4 | Besorgungen
"Sorgen ertrinken nicht in Alkohol. Sie können schwimmen."
OLIVIA
Mit einem Zettel in der Hand schiebe ich den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarktes. Ich versuche dabei niemanden anzurempeln, auch wenn das schwieriger ist, als ich gedacht hätte. Was machen all diese Menschen an einem Dienstagabend hier? Haben sie nichts Besseres zu tun?
Meine Entschuldigung ist, dass ich direkt nach meinem Feierabend hierhergekommen bin. Und da ich nicht verhungern will, blieb mir nichts anderes übrig. Nun bereue ich diese Entscheidung bereits. Dieses Geschrei bereitet mir Kopfschmerzen.
Das Papier in meiner Hand zerknittert leicht, als ich mit mehr Schwung durch den Gang laufe und fast mit jemanden zusammenstoße.
»Tut mir leid«, murmle ich und blicke nicht hoch. Schnell versuche ich weiterzugehen, da mir diese Situation unangenehm ist.
»Olivia Carlson?«
Erstarrt bleibe ich stehen und halte den Atem an.
Nein, nein, nein!
»Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen! Wie geht es dir?«
Verdammt! Jetzt kann ich nicht so tun, als hätte ich sie nicht gehört. Langsam gleitet mein Blick nach oben. Hannah sieht mich mit einem warmen Funkeln in den Augen an. Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen. Hat sie nicht vor Jahren die Stadt verlassen?
»Hey! Was machst du denn hier?«
Am liebsten würde ich meine Beine in die Hand nehmen und von hier verschwinden. Das ist für meine Verhältnisse zu viel. Diese Frau weckt Erinnerungen, an die ich nicht denken will. Wieso musste ich auf sie treffen? Wollte das Universum, dass mein beschissener Tag einen neuen Tiefpunkt erreicht?
»Ich besuche meine Eltern.«
Ich nicke. Es gibt nichts für mich hinzuzufügen. Und bevor sie nochmals den Mund aufmacht, sollte ich die Fliege machen.
»Ähm, das ist schön. Ich muss los, Hannah. Dir einen schönen Abend«, murmle ich eine Verabschiedung, ehe ich mich meinem Einkaufswagen wende und ihn Richting Kasse schiebe.
»Warte!«, ruft sie mir zu.
Verdammt! Lass mich einfach gehen, Hannah. Bitte.
»Wie wäre es, wenn wir uns diese Woche alle treffen? Wie in alten Zeiten. Ich habe euch schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Meine Augen schließen sich und wiederholt versuche ich tief Luft zu holen. Alte Zeiten? Die gibt es nicht mehr. Hat sie mit niemandem gesprochen, seit sie wieder da ist? Oder warum haben ihre Eltern nichts gesagt? Dann hätte sie gewusst, dass sie mich etwas Unmögliches fragt.
»Wir beide, Katie, Lester und Ben. Vielleicht könnte dein Bruder auch noch mitkommen. Das würde Spaß machen.«
Mein Herz beginnt in einem ungeheuerlichen Tempo gegen meine Brust zu pumpen. Meine Hände werden nass und meine Atmung stockt.
Wie lange habe ich diesen Namen nicht mehr gehört?
Hannah scheint meine Reaktion zu bemerken, als sie nervös einen Schritt auf mich zugeht. »Liv? Geht es dir gut?«
Mit aller Macht versuche ich die aufkommenden Gefühle zu verdrängen. Jetzt ist nicht die Zeit, Erinnerungen zuzulassen. Das kann ich zu Hause tun, wenn ich allein bin und mich niemand sieht. Einen weiteren Nervenzusammenbruch will ich diesen Leuten ersparen.
Tief atme ich ein, meine Hände fest um den Griff gekrallt. »Hör zu, Hannah. Du warst eine lange Zeit weg und die Dinge hier sind nicht mehr so, wie sie waren. Mein Name ist Kane und nicht Carlson und Ben ist vor einem Jahr bei einem Autounfall gestorben. Also nein, wir können nicht wie in alten Zeiten herumhängen.«
Ihr Mund öffnet sich, jedoch kommen ihr keine Worte über die Lippen. Den Schock in ihren Augen ist unübersehbar. Trotzdem winke ich ihr zu, ehe ich mich umdrehe und endlich aus dieser Situation entkomme.
Mein Weg führt mich direkt zur Weinabteilung. Ohne mir die Flaschen anzuschauen, befördere ich sie in meinen Einkaufswagen. Das wird mich heute Abend genug betäuben und mich nicht in die Vergangenheit reisen lassen. Oder vielleicht doch, nur werde ich mich nicht daran erinnern können.
