24. Kapitel
Irritiert starrte ich Tilo an. Hatte er mich das gerade wirklich gefragt? Hatte er gefragt, ob ich zu meiner Mum wollte?
Lebte sie also noch?
Sofort breitete sich Hoffnung in mir aus. Die traurigen Gedanken und mein schlechtes Gewissen verblassten langsam. Das wäre die zweite wunderbare Nachricht, die ich hier in dem Krankenhaus hören würde. Es war unwirklich, das sie den Unfall, welchen sie selbst provozierte, überlebt hatte. An diese Möglichkeit hatte ich wirklich nie gedacht, ich hatte nie in Betracht gezogen, dass sie noch lebte. Zwar schwer verletzt, aber nicht tot. Für mich hatte dieser Unfall direkt bedeutet, sie für immer verloren zu haben.
"Meine... Meine Mum? Ist sie... Lebt sie noch?", hörte ich mich stotternd fragen. Meine Stimme klang in meinen Ohren fremd für mich, aber die Bedeutung der Worte waren das Wichtigste. Tilo verstand mich und nickte. "Ja, sie liegt hier auf der Intensivstation", erklärte er mir. Ich schluckte hart. Intensivstation. Das hörte sich wirklich nicht gut an.
Sanft spürte ich, wie Tilo seine Hand an meine Wange legte. "Sie wird es schaffen. Sie liegt nur noch zur Beobachtung da. Sie ist über den Berg", beruhigte er mich und ich atmete erleichtert auf. Dann nickte ich leicht. "Ja... Natürlich will ich noch zu ihr", beantwortete ich dann seine Frage, obwohl er die Antwort schon lange kannte. Leicht lächelte er mich an und griff dann nach meiner Hand.
"Nehmt ihr euch dann ein Taxi?", fragte Mike, dessen Anwesenheit ich kurzzeitig ganz vergessen hatte.
"Wir kommen schon nach Hause", sagte Tilo und die Erleichterung darüber, endlich Feierabend machen zu können, bereitete sich auf dem Gesicht des Polizisten aus.
Tilo streckte ihm seine freie Hand hin und Mike ergriff sie reflexartig und schüttelte sie höflich. Erst dann konnte ich in seinem Gesicht die Verwirrung darüber erkennen und er sah Tilo fragend, mit hochgezogen Augenbrauen an.
"Danke für deine Hilfe", sagte Tilo dann ehrlich und lieferte Mike somit eine Erklärung für den Handschlag. Mike nickte leicht und drückte noch einmal Tilos Hand. "Nicht dafür...ich hab dir doch versprochen gehabt, dass wir sie da wieder raus bekommen", spielte er sein Mitwirken bei der spontanen Rettungsaktion nach meinem Ausbruch herunter. Wirklich typisch Mike.
"Trotzdem", beharrte Tilo und ließ ihn dann wieder los. Mike nickte ihm noch einmal kurz zu, dann schaute er zu mir herüber. Ich schaute ihn mit großen Augen an.
Es fühlte sich komisch an, sich nun von ihm zu verabschieden. Seit den ersten Morden und den Hinweisen, die ihn erst zu uns und dann zu dem Mörder geführt hatten, hatte er eine zentrale Rolle in meinem Leben gespielt. Ohne ihn würde ich nicht mehr hier stehen. Ohne ihn wäre meine Flucht sinnlos gewesen, ohne den Hinterhalt, den er für Drews Männer geplant hatte, wären diese noch immer frei und würden weiter Drews Befehle ausführen. Mike spielte eine ganz große Rolle in meinem Leben.
Er hatte mitgeholfen, mir die Freiheit zurück zu schenken. Deswegen war ein einfaches Händeschütteln nicht gut genug, um ihm meine Dankbarkeit zu zeigen.
Zwar wusste ich, dass wir uns später bestimmt noch einmal auf dem Polizeirevier sehen würden, oder während der Verhandlung von Drew. Aber dann wären wir nie alleine, er würde Kollegen um sich herum stehen haben und den harten Polizisten spielen, der er eigentlich gar nicht war.
