7. Kapitel
Ich sah in zwölf neugierig aufgerissene Augenpaare.
Die Musik dröhnte mir in den Ohren und ich versuchte mich an die nächsten Tanzschritte zu erinnern, die ich den Kindern zeigen wollte.
Mittlerweile war eine halbe Stunde vergangen, in der ich schon gut ins Schwitzen gekommen war.
Kurz bevor die Kinder von dem Kindergeburtstag gekommen waren, hatte ich mir schnell ein rotes Top, eine Jogginghose, sowie Turnschuhe angezogen. Als die Kinder da waren, haben wir kurz eine kleine Kennenlern-Runde gemacht und dann durfte sich Lene, das Geburtstagskind ihr Lieblingslied aussuchen, zu dem ich dann eine Choreografie improvisieren musste.
Mit den Aufzeichnungen von meiner Kollegin konnte ich nämlich leider nicht viel anfangen, da sie zwar eine komplette Choreografie ausgearbeitet, aber nicht das dazu passende Lied aufgeschrieben hatte.
"3-2-1", kündigte ich die nächste Stelle an und hob meine Augenbrauen, um auch wirklich die Aufmerksamkeit der Kinder zu haben. Sie waren tatsächlich in Mias Alter und hatten glücklicherweise alle Spaß daran zu tanzen. Ich machte einen Schritt nach rechts und die Kinder machten es mir nach. Die Musik beflügelte mich und ich machte Tanzschritte, die die Kinder mir leicht nachmachen konnten, die aber trotzdem gut aussahen.
Schon eine viertel Stunde später, waren die Kinder genauso verschwitzt wie ich, aber wir waren alle zufrieden mit uns. Ich ging zu der Musikanlage herüber und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr.
"Noch einmal von vorne und dann machen wir eine Pause, oder?", fragte ich in die Runde, als ich mich zu der Kinderhorde umdrehte.
"Jaaa!", riefen sie sofort begeistert, weil Kuchen auf sie wartete. Ich lachte und machte die Musik wieder an. Schnell lief ich zurück auf meinen Platz, damit die Kinder die Schritte wieder bei mir abgucken und nachmachen konnten. Ich freute mich, als ich sah, dass sie es echt gut hinbekamen.
"Ja super!", rief ich über die Musik hinweg und klatschte in meine Hände, was ihnen ein stolzes Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich machte die Musik wieder aus. "Und jetzt heißt es..."
"Kuchen!", beendeten sie schreiend meinen Satz und stürmten auf den großen Tisch zu, auf dem in der Mitte in großer Schokoladenkuchen mit vielen bunten Streuseln lag.
Ich folgte ihnen und überlegte schon, wo sich in der Abstellkammer genau der Besen befand, da es jetzt wortwörtlich eine Kuchenschlacht werden würde. Ich packte die Pappteller aus und war gerade dabei, die Kuchenstücke zu verteilen, als meine Chefin den großen Tanzsaal betrat.
"Na, ihr habt aber Spaß", meinte sie lachend an die Kinder gerichtet, die sofort nickten. Sie kam auf mich zu und sah mich leicht fragend an. "Da hat jemand einen Brief für dich abgegeben", teilte sie mir mit gerunzelter Stirn mit und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
"Okay, danke. Ich gucke gleich." Sie nickte und trat wieder einen Schritt zurück.
"Ich bin im kleinen Saal bei dem Tanzkurs, falls du mich suchst", rief sie mir noch über die Schulter hinweg zu und verließ den Saal. Seufzend sah ich die leere Tür an, durch die sie verschwunden war.
Es hatte noch nie jemand hier einen Brief für mich abgegeben, schließlich wusste eigentlich niemand, dass ich hier überhaupt arbeitete. Ich war nur die Aushilfe. Aber warum kam jetzt ein Brief?
Ich schluckte, als ich daran dachte, dass in dem letzten Brief, den ich bekommen hatte, ein Bild von Mia drin gewesen war. Allein schon bei dem Gedanken an dieses Bild wurde mir schlecht.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch starrte ich auf den Pappteller in meiner Hand. Die Kinder quatschten unbeirrt weiter, aber meine gute Laune war verschwunden.
Vielleicht war es auch nur Werbung oder so und kein neuer Brief von Mias Entführer. Der Pappteller in meiner Hand fing an zu zittern. Schnell klatschte ich das nächste Kuchenstück darauf und stellte es einem Kind hin, welches noch kein Stück bekommen hatte. Ich verteilte den Rest und entschuldigte mich bei den Kindern.
