Kapitel 2
Die Sonne brach heran und tauchte das Lager in ein goldenes Licht, das den Schnee zum Glitzern brachte. Ihr Strahlen versprach einen klaren Tag, doch die beißende Kälte hielt das Lager in einem eisernen Griff.
Langsam kroch Frostsee aus dem Kriegerbau, seine Muskeln fühlten sich steif an von der ungewohnten Ruhe. Er streckte sich ausgiebig, wobei seine Krallen kurz über den gefrorenen Boden kratzten, und schüttelte die Reste von Schlaf und Dunkelheit ab.
Während er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf eine Bewegung in der Nähe des Anführersbaus. Sommerranke, der beige Heiler des Clans, eilte mit raschen Schritten auf Felsensterns Höhle zu. Die feinen Linien der Besorgnis zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, auch wenn er versuchte, seine Miene zu wahren.
Frostsees Ohren zuckten, und er schob sich unwillkürlich ein wenig näher, ohne direkt auf sie zuzugehen. Was hatte den Heiler so früh am Morgen hierhergeführt? Sommerrankes Bewegungen waren ungewöhnlich hektisch, als ob etwas ihn drängte, Felsenstern so schnell wie möglich zu sprechen.
„Ein unruhiger Morgen," murmelte Frostsee vor sich hin, während er seinen Blick über das Lager schweifen ließ. Der frische Schnee trug noch keine Spuren, außer denen, die Sommerranke hinterlassen hatte. Alles wirkte friedlich – doch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ließ Frostsee nicht los.
Neugierig, aber bedacht darauf, nicht aufzufallen, begann er langsam in die Richtung zu gehen, wo die beiden Katzen verschwunden waren.
„Frostsee!"
Die Stimme, tief und schneidend wie ein Winterwind, ließ Frostsee zusammenzucken. Er drehte sich abrupt um, seine silber-weißen Ohren zuckten nervös.
Vor ihm stand sein Vater, Wolkenwächter – eine imposante Gestalt mit breiten Schultern und einem dichtem, schneeweißen Pelz, der im Sonnenlicht schimmerte. Doch es war nicht seine Erscheinung, die Frostsee Unbehagen bereitete, sondern der mienenlose Ausdruck in seinen grünen Augen.
Wolkenwächter hatte immer diese unnahbare Aura, eine Mischung aus Autorität und Kälte, die es schwer machte, seine wahren Gedanken zu ergründen. Frostsee fühlte sich unter diesem Blick oft wie ein Schüler, selbst jetzt, als erwachsener Krieger.
„Vater," begrüßte Frostsee ihn mit einer angedeuteten Neigung des Kopfes. Seine Stimme klang ruhiger, als er sich tatsächlich fühlte.
Wolkenwächter ließ seinen Blick kurz über das Lager schweifen, bevor er Frostsee mit durchdringendem Blick fixierte. „Du hast dich in letzter Zeit oft abseits gehalten," begann er, ohne eine Spur von Emotion in seiner Stimme. „Hast du nichts Besseres zu tun, als Sommerranke und Felsenstern zu beobachten?"
Frostsee schluckte und richtete sich unwillkürlich ein wenig auf, als ob das seine Unsicherheit verbergen könnte. „Doch, Vater..." murmelte er schließlich und zuckte unruhig mit dem Schweif hin und her, während er versuchte, die bohrenden Augen seines Vaters zu ertragen.
Wolkenwächters Schnurrhaare zuckten leicht, doch sein Gesicht blieb undurchdringlich wie immer. „Dann tue etwas Nützliches," wies er mit eiserner Stimme an. „Erkundige dich, wie es unseren Ältesten ergeht. Sie könnten deine Hilfe brauchen."
Die Worte klangen schlicht, doch Frostsee hörte das unausgesprochene Urteil dahinter – dass er seine Zeit verschwendete, dass er nicht genug tat. Ein vertrauter Knoten bildete sich in seiner Brust, eine Mischung aus Trotz und dem Wunsch, seinen Vater nicht zu enttäuschen.
„Natürlich, Vater," antwortete Frostsee leise und neigte den Kopf in einer respektvollen Geste, obwohl seine Krallen unwillkürlich in den gefrorenen Boden drückten.
Wolkenwächter nickte knapp, bevor er sich abwandte, die Schultern steif und den Kopf stolz erhoben, als wäre das Gespräch nichts weiter als eine kleine Störung in seinem Tag gewesen.
Frostsee blieb einen Moment stehen und starrte seinem Vater hinterher, bis dieser in der Menge der anderen Katzen verschwand. Ein Seufzen entglitt ihm, bevor er sich zum Ältestenbau wandte.
