5 | nach Hause bringen
„Einem Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet, kann man leicht verzeihen; die wahre Tragödie des Lebens ist, wenn Menschen sich vor dem Licht fürchten.“
OLIVIA
In völliger Stille machen wir uns auf den Weg. Unsere Arme berühren sich, da wir so nah beieinander gehen, jedoch versucht keiner von uns eine Unterhaltung zu führen. Es wirkt so, als würde Levi darauf warten, dass ich den ersten Schritt mache. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was ich genau sagen sollte, traue ich meiner Stimme kein bisschen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mich vor diesem Mann im Stich lässt.
Zugegeben traue ich mir im Moment überhaupt nicht. Seit ich diesen Mann kennengelernt habe, spielt mein Verstand verrückt. Er kitzelt Reaktionen aus mir hervor, die ich eigentlich um jeden Preis vermeiden will und doch beruhigt mich seine Anwesenheit.
Einfach nur verrückt.
Außerdem ist diese Stille überraschenderweise nicht beängstigend. Viel mehr fühlt es sich angenehm an und seit langer Zeit umgibt mich ein Gefühl, dass ich lange nicht verspürt habe.
Ruhe.
Wie kann es sein, dass dieser Mann, den ich gar nicht kenne, mir ein solches Gefühl schenken kann? In all den Monaten, nach dem ich mich so danach gesehnt habe und es mir immer verwehrt wurde, taucht Levi aus dem Nichts auf und lässt mich Dinge fühlen.
Sogar einige Dinge, die ich nicht fühlen sollte. Gefühle, die ich nicht verdient habe.
»Danke«, murmle ich leise, als wir vor meiner Wohnung stehen.
»Soll ich dich nach oben begleiten? Die Tüte mit den Flaschen ist nicht gerade leicht.«
Wieder kein verurteilender Blick. Nur eine simple Tatsache.
Mit einem kleinen Lächeln überreiche ich ihm die Einkaufstasche. »Das wäre nett, danke.«
Schulterzuckend winkt er ab. Sobald die Eingangstür offen ist, schlüpft er ins Innere und beginnt bereits die Treppen hochzugehen. Ich habe ganz vergessen, dass er weiß, wo ich wohne. Mein Blick wandert zu seinem Hintern, der direkt vor meinen Augen ist, bevor ich ihn abwende. Kurz räuspere ich mich und versuche die Röte zu vertreiben, die unmittelbar aufgetaucht ist.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, frage ich nach, um meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.
Er wirft kurz einen Blick über seine Schulter, weshalb ich so schnell wie möglich auf die Treppen vor mir schaue. »Nein, aber ich hatte hier in der Nähe zu tun.«
»Ein neuer Fall?«, hake ich nach, bevor ich den Mund halten kann.
»Ja«, antwortet er schlicht, ohne etwas Weiteres hinzuzufügen.
Innerlich schlage ich mir auf die Stirn. Es ist doch klar, dass er mir nichts erzählen darf, nur hat das meine Neugier nicht interessiert. Ich beiße mir auf die Lippen, ehe ich noch mehr sagen kann. Katie würde mich in diesem Moment bestimmt auslachen, da ich mich so anstelle. Aber irgendwie bin ich nervös und je näher wir meiner Wohnung, desto höher steigt diese innere Aufregung.
Stillschweigend krame ich den Schlüssel aus der Tasche. Levi steht bereits vor meiner Tür und wartet. Die Einkaufstaschen in den Händen haltend, als würde es ihm nichts ausmachen. Ich wäre bis in die zweite Etage außer Puste, würde ich es tragen.
Unbeholfen öffne ich die Tür und trete ein. Ich lasse sie offen und gehe schnurstracks in die Küche. Levi folgt mir schweigsam, ehe er die Tüte auf dem Tresen abstellt. Er wippt mit den Füßen, die Hände in den Taschen.
»Äh, willst du etwas trinken?« Schnell öffne ich den Kühlschrank. »Cola, Eistee oder Wasser?«
»Eine Cola wäre toll, danke.«
Zügig hole ich zwei Gläser aus dem Schrank und reiche ihm eins, sobald es gefüllt ist.
»Vielen Dank, dass du mir geholfen hast, Levi.«
»Nicht der Rede wert, Olivia. Wie geht es dir?«
Hinter seine Frage steckt mehr. Ich kann es in seinen Augen sehen, die mich durchbohren und versuchen meine Mauern zu durchbrechen.
