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- Kapitel IV -

Schlaf gut! Frommer Wunsch.
ICH jedenfalls habe nicht gut geschlafen. Ich wache noch auf, bevor der Wecker klingelt, völlig gerädert von zahllosen Albträumen, die sich in Laboren, Käfigen oder Folteranlagen abgespielt haben. Die perfekte Voraussetzung, um einen ganzen Tag lang vor Kolleginnen und Patienten Pokerface zu zeigen ...

Heute ist Montag. Ich werde also mit kleinen Pausen den ganzen Tag arbeiten. Ich drehe meine Runde durchs Bad und schaue dann nach meinem Gast. Der gestrige Tag muss ihn sehr angestrengt haben. Vielleicht ist es auch das neue Gefühl "Ich darf loslassen". Er schläft jedenfalls tief und fest, und ich bin sehr froh darum. Ich verbinde seine Hand neu, mache rechts den Zugang ab, stelle ihm zu essen hin und lenke das Babyphon auf mein Handy um. Das wird dann nur vibrieren in meiner Kitteltasche, ich weiß aber sofort Bescheid, wenn er Hilfe braucht.

Nach dem Frühstück gehe ich nach vorne in die Praxis, schließe alles auf und lasse meine Mitarbeiterinnen hinein. Im November ist immer die Welt-Seuchenschutz-Impfwoche. Ich werde also heute und in den nächsten Tagen nichts anderes machen, als Leuten ein Loch in den Arm zu pieksen. Und das ist vielleicht auch gut so. Denn mein Kopf rotiert und steckt fest in meinem Gästezimmer. Ich darf mich nicht verplappern, meine Gefühle nicht zeigen, keinen ungewöhnlichen Fehler machen. Meine Kollegin wundert sich zwar über das Gehhilfenchaos im Lager, aber da wir neben der Impferei kaum andere Untersuchungen machen werden, haben meine Angestellten genug Zeit, mal etwas gründlicher in der Praxis, im Labor, im Lager aufzuräumen. Und dann wird niemand mehr an das Durcheinander denken.

Zum Glück finde ich schnell in die Routine und kann meine Gedanken auf das Jetzt richten. Erst nach 11.00 Uhr werde ich wieder erinnert, weil das Handy sich rührt. Ich impfe eine alte Dame zu Ende, sage an der Anmeldung Bescheid und eile nach Hause.
Halb schlafend blickt mir der Kranke entgegen, Angst springt aus seinen Augen. Er hat wenig gegessen, genug getrunken und möchte jetzt auf Toilette.
"Entschuldigen Sie, dass ... ich weiß nicht ... Könnten Sie ... mich in ein Bad bringen? Ich glaube, ich kann nicht laufen. Mir ist zu schwindelig."
Sie! Hat er die Erinnerungen an den gestrigen Nachmittag weggeschlafen?

Ich trete an sein Bett, hebe ihn hoch und trage ihn ins Bad. Er verspannt sich dabei. Unser Gespräch über Würde und Gefühle und ICH geht mir wieder durch den Kopf. Während er im Bad rumort, laufe ich schnell runter in meine Bibliothek und steuere direkt ein bestimmtes Regal an. C. G. Jung - aber nur ein bisschen! -, Remo H. Largo über die frühkindliche Entwicklung und noch ein paar Psychologiebücher, die sich mit Selbstfindung, Traumata und ähnlichen, vielleicht hilfreichen Themen beschäftigen. Kaum habe ich diesen Bücherstapel neben seinem Bett abgestellt, ruft er schon nach mir. Noch, während ich ihn zurücktrage, fallen ihm wieder die Augen zu.

Erst am Abend habe ich das nächste Mal die Möglichkeit, nach ihm zu sehen. Er schläft. Wieder oder immer noch.
Muss ich mir Sorgen machen? Oder schläft er jetzt einfach Schmerz, Fieber und Erschöpfung der letzten Wochen weg?
Ich esse zu Abend, höre dabei Nachrichten und gehe dann im Dunklen - erneut mit dem Babyphon bewaffnet - in meinen Garten. Ich muss endlich die Rosen abdecken, weil nun Frost angesagt ist. Mit Hilfe einer Stirnlampe mache ich mich an die Arbeit und kann dabei zum ersten Mal heute meine innere Unruhe abschütteln. Dann gehe auch ich bald ins Bett. Die zerhackte letzte Nacht fordert ihren Tribut.

