Kapitel 18
Nervöse Stimmung bestimmte das Abendessen. Jetzt, wo die Nacht so nahe rückte, fürchteten sich manche vor der Suchaktion. Oder besser gesagt alle.
Ruby, Flynn und Kayra hatten noch keine Gelegenheit gehabt den anderen zu erzählen, dass sie wussten, wo ihre Freunde waren. Die Ausbilder waren einfach überall. Es war zu riskant gewesen.
„Hoffentlich kommt Ausbilderin Jona nicht auf die grandiose Idee heute ein Überraschungstraining einzufügen“, flüsterte Alina. Ausbilderin Jona war – wie sie neulich erst erfahren hatten – eine Neue, die von nun an anscheinend das Überlebenstraining gestaltete.
Doch bislang hatten sie keine Einheit darin bekommen und ihr alter Ausbilder hatte außerplanmäßige Überraschungsstunden bei Nacht für sehr toll und lehrreich empfunden. Damit hatte er die Auszubildenden immer prima quälen können. Vor allem am Ende der Woche, wo sie eigentlich immer einen schönen Abend am Lagerfeuer hatten, hatte er seine Stunde gerne eingeschoben und ging damit allen gehörig auf den Zeiger.
Die anderen am Tisch stimmten Alina zu. Das konnten sie wirklich nur hoffen. Denn sonst war ihr Plan dahin.
Man konnte das Misstrauen der Ausbilder förmlich spüren. Ihre Blicke lagen ihnen beim ganzen Essen im Nacken. Sie hatten natürlich bemerkt, dass sich nicht so laut wie sonst unterhalten wurde. Auch die Aura, die in dem großen Zelt hing, war nicht zu übersehen. Oder besser gesagt, man konnte sie kaum nicht bemerken. Nervosität bestimmte gerade alles. Ein Hauch Angst, zusammengemischt mit etwas Mut und versuchtem Selbstvertrauen mischte sich noch darunter.
Ein dicker Kloß bildete sich in Rubys Hals. Sie bekam ihre Kartoffeln kaum mehr runter. Auch wenn das Mittagessen schon ausgefallen war, verging ihr jeglicher Appetit, wenn sie auch nur an die Befreiungsmission dachte. Sie hatten nichts geplant! Sie hatten einfach voreilig beschlossen, sich auf die Suche nach den Vermissten zu machen.
Doch was geschah mit ihnen, wenn es soweit war? Zurück konnten sie wohl kaum. Bei Großmeister Zhan wäre das viel zu gefährlich für sie. Er würde sie doch nur wieder verschleppen oder gar nach Hause schicken. Was allerdings wieder die Frage aufwarf wieso er das alles tat. Nur weil er diese für zu schwach erachtete? Zu schwach um gegen die aufstrebende Macht Kittekas anzukommen? Aber dann müsste man doch gerade da jeden Mann behalten der in den Krieg ziehen und somit das Reich beschützen konnte. Oder?
Ruby hatte davon schon immer geträumt. Für ihr Reich zu kämpfen. Doch je älter sie wurde, desto unsicherer wurde sie auch. Sie wusste ja nicht mal wieso sie überhaupt kämpfen sollte. Keine einzige der vielen Legenden hatte dies je erklärt. Nur eine alte Lagerfeuergeschichte, in der die Magier als Geister dargestellt wurden. Geister, die in der Nacht auftauchten und Streitereien zwischen den Menschen schürten. Was für ein Schwachsinn! Und selbst wenn das wahr war, warf das eigentlich mehr Fragen auf als es beantwortete.
Kopfschüttelnd schob sie ihren Teller ein wenig klirrend beiseite und stützte ihre Arme auf die grobe Holzfläche. Rau lag diese an ihrer Haut. Die Ärmel des weißen Gewandes hatte sie hochgekrempelt. Ein paar schwarze, glatte Strähnen ihrer Haare hingen achtlos in ihrem Gesicht. Sie störte es nicht.
Vielmehr verdeckten sie ein wenig ihre auffällige Augenfarbe, was sie ganz praktisch fand. Das war nämlich meist das erste, was man an ihr bemerkte. Das nervte manchmal, wenn man dann direkt in eine Schublade gesteckt wurde. Nicht das Ruby nicht stolz auf ihre Herkunft wäre, aber alles andere rückte meist in den Hintergrund. Die anderen konnte nicht etwa auf ihren Charakter achten, nein, sie mussten direkt auf ihre dunkelroten Augen eingehen. Ruby seufzte.
Kayra war es schließlich die sie wieder aus ihren Gedanken holte: „Sag mal, weißt du eigentlich wo Flynn ist?“, fragte sie leise. Er war nicht zum Abendbrot erschienen. Dabei pflegte er normalerweise gutes Essen. Zwar nicht so sehr wie Alina, aber trotzdem.