»Es ist komisch«, fange ich an und zucke mit den Schultern. »Die Wohnung sieht leer aus und irgendwie fühlt es sich falsch an hier zu sein.«
Meine Antwort überrascht mich. Eigentlich wollte ich nicht so viel preisgeben, aber Levi hat etwas an sich, das mich zu dieser Ehrlichkeit drängt. Ich will gar nicht wissen, wie viel ich ihm erzählen würde, wenn er die richtigen Fragen stellt.
Er nickt. »Das ist verständlich. Jemand war hier und hat sich Zutritt verschafft. Meinst du, du kannst irgendwann darüber hinwegsehen?«
Gerne würde ich mit Ja antworten, aber tief in meinem Inneren weiß ich, dass es nicht so ist. »Vielleicht. Mal sehen, ob es besser mit der Zeit wird.«
Wieder nickt Levi, ehe er sein Glas austrinkt und es in die Spüle legt. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen.«
Verwirrt ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe. Wir kennen uns nicht und doch bietet er mir Hilfe an?
»Warum?«, platzt es aus mir heraus.
Tief seufzt er auf. Habe ich mehr in dieses Angebot interpretiert? Vielleicht hat er es nur so daher gesagt und es nicht wirklich ernst gemeint.
»Darf ich ehrlich sein?«
»Nein, lüg mich bitte an.« Ich rolle mit den Augen. »Natürlich, solltest du ehrlich sein.«
Levi kommt mir einen Schritt näher und hebt eine Augenbraue. Sofort verstumme ich. Vielleicht hätte ich nichts sagen sollen, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Schmunzelnd schüttelt er den Kopf. Zum Glück nimmt er mir das nicht übel.
Der Moment verfliegt, als er mich nicht aus den Augen lässt. Intensiv schaut er mich an. Auch wenn ich am liebsten den Blick abwenden möchte, kann ich es nicht. Viel zu sehr zieht er mich in den Bann, sodass sich eine leichte Gänsehaut auf meinem Armen bildet.
Verdammt! Wie konnte sich die Situation so schnell ändern?
»Ich will dich kennenlernen, Olivia. Es wäre schön, wenn wir Zeit miteinander verbringen würden und aus irgendeinem Grund will ich für dich da sein.«
Seine Worte sickern langsam zu mir durch. Meine Augen weiten sich bei seinem Geständnis. Er will mich kennenlernen? Und was dann? Wenn er bemerkt, wie kaputt ich bin, wird er die Flucht ergreifen. Außerdem bin ich für eine Beziehung zu verkorkst.
»Ich verabrede mich nicht.«
»Das ist in Ordnung. Ich will dein Freund sein, Olivia. Verbring Zeit mit mir und wenn du dann denkst, dass du diese Freundschaft nicht möchtest, ziehe ich mich zurück.«
Freunde? Er will mit mir befreundet sein?
Zwar habe ich ihn in die Freundschaftsschiene manövriert. Nicht nur meinetwegen. Levi würde sich an mir verbrennen und das möchte ich nicht.
»Warum?«, wiederhole ich die Worte, da ich es nicht verstehe. Kein plausibler Grund fällt mir ein, weshalb er das will.
Sein Mundwinkel zuckt und langsam greift er nach meiner Hand und streicht mit seinem Daumen über meinen Handrücken. Eine sanfte Liebkosung, die meine Gänsehaut nur verstärkt.
Sollten Freunde solche Gefühle auslösen können? Ich denke nicht und dieser Gedanke lässt mich zögern. Was soll ich tun? Mich einfach in etwas hineinstürzen, von dem wir wissen, dass es nicht bei dem bleibt?
»Ich habe da so ein Gefühl und das werde ich nicht ignorieren. Es hat mich bisher nie im Stich gelassen. Also, was denkst du?«
Seine Augen funkeln mich an. Er kommt noch einen Schritt näher und greift auch nach meiner anderen Hand. Mein Atem stockt, als mein Körper registriert, wie Nahe wir uns stehen.
Verdammt. So sollte ich mich definitiv nicht bei einem Freund fühlen. Also was soll ich tun?
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, öffnet sich mein Mund und überrascht mich mit einer Antwort, mit der ich nicht gerechnet habe.
»Okay, wir können gerne Freunde sein.«
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