Schattenwind, ein nachtschwarzer Kater mit grauen Pfoten, saß geduldig vor dem Ältestenbau. Seine blauen Augen waren halb geschlossen, während er die kühle Morgenluft genoss. Der Schnee um ihn herum schien seinen dunklen Pelz noch schwärzer wirken zu lassen, wie ein Schatten, der sich von der weißen Landschaft abhob.
Frostsee näherte sich langsam, darauf bedacht, die Ruhe des alten Kriegers nicht zu stören. Seine Pfoten hinterließen kaum Spuren im frischen Schnee, als er schließlich vor Schattenwind stand.
„Hallo, Schattenwind," begann Frostsee höflich und senkte leicht den Kopf zur Begrüßung. „Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung mit Sturmfalke und Weißzahn?"
Schattenwind öffnete die Augen ein Stück weiter und musterte den jungen Krieger mit einem nachdenklichen Blick. Sein Schweif zuckte leicht, bevor er antwortete. „Mir geht es gut, Frostsee. Auch wenn die alten Knochen bei dieser Kälte etwas steif sind."
Er hielt inne und warf einen kurzen Blick über die Schulter in den Ältestenbau, wo ein gedämpftes Schnarchen zu hören war. „Sturmfalke und Weißzahn kommen zurecht. Weißzahn beschwert sich natürlich wie immer über den kalten Wind, und Sturmfalke... na ja, sie hat letzte Nacht wieder eine dieser Geschichten erzählt, die eher für Junge gedacht sind."
Ein leises Schmunzeln huschte über Frostsees Gesicht. „Ich nehme an, Sturmfalke hat die Geschichten etwas ausgeschmückt?"
„Etwas?" Schattenwind lachte rau, ein kratziger Ton, der an alte Blätter im Wind erinnerte. „Sie behauptet, sie hätte einst alleine einen ganzen Fuchsbau geräumt. Aber wir lassen sie reden. Es hält sie jung."
Der Krieger schmunzelte leicht, ein Hauch von Belustigung in seinen eisblauen Augen. „Na dann, wenn es so ist," erwiderte Frostsee mit einem leichten Schnurren und ließ sich vor dem älteren Kater nieder.
Der Schnee unter seinen Pfoten knirschte leise, als er sich bequem setzte, den Schweif ordentlich um die Beine gelegt. Schattenwind musterte ihn mit einem scharfen, aber wohlwollenden Blick, während ein sanfter Wind durch das Lager strich und Frostsees Pelz leicht aufbauschte.
„Es tut gut, mit jemandem zu reden, der nicht ständig über die Vergangenheit klagt," murmelte Schattenwind schließlich, sein Ton von einem Hauch Nostalgie durchzogen.
Frostsee neigte den Kopf, doch in seinen Gedanken wirbelte eine Frage: Was trieb ihn wirklich her? Der Auftrag seines Vaters? Oder doch etwas anderes – dieses seltsame Ziehen, das ihn seit Tagen nicht losließ?
Frostsee ließ seinen Blick kurz über die schneeweiße Landschaft schweifen, bevor er den älteren Kater erneut ansah. „Schattenwind... gab es jemals eine Zeit, in der dieses neue Gesetz nicht existiert hat?" fragte er schließlich, seine Stimme leise, fast zögerlich, als würde er eine unsichtbare Grenze überschreiten.
Schattenwind hob den Kopf leicht an, seine blauen Augen schienen für einen Moment heller zu leuchten. Er schwieg, während der Wind durch das Lager wehte und die kahlen Äste der umliegenden Büsche raschelten.
„Eine Zeit ohne das Gesetz?" murmelte der Älteste schließlich, als würde er die Worte selbst abwägen. „Ja, Frostsee... es gab eine solche Zeit. Doch sie liegt weit zurück, weiter als du dir vorstellen kannst."
Frostsee spürte, wie sein Herz schneller schlug. „Was war damals anders?" wagte er zu fragen, sein Schweif zuckte unruhig.
Schattenwind musterte ihn einen Moment lang, als wollte er entscheiden, wie viel er preisgeben sollte. „Es war eine Zeit, in der wir das Unbekannte nicht fürchteten," sagte er langsam, seine Stimme von etwas Durchdringendem erfüllt. „Eine Zeit, in der unsere Pfoten Spuren hinterließen, die über das hinausgingen, was wir sehen können. Doch diese Zeit endete... und das Gesetz wurde errichtet ,von Eisstern persönlich, um uns vor uns selbst zu schützen."
Der Krieger runzelte die Stirn. Vor uns selbst? Die Worte ließen etwas Unbehagliches in ihm aufsteigen, eine Frage, die er sich nicht zu stellen wagte.