Völlig verklebt und immer noch fiebrig wache ich in Alessandros Gästezimmer auf. Mein Schädel brummt, mir ist schwindelig, ich habe Durst. Und Hunger. Vorsichtig schaue ich mich um, damit die Achterbahn in meinem Kopf keine Loopings fährt. Vor dem Fenster jagen dunkle Wolken über einen grauen Himmel. Das Gespräch von gestern fällt mir sofort wieder ein.
Alessandro - Beschützer der Welt. DU mit gegenseitigem Einverständnis. Fürsorge, Achtung, eine Offenheit, vor der ich mich nicht mehr fürchte.
Ein vielseitiges Frühstück und Getränke stehen auf dem Nachttisch. Daneben entdecke ich auf dem Boden einen Stapel Bücher.

Ach, richtig! Es ist Montag, und mein Gastgeber wird drüben in der Praxis sein. Also hat er mir alles hingestellt, was ich brauchen könnte. Das Babyphon steckt auch wieder in der Steckdose. Wenn ich ihn brauche, werde ich ihn also erreichen.
Als erstes trinke ich ganz viel, dann will ich ins Bad. Fehler. Jetzt MUSS ich ins Bad ...
"Alessandro? Könntest du mir ins Bad helfen?"
Wie immer keine Reaktion, aber er wird mich schon gehört haben.
Ich lehne mich zurück, um den Druck von der Blase zu nehmen und warte geduldig ab.

Was bin ich froh, dass diese Woche bald rum ist. Fünf Tage lang panische Kinder ablenken, vereinsamte Alte bespaßen - und impfen. Wir schließen heute schon um 17.00 Uhr, weil Freitag ist, und dann habe ich endlich, endlich wieder mehr als zwei Tage Zeit, mich um meinen Gast zu kümmern.
Es war ein bisschen gespenstisch in dieser Woche. Nachdem er am Sonntag Abend eingeschlafen ist, hat er eigentlich nur noch geschlafen, manchmal gefiebert, selten so richtig schlecht geträumt. Ich habe ihn nur dreimal wach erlebt. Am Montag hat er sich nicht an den Abend zuvor erinnern können. Danach war er immer nur halb wach und hat sich an gar nichts erinnert. Eine Zeit lang habe ich versucht, ihn zum Essen zu bringen. Aber dann habe ich den Zugang wieder an die Hand gelegt, damit ich guten Gewissens rüber in die Praxis konnte.
Jetzt schließe ich mit einem erleichterten Aufseufzen die Hintertür der Praxis und gehe nach Hause. Es ist kalt geworden, der erste Schnee ist gefallen, und ich danke Gott, dass die entzündete Hand meinen geheimen Patienten rechtzeitig in meinen Schuppen getrieben hat. Sonst wäre er vermutlich inzwischen erfroren.

Kaum bin ich im Haus, knackt das Babyphon, das ich immer hier an der Garderobe gelassen habe, wenn ich aufs Handy umgeschaltet habe.
"Alessandro? Könntest du mir ins Bad helfen?"
Du! Hat er den Schalter noch mal umgelegt???
In Windeseile bin ich Mantel und Schuhe los und sause die Treppe rauf. Mein Gast lächelt mir wach und entspannt entgegen.
"Bist du jetzt von drüben gerannt gekommen? Es tut mir leid, dass ich dich so scheuchen muss."
Wir konzentrieren uns auf das Dringlichste. Als der Kranke dann wieder im Bett ist und genüsslich anfängt, sich durch das bunt bestückte Essenstablett zu arbeiten, gebe ich ihm meine Antwort.
"Ganz ehrlich? Ich wäre in dieser Woche lieber dreimal am Tag von dir gescheucht worden, als fünf Tage lang nicht zu wissen, warum du nicht wieder richtig wach wirst."
Der kleine Mann starrt mich mit offenem Mund an.
"... Äh. Welcher Tag ist heute? Ich dachte, es wäre Montag."
"Nein, nicht mehr. Wir haben Freitag Nachmittag. Am Montag hast du mich einmal gesiezt, danach bist du gar nicht mehr richtig da gewesen. Da gefällt mir dein Zustand jetzt doch viel besser."
"Heute ist ... Freitag! Auwei. Dann verstehe ich, warum du eben so gerannt bist."
"Und warum du wieder einen Zugang an der Hand hast. Ich hatte den zwischendurch abgemacht. Aber ich habe dich nicht richtig wach gekriegt, da hast du dann eben weiter Flüssigfutter bekommen."
Wir grinsen uns an, und ich bin unendlich dankbar, dass er jetzt eindeutig richtig wach ist.