Ich musste einfach wissen, was es für ein Brief war. Zügig verließ ich den Tanzsaal und nahm den Brief in der Hand, der auf dem Tresen lag.
Durch die Glastür konnte ich die Kinder sehen, sodass ich sie in gewisser Weise immer noch beaufsichtige.
Auf dem Briefumschlag stand wieder nur mein Name, keine Adresse, keine Briefmarke. Auch er wurde wieder persönlich abgegeben.
Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Brief. Auf den ersten Blick war er leer, aber als ich ihn auf den Kopf hielt und schüttelte, fiel ein kleiner abgerissener Zettel heraus.
"Keine Polizei, d" stand mit einer krakeligen Schrift darauf. Das dritte Wort war in der Mitte durchgerissen. Es schien ein ganzer Satz gewesen zu sein, allerdings enthielt mein Brief nur den ersten Teil.
Aber ich wusste trotzdem sofort, von wem er war. Kraftlos lehnte ich mich gegen den Tresen. Der Entführer hatte gemerkt, dass wir zur Polizei gegangen waren. Ich hatte schon von Anfang an die Befürchtung gehabt, dass das keine gute Idee war, aber mit sowas hatte ich dann doch nicht gerechnet. Wie der Satz wohl endete?
Die kleine Klingel über der Tür leutete und ich zuckte erschrocken zusammen.
"Ich bins nur", sagte Tilo, aber ich fuhr trotzdem alarmiert zu ihm herum. Er war allein gekommen.
Ich achtete nicht darauf, was für Klamotten er anhatte, sondern nur auf den weißen Briefumschlag in seiner Hand. Mit schnellen Schritten kam er zu mir und holte einen kleinen Zettel aus dem Umschlag. Er legte ihn hinter meinen und ich erstarrte.
"Keine Polizei, das wird Konsequenzen haben!"
Tilo fluchte, ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Der Kinderlärm wurde immer lauter, langsam wurden sie übermütig, aber ich konnte nicht zu ihnen reingehen.
"Wo hast du den her?", fragte Tilo mich mit einer recht ruhigen Stimme und ich sah in aus weit aufgerissenen Augen an.
"Der wurde hier abgegeben", antwortete ich stockend und er schlug wütend mit der Faust auf den Tresen. Ich zuckte zusammen und konnte ihn nur erschrocken anstarren.
"Dann weiß er, wo du arbeitest und auch, wo wir wohnen", erklärte er mir und sah mir dabei fest in die Augen. Ich stand wie gelähmt da, im Tanzsaal zersprang ein Glas, aber das realisierte ich gar nicht so wirklich.
Ich hatte mich heute Morgen auf dem Weg zur Tanzschule die ganze Zeit beobachtet gefühlt. Es war anscheinend nicht nur ein Gefühl gewesen, sondern eine Tatsache. Ich war die ganze Zeit beobachtet worden.
Mit wackeligen Beinen lief ich zum nächsten Stuhl, den ich fand und ließ mich kraftlos darauf fallen.
Was wollte dieser Kerl von uns? Was hatten wir getan, dass er uns beobachtete, mir nachspionierte? Würde er wieder kommen?
Natürlich würde er das. Er würde nicht aufgeben. Aber warum?
Ich bekam Angst, dass er heute noch einmal hierherkommen würde. Panisch sah ich zu Tilo hoch.
"Ich bleibe hier", beruhigte er mich und ich seufzte erleichtert auf. Dann war ich wenigstens nicht mehr allein.
Ein lautes Lachen aus dem Tanzsaal ließ mir die Haare zu Berge stehen. Ich wusste nicht, was die Kinder da drinnen trieben, aber sie schienen es unheimlich lustig zu finden.
Von meinem Sitzplatz aus, konnte ich nicht mehr in den Tanzsaal hineinsehen, schaffte es aber auch nicht, wieder aufzustehen.
Tilo fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, rang mit sich, traf nach einem skeptischen Blick auf mich aber eine Entscheidung.
Mit energischen Schritten ging er auf die Tür zu, nachdem er sich etwas gesammelt hatte und betrat den Tanzsaal.
"Na, wer von euch ist denn das glückliche Geburtstagskind?", fragte er mit lauter Stimme in die Runde und sofort herrschte für einen kurzen Moment Ruhe.