Kayra richtete ihre wilden blauen Augen erwartungsvoll auf Ruby. „Nein", musste diese allerdings schulterzuckend zugeben und sah sich nun ebenfalls suchend um. Auch Alina und Neo hatten den Jungen nicht gesehen. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich wissen will was der vorhat", flüsterte Kayra. Ruby dachte dasselbe. Das wusste man bei Flynn wirklich nie.
Langsam schwanden die verführerischen Düfte des Abendbrotes nach Kartoffeln und Wild und machten der kühlen Nachtluft platz, die das Zelt durchflutete und die Essensgerüche davon trug. Die Brise zerzauste Rubys Haar und ließ ihr Gewand sich nach außen wölben. Hastig strich sie es wieder glatt, während Kayra dies bei ihrem Trainingsanzug nicht zu stören schien. Der starke Wind belebte die Auszubildenden in gewisser Weise. Denn auf einmal wurde wieder laut geredet. Einer brüllte zum anderen und das Gelächter über herumschwebende Haare, die teils auch mal im Essen landeten, wurde laut.
Ruby und die anderen beruhigte das ein wenig. Denn schon sahen die Ausbilder nicht mehr ganz so misstrauisch drein, nur noch so griesgrämig wie eh und je.
Kurz darauf standen auch schon die ersten Auszubildenden auf und brachten klappernd ihre Teller zur Ausgabe, wo Koch Hanne sie gleich in Empfang nehmen würde.
Hastig sprangen auch die vier auf. Sie wollten nicht unbedingt die letzten bei der großen Wiese sein, die sie als Treffpunkt auserkoren hatten. Es herrschte ein großes Gedrängel an der Ausgabe, welches Ausbilder Rion geduldig zu bekämpfen versuchte. Dabei allerdings kläglich scheiterte.
Amüsiert betrachtete Ruby das Schauspiel zwischen dem hilflosen Rion und den Auszubildenden, die ihn gekonnt ignorierten. So, als wäre er Luft. Verdutzt schaute der Ausbilder drein. Irgendwann gab der gutmütige Mann auf und ging mit hängenden Schultern zum Tisch der Ausbilder zurück. Er war definitiv der Ausbilder mit dem wenigsten Durchsetzungsvermögen.
Ruby wandte sich kopfschüttelnd ab und rannte ihren Freunden hinterher. Bloß aus diesem alten Zelt hinaus und der kühlen Abendluft entgegen.
Die Sonne war bereits untergegangen und hatte dem Mond die Führung überlassen. Dennoch war es nicht zu dunkel. Gerade so hell, dass man alles erkennen und doch dunkel genug, dass man nicht gesehen werden konnte. Perfekt!
Angespannt, aber dennoch aufgekratzt und gespannt die Gefangenen endlich frei zu lassen, raste Ruby neben Alina, Neo und Kayra den kurzen Pfad entlang. Bis zur Trainingswiese hatten sie es nicht weit. Doch Ruby machte sich trotzdem Sorgen um Flynn. Noch immer war keine Spur von ihm zu sehen. Langsam machte ihr das echt Angst. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Dann blühte ihm wahrscheinlich mindestens mal der Verweis. Schaudernd schüttelte sie den Gedanken von sich.
Die über ihnen rauschenden Blätter kündigten die nachtaktiven Vögel an. Große Eulenaugen starrten ihnen durch das Dickicht entgegen. Es machte ihnen wohl Spaß damit die Jugendlichen zu erschrecken. Immer wenn Ruby sie erblickte, kam ihr unwillkürlich der Nebelwolf in den Sinn. Doch dieser war anscheinend nicht mehr gesichtet worden. Er war also weiter gezogen. Sonst hätte man doch davon gehört. Obwohl? Sie hatte auch nur Kayra davon erzählt. Und Yara hatte ebenfalls ihren Mund gehalten.
Zweifelnd kam Ruby schließlich an der Wiese an. Dort warteten schon gut ein halbes Dutzend Auszubildende. Mit wachsamen Blicken und gespannten Schultergurten samt Schwert oder Bogen. Je nachdem was ihnen mehr lag. Sofort tastete Ruby selbst an ihrem Rücken nach Schwert und Bogen. Pfeile hatte sie sich ein paar zwischen das braune Band an ihrer Taille gesteckt, während ihr kleines Messer beruhigend an ihrer Wade lag.
Immer mehr Auszubildende strömten auf die Lichtung, bis sie schließlich zu neunzehnt dort standen. Sie warteten noch gut fünf Minuten, bevor sie sicher waren, dass niemand mehr kommen würde. Das war ganz gut. An der Kriegsschule waren sie insgesamt 79 Auszubildende, aufgeteilt auf drei Jahrgänge. Wenn jeder von ihrer Aktion Wind bekommen hätte, wären sie viel zu viele gewesen. Somit waren sie genug, aber auch nicht zu wenige.
Doch auch so tat sich nun ein großes Problem vor ihnen auf. Alle schienen ein wenig orientierungslos zu sein. Auch die, die sonst immer die größte Initiative ergriffen, waren ruhig. Wie sollten sie auch etwas sagen, wenn überhaupt nicht klar war, was sie überhaupt tun sollten. Hilflos standen sie alle herum, als auf einmal Kayras Augen auf Ruby ruhten. Sie mussten schließlich noch etwas erzählen. Und ihrem Blick nach zu urteilen, würde sie das bestimmt nicht übernehmen.