"Dann fühl mal hin, was du als nächstes brauchst. Du scheinst deutlich auf dem Wege der Besserung zu sein, also kann ich den Zugang wieder abmachen. Deinem linken Handgelenk geht es gut. Deshalb die Frage: möchtest Du duschen oder baden? Sollen wir mal nach passenderer Kleidung suchen?"
"Langsam, Alessandro. 'fühl mal hin' ist noch ziemlich ungewohnt für mich. Das krieg ich nicht so schnell verinnerlicht."

Aber ich weiß gut, was er meint.
Angefangen beim Körpergefühl - eklig.
Weiter bei satt, wach, neugierig. Schon mal gut.
Und schließlich zufrieden, angstfrei, geborgen. Ich kenne diese Wörter aus alten Büchern. Aber wie sich das anfühlt - das ist absolut neu.

Dass ich jetzt fünf Tage durchgepennt habe ... heftig. Dann wars wohl nötig.
"Eine Dusche oder Badewanne und frische Kleidung wäre nicht schlecht. Aber bitte zieh jetzt nicht los und kauf was."
"Das geht sowieso nicht. Jeder hier kennt mich und weiß, dass ich alleinstehend bin. Ich kann nicht einfach so Kinderkleidung kaufen. Nicht mal online. Das würde extrem auffallen."
"Auch wieder wahr."

"Na dann ... hopphopp. Was ist dir lieber - duschen oder baden?"
"Wenn deine Badewanne so richtigrum steht, dass ich meine verbundene Hand einfach raushängen lassen kann ... Ach ne, und das Gipsbein?"
"Wird eingepackt. Kein Problem. Kannst ... kannst du mir einen Gefallen tun? Achte bitte mit darauf, dass du nicht zu viel auf einmal machst. Mach langsam und plane immer wieder Pausen ein. Sonst fällst du gleich in den nächsten Verarbeitungsdauerschlaf."
Die Sorge in seiner Stimme lässt mich Geborgenheit spüren.
Ein schönes Gefühl.

Eine Stunde später bin ich sauber und entspannt. Alessandro hat mir ein bisschen die Haare geschnitten, der Fluchtbart ist weg, einiges an Kleidung ist für mich enger gemacht und mein durchgeschwitztes Bett ist frisch bezogen.
"Alessandro ... warum ... tust du das alles für mich? Ich kenne so etwas nicht."
Abwartend sehe ich ihn an. Es arbeitet in seinem Gesicht. Er steht auf, geht mal wieder zum Fenster - und schweigt.

Was soll ich darauf denn antworten?
Während er in der Badewanne war, habe ich mir nochmal sein Profil in dem Katalog angesehen. Die Vertrauensbasis für echte Begegnung scheint jetzt gegeben zu sein. Aber was da steht, macht mich unsicher, wie es jetzt weitergehen sollte.

Charaktereigenschaften: treu, unterwürfig, geschickt, anpassungsfähig, kommunikativ, gebildet, keine Vorerfahrung in Bezug auf die Realität
IQ: 147
kann intelligente Gespräche führen
hat eine beruhigende Wirkung bei Stress
ist musikalisch
körperlicher Zustand: stubenrein

Das "unterwürfig" kann ich wohl streichen nach dem, was er mir erzählt hat. Das "stubenrein" treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Fremdschämen mit Anlauf. Und den Rest kann ich bis jetzt genau so unterschreiben.