Er unterhielt sich weiter mit den Kindern und behielt sie so unter Kontrolle, während ich versuchte, meine Fassung wieder zu gewinnen. An seiner belegten Stimme konnte ich hören, wie schwer es ihm fiel, sich vor den Kindern nichts anmerken zu lassen.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand hinter mir und starrte nach oben an die Decke. Das komische Gefühl verschwand nicht, ich fühlte mich nicht beobachtet, aber dennoch unsicher.
Der Kerl wusste, wo wir wohnten und jetzt auch, wo ich arbeitete.
Auf wen von uns hatte er es abgesehen? Auf mich, wie ich anfangs wegen dem ersten Brief dachte, oder doch auf Tilo?
Schließlich hatte Tilo die andere Hälfte der Nachricht erhalten.
Was wollte dieser Kerl damit bezwecken? Wollte er uns nur Angst einjagen? Würde er Mia als Druckmittel benutzen? Aber als Druckmittel wofür?
Mir gingen lauter Fragen durch den Kopf, auf die ich aber keine Antwort fand. Das entmutigte mich sichtlich und ich schloss deprimiert meine Augen.
"Wollt ihr mir einmal zeigen, was ihr heute schon alles gelernt habt?", hörte ich Tilos Stimme sehr nah und schaute zu der Tür. Er streckte gehetzt und leicht hilflos seinen Kopf heraus.
"Ich komme sofort", teilte ich ihm mit und er sah mich dankbar an. Die Kinder schienen ihn langsam zu überfordern. Das konnte ich sehr gut nachvollziehen, mich überforderten sie gerade auch. Aber ich konnte ihn nicht länger alleine mit ihnen lassen. Ich erhob mich langsam und schlurfte zur Tür herüber.
Die Kinder hatten sich so aufgestellt, wie ich es ihnen gezeigt hatte. Tilo schaffte es, die Musik zu starten und sah dann die Kinder neugierig an.
Ihm hingen verschwitzt ein paar Haarsträhnen in die Stirn und er warf mir einen müden Blick zu.
Die Kinder bekamen es nicht mit, sondern warteten die ersten paar Takte ab und fingen dann an zu tanzen. Ich lehnte mich mit verschränkten Armen in den Türrahmen und sah ihnen von hinten dabei zu.
Tilo fing meinen Blick auf und grinste mich leicht an. Er hatte seine Jacke ausgezogen und über eine Stuhllehne gehängt. Der Tisch, an dem sie Kuchen gegessen hatten, sah schrecklich aus, überall lagen Krümel herum, die Pappteller waren zerknüllt und die Servietten ebenfalls. Ich erinnerte mich dumpf daran, ein Glas klirren gehört zu haben, sah aber keine Scherben auf dem Boden. Das jagte mir in der ersten Sekunde einen riesigen Schrecken ein, dann aber fand ich die Überreste des Glases neben mir im Mülleimer.
"Da hat euch Mary aber schon viel beigebracht", lobte Tilo die Kinder, als das Lied zu Ende war und sah mich dann erwartungsvoll an. Ich löste mich von meinem Türrahmen und ging zu ihm nach vorne.
Tilo sah überglücklich aus, nicht mehr mit den Kindern allein zu sein und ich musste leicht lachen. Als ich vorne angekommen war, drehte ich mich zu den Kindern um.
Sie sahen mich wieder erwartungsvoll an, mit diesen großen, runden Augen. Ihre Münder waren dreckig und voller Schokolade, aber sie waren glücklich. Und das sollten sie auch bleiben. Ich musste es schaffen, den Geburtstag für sie schön zu beenden, auch wenn ich mit den Gedanken ganz woanders war und mich am liebsten in meinem Bett verkrochen hätte. Ich spürte den Druck, der auf mir lastete.
"Wir schaffen das", sagte Tilo zuversichtlich und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich sah ihn an und hätte ihn am liebsten an Ort und Stelle abgeknutscht, ließ es aber bleiben, da ich mir der Blicke der Kinder deutlich bewusst war.
Ich wusste nicht, was genau er meinte. Den Geburtstag oder die ganze Sache mit Mias Entführung. Aber ich war mir sicher, dass wir es irgendwie schaffen würden.
Schließlich waren wir nicht allein, sondern hatten uns.
Zusammen könnten wir es wirklich schaffen.
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