6 | Essen unter Freunden
»Die gleiche Zeit, die es dauert, über die Vergangenheit zu trauern,
hat man zur Verfügung, um die Zukunft zu gestalten.«
LEVI
Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Es war nicht mein Plan einen Rückzieher zu machen und doch habe ich mich selbst gefriendzoned. Ich glaube, das ist das Wort, das mein Neffe nutzen würde, aber ich bin mir nicht sicher.
»Scheiße!«, rufe ich aus und lasse mich auf das Sofa fallen, ehe ich mich nach hinten lehne. Meine Augen sind geschlossen, während ich unser Gespräch nochmals durchgehe. Und bei jedem weiteren Wort, das gesagt wurde, zucke ich zusammen.
Was für ein Vollidiot ich doch bin!
Aber was wäre passiert, wenn ich standgehalten hätte? Für einen kleinen Moment habe ich in ihren Augen den Fluchtinstinkt gesehen. Er war nur eine Sekunde da und wenn ich Olivia nicht intensiv angesehen hätte, wäre es mir entgangen. Und genau dieser Blick hat mich zum Rückzug gezwungen.
Verdammte Scheiße!
Dann bin ich halt ihr Freund.
Was für ein beschissenes Wort.
Ein Knurren entweicht meinen Lippen, sobald ich nur an dieses blöde Wort denke!
Aber wenn es das ist, was sie im Moment will, dann akzeptiere ich das. Was bleibt mir anderes übrig? Ich will diese Frau kennenlernen und mit der Zeit werden wir sehen, was sich daraus ergibt. Das hoffe ich zumindest. Aber wenn ich es nicht versuche, werde ich das definitiv bereuen.
Ich will dieser Frau nahe sein, für sie da sein. Und ich kann dieses Gefühl nicht abschalten. Diese leere in ihren Augen, die sie versucht zu verbergen, ist präsenter denn je. Ein Wunder, dass es von ihren Freunden niemand bemerkt hat. Oder sehen sie es und lassen sie einfach in Ruhe?
So viele Fragen auf die ich keine Antwort habe. Sie ist wie ein Puzzle, während ich die falschen Teile in den Händen halte. Einfach nur verwirrend und doch extrem faszinierend.
Das Klingeln meines Smartphones reißt mich aus den Gedanken. Blinzelnd krame ich es hervor und richte mich sofort auf, als ich den Namen auf dem Bildschirm lese.
Olivia ruft mich an? Wirklich?
Ohne weiteres gehe ich ran. Mein Herz fängt an schneller zu schlagen, während sich meine Lippen zu einem Lächeln formen.
»Hallo?«
»Levi! Störe ich gerade?« Ihre Stimme klingt aufgeregt, was meine Alarmglocken aufleuchten lässt.
Verwirrt runzle ich die Stirn. »Nein. Ist was passiert? Alles in Ordnung?«
Leise lacht sie auf und dieser Klang lässt mich innehalten. Es ist das erste Mal, dass ich diesen Laut aus ihrem Mund höre. Er klingt wunderschön. Wieso lacht sie nicht öfters?
»Ich rufe nicht den Detektiv an, sondern meinen Freund. Ich wollte mich nochmals bei dir bedanken und dich zum Essen einladen.«
Mein Mund öffnet sich überrascht, als ihre Worte zu mir durchdringen. Zum Essen? Wie ein Date, aber ohne diesen Titel?
»Ich würde gerne mit dir essen gehen, Olivia. Und du weißt, dass du mir nichts schuldig bist.«
Trotzdem lehne ich nicht ab. Ich nehme, was ich kriegen kann. Ist das bescheuert? Vielleicht. Werde ich meine Meinung deswegen ändern? Auf keinen Fall. Ich hoffe jedoch, dass sie nicht merkt, wie sehr ich mich darüber freue. Aber eigentlich ist das doch egal, oder? Freunde tun sowas. Sich aufeinander freuen.
»Ich weiß. Aber meine Eltern haben mich gut erzogen, also lass mich bitte.«
»Okay, soll ich dich in einer Stunde abholen?«, antworte ich, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen habe.
»Das wäre toll. Bis dann, Levi!«
»Bis gleich.«
Die Verbindung kappt und ich starre einen Moment lang mein Handy an, ehe ich zügig aufstehe. Ich muss mich anziehen. In einer Jogginghose bekleidet aufzutauchen, wäre keine gute Idee. Außerdem wäre es nicht schlecht kurz unter die Dusche zu hüpfen.
Sobald ich aus dem Badezimmer komme, ziehe ich mich schnell an. Im Vorbeigehen blicke kurz in den Spiegel, um meine Haare zu richten, bevor ich mir meine Schlüssel schnappe und das Haus verlasse.
Der Himmel ist noch immer bewölkt. Es regnet nicht mehr, aber sicherheitshalber vergewissere ich mich, dass ich einen Schirm im Auto habe. Nach ihrer Reaktion zu urteilen, wird sie nicht zu mir in den Wagen steigen. Was wohl der Grund dafür ist? Ein Autounfall vielleicht? Ob sie es mir irgendwann erzählen wird? Keine Ahnung, aber ich hoffe es. Es wäre schön, wenn sich Olivia ein wenig öffnen würde.