„Ich frage mich, was hinter der Grenze liegt," platzte es schließlich aus Frostsee heraus, bevor er sich zurückhalten konnte. Seine Stimme war leiser als er beabsichtigt hatte, doch das Flackern in seinen Augen verriet den Sturm, der in seinem Inneren tobte.
Schattenwind hob eine Augenbraue, sein Blick blieb ruhig, aber scharf. „Du bist nicht der Erste, der das fragt," sagte er mit einem leisen Schnurren, das zwischen Belustigung und Vorsicht schwankte. „Doch Vorsicht, Frostsee. Solche Gedanken haben schon so manchen Krieger ins Stolpern gebracht."
Frostsee senkte den Blick, fühlte, wie die Worte seines Vaters in seinen Gedanken widerhallten. Doch das Ziehen, diese unaufhörliche Neugier, blieb. „Aber was, wenn dort draußen etwas auf uns wartet?" fragte er, sein Schweif zuckte nervös. „Etwas, das wir nicht verstehen... oder vielleicht verstehen sollten?"
Schattenwinds Gesicht blieb reglos, aber ein Hauch von Schatten glitt durch seine blauen Augen. „Hinter der Grenze liegt das Unbekannte," sagte er leise, seine Stimme schwer vor Bedeutung. „Und das Unbekannte ist nicht immer freundlich zu denen, die es suchen."
Der Krieger seufzte tief, ein Hauch von Frustration in seinem Atem, und sah Schattenwind mit einem nachdenklichen Blick an. „Hat es jemals eine Katze gewagt, die Grenzen zu überschreiten?" fragte er schließlich, seine Stimme von einer Mischung aus Neugier und Zweifel durchzogen. „Jemals Felsensterns Autorität hinterfragt?"
Schattenwind hielt inne, ließ seine Krallen über die gefrorene Erde gleiten, als würde er in alten Erinnerungen wühlen. Seine blauen Augen wurden für einen Moment fern, fast als würde er durch Frostsee hindurchsehen.
„Wagen? Ja," sagte er schließlich, seine Stimme leise, kaum mehr als ein Flüstern. „Hinterfragen? Nein."
Frostsee blinzelte, verwirrt von der Antwort. „Wie meinst du das?"
Schattenwinds Blick kehrte zu ihm zurück, schärfer und durchdringender als zuvor. „Einige haben die Grenzen überschritten, Frostsee. Doch sie sind nie zurückgekehrt, um zu erzählen, was sie gefunden haben. Und diejenigen, die ihre Autorität in Frage stellten..." Er hielt inne, seine Worte hingen wie eine Last in der kalten Luft. „Sie wurden vom Schicksal selbst gestraft. So sagt man jedenfalls."
Ein Schauder lief Frostsee über den Rücken. Er konnte nicht sagen, ob es an Schattenwinds Ton lag oder an den Worten selbst, aber etwas daran ließ sein Fell prickeln.
„Du stellst viele Fragen, Frostsee," fügte der Älteste hinzu, sein Blick nun warnend. „Manchmal ist es besser, Antworten nicht zu kennen."
Frostsee nickte langsam, ein schweres Seufzen entwich seiner Brust. „Danke für deine Antwort, Schattenwind," sagte er leise, seine Worte von einer unterschwelligen Nachdenklichkeit getragen. Mit einem angedeuteten Lächeln fügte er hinzu: „Ich werde dich dann mal nicht weiter belästigen."
Er erhob sich auf die Pfoten, neigte respektvoll den Kopf vor dem Ältesten, bevor er sich zum Gehen wandte. Mit ruhigen Schritten entfernte er sich vom Ältestenbau, doch die Worte, die Schattenwind gesprochen hatte, schienen ihm in den Ohren zu hallen.
In der Mitte des Lagers hielt Frostsee inne, seine Augen wanderten zum Ausgang des Lagers. Der Wind, der durch das Lager fegte, fühlte sich kälter an, dringlicher, als würde er ihn rufen. Sein Schweif zuckte, während er das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass etwas – nein, jemand – da draußen auf ihn wartete.
Etwas lag jenseits der Grenzen verborgen. Etwas, das größer war als der Clan, größer als die strengen Gesetze, die sie alle in ihren festen Pfaden hielten. Es schien zu atmen, zu pulsieren, wie eine unausgesprochene Wahrheit, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Frostsee schloss kurz die Augen und atmete tief durch, als wollte er die aufsteigende Unruhe in seiner Brust dämpfen. Doch der Wind rief weiter – ein stummer, aber unerbittlicher Ruf, der sich nicht ignorieren ließ.
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