Deswegen ließ ich Tilo los, überwand die kurze Distanz zwischen Mike und mir und nahm ihn in den Arm. Ich konnte spüren, wie er sich kurz überrascht versteifte, aber dann legte er auch seine Arme um mich.
"Ich bin wirklich stolz auf dich... Ich glaube, das hätte kaum jemand anderes so tapfer durchgestanden wie du", flüsterte er leise und mit rauer Stimme.
"Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft", widersprach ich ihm und löste mich soweit von ihm, dass ich ihn ansehen konnte.
"Du hast mir mein Leben zurück gegeben, danke", sagte ich leise und konnte die Rührung in seinen Augen erkennen. Diese waren umrandet von leichten Falten, auch seine Stirn und die Mundwinkel zierten welche. Leichte graue Strähnen durchzogen sein Haar. Dieser Mann hatte schon einiges erlebt, schon einige Fälle hinter sich gebracht. Aber dieser Fall, hatte ihn persönlich an seine Grenzen gebracht.
"Dafür musst du dich nicht bei mir bedanken", sagte er ehrlich und schien sich dann der Nähe zwischen uns bewusst zu werden. Über sich selbst verwundert, schob er mich zu Tilo zurück und stellte die professionelle Distanz wieder her.
"Wir sehen uns", sagte er dann mit fester Stimme und suchte seine Sachen zusammen. Da ich mich nicht von der Stelle bewegte, schaute er nochmal zu mir herüber. "Jetzt geh schon. Deine Mum wartet auf dich", wies er mich dann mit strenger Stimme zurecht und ich grinste ihn an.
Kurz erwiderte er das Grinsen, dann drehte er sich um und lief den Gang hinunter. In Richtung wohlverdientem Feierabend und vermutlich auch seinem Bett.
Ich drehte ihm auch den Rücken zu und griff wieder nach Tilos Hand. Dieser schaute mich liebevoll an und führte mich dann durch ein Labyrinth an leeren Gängen durch das Krankenhaus. In mir bereitete sich mit jedem Schritt, den ich zurück legte, ein bisschen mehr Nervosität aus. Schließlich hatte ich meine Mutter lange nicht gesehen und wusste auch nicht wirklich, wie es ihr ging.
Aber ich freute mich wirklich sehr darüber, das sie noch lebte und das ich sie bald in meine Arme schließen konnte. Außerdem freute ich mich irgendwie auf ihr Gesicht, wenn ich ihr irgendwann sagen konnte, dass sie bald Oma werden würde.
Tilo wurde in einem Gang langsamer, bis er vor einer Tür stehen blieb. Diese bestand in der Mitte hauptsächlich aus Glas, sodass ich direkt hinein schauen konnte. Kurz musste ich mich orientieren.
Rechts stand ein Bett, die Person die darin lag, war auf den ersten Blick schwer zu erkennen. Kabel führten von ihrem Körper zu Überwachungsmonitoren, um ihren Kopf hatte sie einen dicken Verband.
Sanft legte Tilo mir seine Hände von hinten auf die Schultern. "Ich weiß, es sieht schlimm aus..."
Diese Aussage bestätigte ich mit einem Nicken. Es war fast noch untertrieben. Und es tat weh, sie so da liegen zu sehen. So hilflos und auf die Hilfe von anderen angewiesen. Aber das kannte sie. Schließlich war sie sonst immer die Person, die kranken Menschen half. Und das würde sie bald bestimmt auch wieder tun können.
"Du kannst zu ihr rein gehen, wenn du möchtest", teilte mir Tilo mit und ich nickte leicht. Dann legte ich meine Hand auf den Türgriff und schob die breite Schiebetür an die Seite. Sofort hörte ich das Piepen der Geräte. Sie klangen gleichmäßig, die Linien auf den Monitoren zeichneten ihren Herzschlag auf.
Bei genauerem Hinsehen, konnte ich unter dem Verband ihre langen braunen Haare hervor gucken sehen. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Das war wirklich meine Mum. Und die Geräte bestätigten, dass sie noch am Leben war.