Nach zwanzig Minuten parke ich meinen Jeep und atme tief durch. Mein Herz hämmert stark gegen meine Brust und ich fühle, wie sich eine innere Aufregung in mir breit macht.
Fuck! So habe ich mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt.
Ich versuche nicht viel in dieses Treffen hineinzuinterpretieren, aber leider interessiert das mein Herz nicht allzu sehr. Viel mehr spüre ich, wie ich mich danach sehne, sie wiederzusehen.
Was hat Olivia nur mit mir gemacht?
Scheiß darauf! Auch wenn ich verletzt werden könnte, möchte ich es versuchen. Vielleicht wird sie irgendwann dasselbe fühlen. Fuck! Ich bin so verwirrt, als wäre ich noch in der Highschool.
Ohne weiter darüber nachzudenken, öffne ich die Tür und die kalte Luft begrüßt mich wie ein Schneesturm. Es wird nicht mehr lange dauern, ehe sich die Straßen in ein Winterwunderland verwandeln. Schnell wickle ich den Schal um meinen Hals und steige aus dem Wagen. Der Wind lässt meinen Körper zittern.
Mit einem kurzen Blick prüfe ich die Uhrzeit und sehe, dass ich eine Viertelstunde zu früh dran bin. Schnell laufe ich die Treppen hoch. Auf keinen Fall werde ich draußen auf sie warten. Ich habe das Gefühl, dass ich bald zu einem Eiszapfen mutieren werde und darauf kann ich gerne verzichten.
Einige Sekunden nach dem ich geklingelt habe, summt der Türöffner und ich trete in das Gebäude ein. Wie beim letztem Mal nehme ich die Treppe in das zweite Stockwerk. Olivias Tür ist bereits offen und vorsichtig klopfe ich an, ehe ich langsam eintrete.
»Olivia?«, rufe ich aus und signalisiere ihr, dass ich da bin. Sie würde es sicher nicht gut aufnehmen, wenn ich einfach hereinkomme, nachdem hier eingebrochen wurde.
»In der Küche. Komm rein.«
Gekonnt ziehe ich meine Schuhe aus, schließe die Tür hinter mir und marschiere in die Küche. Im Vorbeigehen bemerke ich, dass sie ziemlich viel ersetzt hat. Neue Bilder hängen an den Wänden, blaue Zierkissen schmücken das Sofa und auch die Bilder haben wieder einen Rahmen. Als ich vor Wochen hier war, habe ich sie mir angesehen. Darauf sieht Olivia glücklich aus. Das breite Lächeln auf dem Foto mit ihren Eltern und einem jüngeren Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr ausweist, habe ich noch nie an ihr gesehen. Es ist, als wäre das jemand anderes, wenn ich an diese Leere denke, die ich jederzeit in ihren Augen erkennen kann.
Irgendwas muss in der Zwischenzeit passiert sein. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht neugierig bin.
Außerdem sieht es hier richtig sauber aus. Keine Ahnung, wann der Boden bei mir das letzte Mal so sehr geglänzt hat. Und ich führe einen ziemlich sauberen Haushalt.
»Olivia?«, rufe ich erneut, als ich dumpfe Geräusche vernehmen.
Ihr Kopf erscheint im Türrahmen mit einem kleinen Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. »Du bist früh dran«, merkt sie an und verschwindet wieder.
Leise folge ich ihr. »Tut mir leid. Ich habe um diese Zeit mit mehr Verkehr gerechnet.« Das ist nicht einmal ganz gelogen, aber lieber halte ich den Ball flach. Nicht, dass ihr Fluchtinstinkt wieder aktiviert wird.
Olivia nickt. Ihre Haare sind in einem unordentlichen Dutt gebunden. Einige Strähnen haben sich gelöst und lassen sie jünger erscheinen. Eine quietschgelbe Kochschürze um ihren Körper gewickelt, während sie in einem Topf rührt und konzentriert ihre Augenbrauen zusammenzieht.
Der Duft des Essens strömt durch meine Nase und lässt mich für einen Augenblick die Augen schließen, ehe ich sie wieder aufreiße. »Ich dachte, wir gehen essen?« In ein Restaurant schiebe ich noch gedanklich hinterher.
»Ein gekochtes Essen ist irgendwie persönlicher und da ich immer alle Zutaten für Past Alfredo in der Küche habe …« sie zuckt mit den Schultern und lächelt mich schüchtern an. »Außer du möchtest lieber woanders essen, da du meinen Kochkünsten nicht traust?«
Kapitulierend hebe ich meine Hände und schüttle mit dem Kopf. »Auf keinen Fall. Es riecht himmlisch, Olivia.«
»Das war die richtige Antwort«, sagt sie und zeigt mit dem Kochlöffel in meine Richtung. »Wein ist im Kühlschrank, wenn du aber etwas anderes möchtest, bedien dich, Levi und fühl dich wie zu Hause.«
Ihre Augen funkeln leicht als sie mit dem Holzlöffel hinter sich zeigt. Sofort mache ich mich an die Arbeit und suche zwei Weingläser. Dabei zucken meine Lippen, ehe sich ein glückliches Lächeln bildet.
Mir gefällt die Idee Zeit mit ihr allein zu verbringen, ohne einen Kellner, der uns unterbrechen könnte. Das fühlt sich irgendwie viel intimer an.
Tatsächlich könnte das sehr interessant werden.
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