Mal wieder starre ich Löcher in meinen dunklen Garten. Nur die Reflexion des Mondlichts auf dem Schnee ist zu sehen.
Ich bin einerseits ein "Kind dieser Zeit", komme im Heute zurecht und weiß mich zu schützen. Andererseits habe ich im Gegensatz zu den meisten Menschen eine gute Verbindung zur Vergangenheit dieser Welt und dieser Menschen. In meinen Regalen stehen Bücher, die schon lange verboten sind. Ich selbst kann mich erinnern, wie diese Einheitswelt allmählich entstand und ganz subtil unter die Herrschaft weniger geriet.
Meine Oma ist noch im 20. Jahrhundert geboren worden. Sie erinnerte Weltkriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen. Aber sie erinnerte auch Menschen, die aus fester Überzeugung menschlich geblieben waren - im Krieg, im Hunger, in der fortschreitenden Zerstörung unseres Planeten, in der Politik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft. Menschen, die laut oder leise geholfen, protestiert, die Wahrheit ausgesprochen und nach alten ethischen Grundsätzen gehandelt haben. In den Büchern, die Oma mir zu lesen gegeben hat, waren Würde und Menschenliebe die wichtigsten Themen überhaupt. Und weil sie das in unserer Familie auch gelebt hat, bin ich in diese Werte hinein groß geworden.

Mein Gast dagegen ist in einer künstlichen Laborwelt gezüchtet worden und aufgewachsen. Das war seine einzige Wirklichkeit. Dann hat er zweieinhalb Jahre in der Wohnung dieses Herrn Schelling verbracht. Unter Qualen. Es war das einzige, was er jemals von "der Welt" zu sehen bekommen hat. Vielleicht noch Propagandafernsehen. Noch eine verzerrte Wirklichkeit. Und schließlich ist er sechs Wochen lang im Schatten der Menschen herumgeirrt, immer auf der Flucht, aber sicher mit sehr offenen Augen und Ohren. Wie sieht seine Wirklichkeit dieser Welt jetzt aus?
Ich fasse einen Entschluss. Und freue mich auf viele, viele spannende Gespräche mit einem Menschen, der mit einem wachen Geist und einem kritischen Blick von außen fragen und antworten wird. Ich gehe zurück zum Bett.

"Bist du einverstanden, dass ich dich ICH nenne, bis du selbst deinen Namen gefunden hast? Ich möchte dich irgendwie anreden können."
ICH nickt.
"Dann möchte ich Dir jetzt einiges über mich erzählen. Und über diese Welt. Und über dich. Manches wird für dich normal sein, anderes wird dich vor Rätsel stellen oder dich beängstigen. Wir beide werden, bis dein Bein geheilt ist, miteinander ein Puzzle legen. Ein Puzzle aus all dem, was du und ich aus alten Büchern oder eigener Erfahrung wissen."
"Das klingt spannend. Durch dein Fenster habe ich mal gesehen, dass du viele Bücher hast. Vielleicht bin ich deshalb immer wieder hierher gekommen. Im Labor hatten wir nur Lehrbücher. Aber beim Schelling habe ich den ganzen Tag, wenn er bei der Arbeit war, nichts getan als zu lesen. Geschichte, Philosophie, Religionen. Politische Denkmodelle. Ich meine ... ich habe noch nie bewusst Politik oder Religion erlebt, weiß nicht, was das für meinen Alltag, mein Wesen bedeuten könnte. Aber ich habe dabei doch vieles verstanden, was die Menschen heute nicht mehr zu wissen scheinen."

Einen Moment ist er still und scheint zu zögern.
"Du ... weißt noch mehr, oder? Über die Welt und die Menschen?"
Himmel, ist der schnell und schlau.
"Ja, ich weiß mehr. Viele der Bücher, die ich besitze, sind längst verboten, weil sie alte Wahrheiten transportieren. Und ich bin ganz ehrlich zu dir. Ich möchte immer offen zu dir sein, aber ich befürchte, dass es Dinge, Wissen, Realitäten gibt, die dich überfordern würden. Traust du mir zu, das zu steuern? Bist du bereit, mir jede Verunsicherung und Angst mitzuteilen, damit ich dich schützen kann? Ich will dir nichts vorenthalten. Ich möchte nur beobachten, was wie bei dir ankommt, und dann dosieren, damit du alles nacheinander verarbeiten kannst."