Flehend sahen ihre blauen Augen zu Ruby auf. Baten sie inständig diese Aufgabe zu übernehmen. Doch auch Ruby wollte nicht so recht. Vor so vielen zu sprechen, war nicht so ihre liebste Beschäftigung. Insgeheim mochte sie es Leute zu führen, ihre Ideen zu präsentieren und trotzdem konnte sie es irgendwie nicht. Doch Kayra fiel dies noch viel schwerer, das wusste sie. Also ging sie seufzend einen Schritt von der Gruppe weg und stieg auf einen der naheliegenden Steine, die hier überall herumlagen.
Sie war nun gut zwei Köpfe höher, als selbst die größten der vor ihr stehenden. Erschreckend erwartungsvoll schauzen die anderen zu ihr auf. Ruby begann zu zittern. Sie wollte das nicht. In ihrer Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte es einfach nicht. Ihre Beine drohten jederzeit unter ihr wegzubrechen. Sie vor den Augen aller zu blamieren.
Doch das Mondlicht schien unaufhaltsam auf sie hinab. Erhellte ihre leicht bräunliche Haut. Die Sterne funkelten, wie nur für sie. Schienen, als wollten sie ihr Kraft schenken. Ruby schloss die Augen. Ihre Rubinen Augen. Das Licht gab ihr Kraft. Sie nahm all ihren Mut zusammen - und öffnete ihre Augenlider wieder.
Weitaus ruhiger schaute sie nun in die Gesichter unter ihr. Versuchte sie gleichzeitig auszublenden und doch wahrzunehmen. Nicht so einfach wie man vielleicht denken mag. Und dennoch begann sie würdevoll zu sprechen. Ihr Haar wehte dabei seicht im Takt mit ihrem Gewand. Der leichte Wind hatte wieder das Kommando übernommen. Ein paar Wolkenstreifen zierten den sonst so klaren Nachthimmel. Rubys Augen strahlten glanzvoll in die weite Welt hinaus, während sie sprach. So als wäre es schon immer ihre Bestimmung gewesen:
„Kayra, Flynn und ich haben heute etwas beobachten können. Etwas schockierendes. Nach dem Training am Vormittag bei Ausbilder Yengon und Großmeister Zhan, hat dieser Yara verschleppt. Wir sind ihnen gefolgt, in der Annahme der Großmeister würde uns dabei zu den anderen Gefangenen führen. Dies schien zumindest auch Yaras Plan gewesen zu sein. Als wir endlich am richtigen Ort ankamen, geschah etwas unerwartetes. Etwas unglaubliches. Etwas, das unglaubwürdig erscheint, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Der Großmeister hat Magie angewandt."
Dies waren kleine Worte und doch zeigten sie große Wirkung. Die Umstehenden schnappten erschrocken nach Luft. Ein paar schienen es nicht glauben zu wollen und doch für möglich zu halten, während andere misstrauisch drein blickten.
Ohne größere Verzögerung fuhr Ruby fort: „Wir können euch nun zu dem Ort führen, wo unsere Freunde sind. Doch, ob wir sie befreien können, ist die andere Frage. Denn ohne Magie ist dies wahrscheinlich nicht möglich.“
„Das stimmt schon. Und doch habe ich einen Plan“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Ruby. Vom Pfad her kam eine mittelgroße Gestalt angerannt. Seine schwarzen Haare waren im Dunkel kaum zu erkennen. So wie alles andere an ihm. Nur seine Haut stach heraus. Machte ihn sichtbar.
"Flynn!“, stieß Kayra erleichtert aus. Und auch Ruby freute sich ihren Kumpel wieder zu sehen. Vor allem heil wieder zu sehen. Sein breites Grinsen verriet bereits alles. Er wusste, was zu tun war. Noch nie war Ruby so froh gewesen ihn zu sehen. Sie fühlte sich plötzlich leicht, während die Glücksgefühle sie nur so durchströmten. Hastig sprang sie von ihrem Stein herunter und lief ihm entgegen, um ihm stürmisch zu aumarmen, als auch schon ein anderer Auszubildender aus ihrem Jahrgang sich meldete.
„Und was hast du vor?“, skeptisch blickte der Junge zu ihnen und verschränkte herausfordernd seine Arme vor der Brust. „Egal was ihr geplant habt, macht es schnell. Es ist nicht gesagt, dass die anderen Auszubildenden unser Vorhaben nicht verraten", meldete sich ein anderes Mädchen laut und deutlich zu Wort. Sie schien dabei allerdings mehr genervt als alles andere zu sein.
„Sehe ich auch so“, nickte Flynn und kletterte an Rubys ehemalige Stelle, um nun seinen Plan zu erklären. Alle hörten gespannt, was er zu sagen hatte.
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