Auf das Essen verzichte ich. Ich könnte mir etwas bestellen. Auf keinen Fall will ich Hannah, oder jemandem anderen, nochmals begegnen.
Die Kassiererin blickt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als sie den Alkohol tippt. In ihrem Gesicht kann ich die Missbilligung sehen. Ich sage aber kein Wort, da sie sich bereits selbst ein Bild gemacht hat. Ich würde behaupten, dass sie nicht ganz falsch mit ihrer stillen Vermutung liegt.
Sobald ich alles bezahlt habe, nehme ich die Papiertüten in die Hand und verlasse den Laden mit schnellen Schritten. Als wäre dieser Tag nicht bereits verdammt schrecklich, fängt es auch noch an zu regnen. Laut stöhne ich auf und mache mich auf den Weg. Einen Schirm habe ich nicht dabei, aber mit vollen Händen, wäre das auch schwierig gewesen.
Wieso musste ich heute auf Hannah Daniels treffen? Mein Leben ist bereits ein Scherbenmeer und trotzdem kann ich erkennen, wie sich immer mehr Splitter bilden und sich in mein Fleisch bohren. Wie lange dauert es noch, bis ich daran zugrunde gehe? Bis ich ausgeblutet und total am Ende bin?
Schlimmer geht wohl immer und das Universum hat sich gedacht, dass es mich jeden Tag mehr leiden lassen will. Als hätte ich irgendwann etwas Schlimmes getan und es mich jetzt bereuen lässt.
Total durchnässt laufe ich durch die Straßen. Zum Glück wohne ich gleich um die Ecke. Seit dem Einbruch sind bereits zwei Wochen vergangen und letzte Woche durfte ich wieder in die Wohnung. Trotzdem fühle ich mich nicht mehr wohl, auch wenn ich jede Oberfläche zehnmal gereinigt habe. Die Erinnerung, dass sich jemand unbefugt Eintritt ermöglicht hat, löst eine Gänsehaut aus. Keine der guten Art.
»Olivia?«
Verdammt! Können mich die Leute nicht einfach in Ruhe lassen? Ich bewege mich weiter, als hätte ich die Stimme nicht gehört. Das ist nicht okay, aber ich habe keine Kraft mehr für eine weitere Begegnung. Meine soziale Batterie hat den Geist aufgegeben und ist nicht mehr vorhanden.
»Olivia, warten Sie!«
Abrupt bleibe ich stehen, als ich die rauchige Stimme erkenne, nach der ich mich so sehr gesehnt habe. Nur habe ich es mir nicht erlaubt an sie zu denken.
Detektive Levi kommt mit einem Schirm auf mich zugerannt. Er schenkt mir ein kleines Lächeln, ehe er mir Platz unter dem provisorischen Dach macht. Auch wenn es bereits zu spät ist, da ich bis auf meine Unterwäsche durchnässt bin.
»Was machen Sie hier im Regen? Sie werden sich noch eine Lungenentzündung holen!«
Umständlich zieht er sich die Jacke aus und legt sie einen Moment später um meine Schultern. Sobald seine Hand meinen Körper berührt, kribbelt die Stelle. Als hätte ich mich verbrannt, gehe ich einen Schritt zurück. Sein Duft steigt mir in die Nase und unwillkürlich atme ich tief ein. Wie seine Stimme beruhigt mich der ganz persönliche Geruch von diesem Mann.
»Levi«, hauche ich. Nur sein Name dringt aus meinem Mund. Viel zu sehr bin ich überrascht ihn hier zu sehen. Seit der Anzeige haben wir keinen Kontakt mehr, auch wenn ich einige Male daran gedacht habe ihn anzurufen.
Sein Blick wandert zu meinen Einkaufstaschen und anstatt mich verurteilend anzusehen, bleibt sein Gesichtsausdruck neutral.
»Bist du auf dem nach Hause weg?«, hakt er nach und wechselt die Umgangsform, als wäre es etwas ganz Natürliches.
Ich nicke. Levi packt sich eine Einkaufstasche und zieht mich näher an sich ran, damit wir beide im Trockenen bleiben.
»Soll ich dich nach Hause fahren? Mein Auto steht gleich da drüben.«
Nur der Gedanke in einen Wagen einzusteigen, lässt Übelkeit in meinem Inneren aufsteigen. »Nein! Kein Auto, bitte.«
Seine Augen spiegeln die Verwirrung, jedoch sagt er nichts dazu und zuckt mit den Schultern. »Dann begleite ich dich, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Okay, das wäre schön.«
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