Ganz kurz ist eine Flamme Misstrauen durch mein Hirn gezuckt.
Wenn er dosieren will - was will er mir vorenthalten?
Aber dieser Mensch ist wie ein offenes Buch. Ich glaube, der KANN gar nicht lügen. Er meint das so ehrlich.

"Gerne. Aber das beantwortet nicht meine Frage: warum tust du das alles für mich, obwohl du dich damit selbst in Gefahr bringst?"
"Weil ... weil ich das Privileg habe zu wissen, wie sich eine einigermaßen gerechte und würdevolle Welt anfühlt. Es ist mir ein Bedürfnis, das zu leben. Ich kann nicht anders. Das Wesen des Menschen ist Gemeinschaft, Freundschaft, Vertrauen, Solidarität. Wir brauchen das sogar, um psychisch gesund zu sein. Wenn das einem Menschen oder gar einer ganzen Gesellschaft verloren geht, dann ist gewaltig was schief gelaufen.
Dieser Katalog, deine Narben haben in mir das Unterste zu oberst gekehrt. Ich bin tief erschüttert. Von einer Sirene wachgerufen. Ich bin dankbar, dass du bei mir gelandet bist. Dass ich wenigstens dieses eine Leben ... dass ich dir Gutes tun kann. Dass ich diesen Schock nicht allein verdauen muss sondern mit dir gemeinsam vorsichtige Schritte in die neue Realität machen kann. Bis du weißt, wer du bist. Und bis ich weiß, welche Konsequenzen ich daraus ziehen muss, um meine eigene Würde zu wahren."

WOW! DAS ist ein Mensch, wie er gedacht ist? Und was sind dann die anderen alle?
"Nochmal: gerne. Du berührst mich. Und das ist die allererste Berührung in meinem Leben, die nicht weh tut. Ich - wer auch immer das ist - bin dir wichtig. Das muss ich erst mal erfühlen. Aber gleich noch eine Frage: was hat es mit diesem Stapel Bücher neben meinem Bett auf sich?"

Alessandro lächelt.
"Wie gesagt - es gibt Bücher, die darf es gar nicht geben. Und davon habe ich Dir ein paar rausgesucht, die zu deiner Frage nach deinem ICH passen. Bald kannst du dich besser bewegen, denn deine Hand heilt schnell und gut. Dann werde ich dich vermutlich aus meiner Bibliothek rausprügeln müssen, weil du gar nichts anderes mehr tust, als zu lesen. Aber wenn es nach mir geht, schaust du diese Bücher jetzt nur an und suchst dir zwei davon aus. Morgen früh entscheidest du dich dann für eines davon, und mit dem fängst du an. Nicht drei auf einmal, verstanden?"
Ich nicke brav, allerdings mit einem breiten Grinsen.
"Ich hoffe, du kommst schnell in einen brauchbaren Tag-Nacht-Rhythmus und kannst normal schlafen."
Das war dann wohl der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl.

Nachdem Alessandro meine Hand ausgewickelt, zufrieden genickt, eine Salbe aufgetragen und alles wieder verbunden hat, wünscht er mir eine gute Nacht und lässt mich allein. Auch die Tür zwischen unseren Zimmern schließt er nun. Kaum höre ich seine Schritte auf der Treppe nach unten, greife ich mir die ganzen Bücher und fange an zu stöbern. Es sind lauter alte Schätze. Mehr als einmal lese ich mich beinahe fest. Aber am meisten fesselt mich das Buch eines Kinderarztes über die frühkindliche Entwicklung. Und da gibt es natürlich kein Halten mehr.
Ich habe keine Ahnung, wie viel später es ist, als Alessandro den Kopf zur Tür reinsteckt und mich böse ankuckt.
"Erwischt! Aber das war ja eigentlich klar."
Er zwinkert mir zu und geht wieder.

