, wollte sie jetzt wirklich nicht. Von draußen ertönten laute Rufe. Holz krachte auf den Boden. Die Geräusche wurden nur leicht von dem Rasen gedämpft. Ein Hammer war zu hören. Ebenso das schabende Geräusch von Metall auf Erde. Jemand grub ein Loch auf der Lichtung. Ruby schauderte. Sie wussten alle, was auf der Lichtung von statten ging.
„Sie bauen den Pfahl auf", flüsterte Kayra erstickt. Ruby sagte nichts. Sie konnte nicht. Traditionell wurden Magier aufgehängt und danach in den dunklen Wald verschleppt. Dort wurde so lange patrouilliert, bis eines der bösartigen dort hausenden Kreaturen den Leichnam verspeist hatte.
„Soweit wird es nicht kommen", flüsterte Flynn, der wohl wusste, worüber Ruby gerade nachdachte. Worüber sie alle gerade nachdachten. „Hoffentlich", gab sie genauso leise zurück und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Wieder begannen Rinnsale aus Tränen ihr Gesicht hinunter zu fließen, als sie die Geräusche in voller Lautstärke zusammen vernahmen.
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