"Geh alleine rein, ich warte hier", flüsterte Tilo neben mir und ich wandte mein Gesicht zu ihm. Versank kurz in seinen schönen, grünen Augen und nickte. "Danke", sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Dann wandte ich mich wieder von ihm ab und sah zu meiner Mum. Uns trennten nur wenige Meter. Kurz zuckte ich zusammen, als sie sich bewegte. Beruhigend drückte Tilo meine Schulter und ich lächelte. Bei ihm fühlte ich mich wirklich sicher und geborgen.
Tief atmete ich durch und schloss dann meine Augen. Ich würde nun zu meiner Mum gehen können. Sie vielleicht sogar berühren können. Etwas, was ich bis vor ein paar Minuten noch für unmöglich hielt. Aber ich hatte die Chance bekommen, es noch einmal zu tun. Sie noch nicht zu verlieren, sondern noch weitere, schöne Jahre mit ihr verbringen zu können. Sie in meiner Nähe zu wissen und zu ihr gehen zu können, wenn ich einmal nicht weiter wusste.
Es war wirklich ein Geschenk. Genauso wie das neue Leben, was ich in mir trug.
Es gab also doch noch jemanden, der für etwas Gutes sorgte. Ich hatte diese Hoffnung aufgegeben gehabt, doch dieser Tag zeigte mir, dass nicht alles verloren war. Es gab noch etwas Gutes, etwas, was dafür sorgte, dass man nicht ganz zerbrach.
Das einem nach einer schweren Zeit wieder Hoffnung schenkte.
Dieser Gedanke hatte wirklich etwas beruhigendes, mächtiges an sich.
Langsam öffnete ich meine Augen wieder und sah zu meiner Mum herüber. Genau in dem Moment sah ich, wie sie langsam ihre Augen öffnete. So, als ob sie meine Anwesenheit in ihrem Unterbewusstsein bemerkt hatte. Kurz sah sie sich orientierungslos um, dann fand sie mich in der Tür stehen.
Ich zögerte kurz, doch dann betrat ich ihr Zimmer. Langsam lief ich zu ihrem Bett herüber. Mit ihren braunen Augen, die meinen so sehr ähnelten, verfolgte sie jeden meiner Schritte, ein sanftes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.
Vor ihrem Bett blieb ich stehen. "Mum", sagte ich überwältigt und nahm ihre Hand in meine, welche sie mir entgegen streckte. Berührte ihre warme Haut, die sich so vertraut anfühlte.
Tränen der Erleichterung und des Glücks liefen mir die Wangen herunter. Ich setzte mich auf die Bettkante, darauf bedacht, ihr nicht weh zu tun. Leider war sie noch zu geschwächt, um mir antworten zu können. Aber das war mir egal. Sie war da, ich konnte sie anfassen. Das war die Hauptsache.
Vorsichtig legte ich meine Arme so gut es ging um sie und legte mich auf sie. Mit einer Wange an ihrer Brust, atmete ich ihren vertrauten Geruch ein. Dieser erinnerte mich an meine Kindheit, als ich oft so auf ihr gelegen hatte, als es mir schlecht ging.
Wie früher, strich sie mir sanft durch die Haare. Zeigte mir, dass sie für mich da war. Das nicht alles schlecht war, dass noch einiges Gute aus der Vergangenheit geblieben war.
Als ich die Augen öffnete, sah ich geradewegs zur Tür und in Tilos Augen. Liebevoll und stolz schaute er zu mir herüber. Leicht musste ich lächeln, als ich das Bild von seiner Tochter wieder in seinen Händen sah.
Auch wenn ich es eine Zeit lang wirklich nicht mehr für möglich hielt, hatte diese ganze Geschichte doch ein gutes Ende für mich gefunden.
Ich war umgeben von den Menschen, die ich liebte. Ich würde nie wieder alleine sein. Sie würden immer auf mich aufpassen.
Es war nun wirklich vorbei.
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