Dieses Wochenende ist für uns beide ganz anders als das letzte. Ich hatte aufgeben wollen, er hatte eigentlich nur seine Rosen winterfest verpacken wollen. Stattdessen haben wir uns in Lichtgeschwindigkeit durch Staunen, Entsetzen, Panik, Verzweiflung und Wut hindurch zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden, die mir und ihm neue Welten eröffnet hat. Im Laufe der Woche grabe ich mich durch vier Bücher, bitte um einen Notizblock, fange an, Tagebuch zu schreiben, sammle Fragen für den Abend, denen wir dann gemeinsam nachgehen. Ich komme jetzt alleine auf Toilette, sitze manchmal dick eingemummelt am offenen Fenster, genieße den Sonnenschein und schaue den im leichten Wind wirbelnden Schneeflocken beim Tanzen zu. Ich lese schon wieder oder starre einfach Löcher in die Luft beim Nachdenken.

Von dieser geheimen Welt des Friedens, der Ruhe, der Würde und der Wörter hat Merlin nichts gewusst. Schade. Er hätte es genossen. Ich beschließe, dass ich es für ihn mit genieße. Mein Tagebuch verändert sich. Ich schreibe jetzt nicht mehr einfach so vor mich hin. Ich schreibe jetzt für Merlin. Und für alle anderen, die durch die Hölle gehen mussten oder noch müssen.

Sanft lehrt Alessandro mich fühlen. Nicht nur das offensichtliche Fühlen mit dem Tastsinn. Ich nehme zum Beispiel mit geschlossenen Augen ein Wollknäuel in die Hand und weiß, dass es ein Wollknäuel ist. Auch beim Hören, Riechen, Schmecken gibt es grundsätzlich Bekanntes und Feinheiten, die mir so noch nicht bewusst waren. Ich fange jetzt an, auf mich selbst zu achten. Ist mir warm oder kalt? Bin ich wach oder müde? Bin ich neugierig oder gelangweilt? Was für Bedürfnisse habe ich? Ruhe, Sicherheit, Gemeinschaft, Beschäftigung fürs Hirn, Nahrung. Wir definieren Dinge wie Freiheit, Frieden, Wahrheit oder Glück.
Alessandro und ich reden über einfach alles. Nur über eines nicht - das Labor und irgendwelche Chancen, daran irgendetwas zu ändern. Solange mein Beinbruch nicht abgeheilt ist, rühren wir nicht an die Frage, wie es danach für mich oder ihn oder uns weiter gehen könnte.

Dann kommt der Dezember und das, was mein Gastgeber "Advent" nennt. Unsere Gespräche wenden sich den Religionen und der einen Religion zu, der er anhängt, dem Christentum. Sterne, Kerzen, Kugeln und Stroh tauchen auf - Alessandro gibt mir Einblicke in christliche Symbolik. Kekse werden selbst gebacken. Er lässt kleine Figuren mit einem Esel auf einer Kommode entlang wandern. Ich dachte immer, Puppen seien was für Kinder, aber ihm ist es ganz wichtig, dass er die "Weihnachtsgeschichte" in seinem Wohnzimmer lebendig werden lässt.

Viel wichtiger für mich sind solche Fragen wie: Liebt dieser Gott auch solche künstlich geschaffenen Wesen wie mich? Warum lässt er dieses Leid zu? Wie kann man seinen eigenen Sohn opfern? Für einen Haufen verblendeter Idioten, die sowieso nichts kapieren? Die dabei transportierten Ideale und Wertvorstellungen dagegen faszinieren mich, denn sie korrespondieren so sehr mit meinen neu entdeckten Grundbedürfnissen, Gefühlen und Träumen - es ist erstaunlich, dass den Menschen schon seit weit über 2000 Jahren ein gutes und eigentlich tragfähiges ethisches Gedankengebäude zur Verfügung steht. Und sie schaffen es immer und immer wieder, das schlechteste in sich nach außen zu kehren.

Ich werde immer neugieriger auf diese Welt da draußen. Ich frage mich, ob es noch mehr Menschen wie Alessandro gibt. Ob es vielleicht sogar einen Ort auf dieser Welt gibt, wo diese Ethik noch die Macht hat, die Menschen zu diesem Guten zu befähigen. Und schließlich werde ich unruhig und ungeduldig.

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14.4.2022

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