Kapitel 20
Noctar und Frostsee liefen schweigend Seite an Seite durch den Efeu-überwucherten Wald. Die Kälte der Blattleere schien sie kaum zu berühren, obwohl der Schnee unter ihren Pfoten knirschte. Ein feiner Nebel hing zwischen den Bäumen, während das Licht des frühen Tages von den Flussarmen reflektiert wurde und ein beinahe unwirkliches Glühen erzeugte.
„Es dauert nicht mehr lang bis zur Höhle," murmelte Noctar schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch, der sich mit dem Flüstern des Windes mischte.
Frostsee warf ihm einen kurzen Blick zu. Der Kater wirkte ruhig, doch in seinen silbernen Augen lag eine unausgesprochene Ernsthaftigkeit, die Frostsee nicht entging. „Die Höhle... Was erwartet mich dort?" fragte er schließlich, seine Stimme leise, aber fest.
Noctar hielt kurz inne, seine Ohren zuckten leicht, bevor er weitersprach. „Die Höhle ist ein Ort der Offenbarung, Frostsee. Dort, wo die Sterne am nächsten sind. Was du sehen wirst... wird von deiner Seele abhängen. Sie zeigt jedem etwas anderes."
„Etwas anderes?" wiederholte Frostsee mit einem Stirnrunzeln. „Also weißt du nicht, was mich dort erwartet?"
Noctar schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Die Sterne sprechen auf ihre eigene Weise. Manchmal geben sie Antworten, manchmal stellen sie nur weitere Fragen. Aber eines ist sicher: Sie haben dich hierher geführt. Und sie werden dich leiten, wenn du bereit bist, zuzuhören."
Frostsee schwieg, sein Blick schweifte zu den verschlungenen Ästen über ihnen, die wie knorrige Hände in den Himmel griffen. Der Gedanke, dass die Sterne ihn absichtlich hierhergeführt haben könnten, war sowohl beruhigend als auch beängstigend.
„Und was ist mit dir?" fragte er nach einer Weile. „Hast du in dieser Höhle Antworten gefunden?"
Ein schwaches Lächeln huschte über Noctars Gesicht, doch es erreichte seine Augen nicht. „Ich habe meinen Weg gefunden," sagte er leise. „Aber jeder Weg ist anders. Deine Fragen und deine Antworten gehören dir allein."
Frostsee wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment lichteten sich die Bäume, und ein schmaler, steiniger Pfad wurde vor ihnen sichtbar. Der Schnee war hier dünner, und Frostsee konnte die Umrisse einer dunklen Höhlenöffnung am Ende des Pfades erkennen. Ein leises Rauschen, wie von einem Wasserfall, drang an sein Ohr, und die Luft war erfüllt von einer beinahe elektrischen Spannung.
„Das ist sie," sagte Noctar, seine Stimme plötzlich ernster. „Die Höhle der tausend Wahrheiten."
„Ab hier musst du alleine deinen Weg finden, Frostsee," sagte Noctar, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Dringlichkeit. Seine eisblauen Augen funkelten im Licht des aufsteigenden Tages, während er stehen blieb und Frostsee mit einem ernsten Blick fixierte. „Aber denke daran... die Wahrheit verändert. Du wirst nicht mehr derselbe sein, wenn du sie hörst."
Frostsee schluckte schwer, sein Herz schlug schneller bei diesen Worten. Die Höhle vor ihm wirkte plötzlich noch dunkler, geheimnisvoller, als ob sie ein eigenes Leben hätte. „Was meinst du damit?" fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
Noctar senkte den Kopf leicht, als würde er die richtigen Worte suchen. „Manchmal ist die Wahrheit eine Last, die schwerer wiegt, als man erwartet. Aber sie ist notwendig. Sie zeigt uns, wer wir wirklich sind – und manchmal auch, wer wir sein könnten."
Frostsee wich den durchdringenden Augen des Katers nicht aus, obwohl er spürte, wie etwas Unbehagliches in ihm aufstieg. „Ich verstehe," murmelte er schließlich, auch wenn er sich alles andere als sicher fühlte.
Noctar trat einen Schritt zurück, sein Schweif zuckte leicht, bevor er den Kopf zur Höhle hin neigte. „Die Sterne haben dich hierhergeführt. Sie haben dich gewählt, Frostsee. Vertrau darauf, dass sie wissen, was sie tun."
Frostsee atmete tief ein und wandte seinen Blick auf die Höhle. Der Eingang wirkte wie ein schwarzes Maul, das ihn zu verschlingen drohte, doch er zwang seine Beine, sich zu bewegen. Mit jedem Schritt, den er auf die Höhle zuging, spürte er, wie die Luft kühler und schwerer wurde.
„Frostsee," rief Noctar ihm noch nach. Frostsee drehte sich halb um.
„Vergiss nicht, wer du bist," fügte Noctar hinzu, ein schwaches, fast melancholisches Lächeln auf den Lippen. „Egal, was die Sterne dir zeigen."
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