19 - Schuldige Herzen
Sie hatten ihn mitgenommen. Es gab keinen Zweifel, dass die Wachen ihn zu Thyfen bringen würden und das wiederum bedeutete nichts Gutes für das Wohlergehen des Rebellen.
Doch das Schlimmste an diesem ganzen Dilemma war, dass es Rubys Schuld gewesen war. Sie hätte Taron rechtzeitig warnen müssen oder die Wachen irgendwie aufhalten müssen. Stattdessen hatte sie zugesehen wie ihr Freund zu Boden geschlagen und aus ihrem Zimmer geschleift wurde.
Sogar jetzt stand sie an genau derselben Stelle und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Tür. Was sollte sie denn jetzt machen? Jedes Mal wenn sie versuchte das Richtige zu tun, gingen ihre Versuche nach hinten los.
Wenn sie versuchte sich mit den Nixen in Laothea anzufreunden, tat sie etwas, dass ihnen noch mehr Angst machte.
Wenn sie versuchte die Stadt zu verlassen, wurde sie an einen irrsinnigen Lord verkauft, der sie fast zu Tode würgte.
Und wenn sie versuchte ihre neugewonnenen Freunde zu beschützen, wurde ihr Liebster trotzdem gefangengenommen.
Taron war doch erst der Grund, warum sie überhaupt bei den Tiden gelandet war – warum sie überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte sich endlich Freunde zu machen. Und jetzt hatte Ruby ihn ins Verderben gestürzt. Nach allem, was er für sie getan hatte, konnte sie nur hier stehen und hoffen, dass er es, entgegen allen Erwartungen, noch irgendwie schaffte zu fliehen.
Ruby konnte nur zusehen und abwarten… Genau wie das kleine, feige Mädchen, welches ihr Leben lang die viel zu strengen Regeln ihres Vaters befolgt hatte. Jene Regeln, die damals tief in ihr Unterbewusstsein gebrannt wurden.
Nicht singen. Nicht summen. Sich nicht von ihren Gefühlen übermannen lassen.
Ruby hatte sich immer darangehalten, war immer gehorsam gewesen. Sie kannte doch schließlich nichts anderes.
… Nein.
Nein, das stimmte nicht.
Sie hatte Thyfen doch schon einmal widersprochen und sie war diesmal nicht allein. Die Tiden kämpften seit Jahren gegen die Autorität des Lords an. Sie hatten sich eine eigene Gesellschaft aufgebaut, eine in die Ruby hineingepasst hatte. So sehr sogar, dass Taron ihr nachgekommen war.
Nein, sie durfte jetzt nicht klein beigeben.
Die Nixe biss die Zähne zusammen und begann zu laufen. Mit einem Ruck, riss sie ihre Zimmertür auf und machte sich auf die Suche nach Thyfen. Während sie in dem großen Anwesen umherlief, verlor sie jegliches Zeitgefühl. Es musste jedoch sehr spät nachts gewesen sein, als sie ihn endlich vor sich stehen hatte.
Der Lord lächelte, scheinbar zufrieden mit seinem erfolgreichen Plan.
„Kannst du nich‘ schlafen?“ fragte er die Nixe, so als wüsste er von nichts.
Sie erwiderte seinen Blick mit so viel Groll wie sie in ihrem kleinen Körper aufbringen konnte. Es vertrieb das Lächeln von seinen Lippen, aber Ruby konnte noch immer den Triumph in seinen funkelnden Augen sehen.
„Willst du ihn sehen?“ fragte er dann, zu Rubys Überraschung. Die Nixe warf ihm einen verwirrten Blick zu, nickte aber als Bestätigung.
Erneut breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Ohne ein weiteres Wort, drehte er sich um und führte sie aus dem Anwesen heraus, auf die Ostseite des Geländes. Ruby hatte sich noch nie in diesem Teil aufgehalten, da sich der Garten und ihr Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Anwesens befanden.
Hier fand sie nur einen viereckigen Steinbunker vor. Es waren lediglich zwei dünne Schlitze als Fenster eingebaut. Ruby zweifelte daran, dass genug Licht in den Raum gelangte, um darin leben zu können.
„Ich war selbst noch nich‘ bei ihm“, gab Thyfen zu, während er die solide Eingangstür betrachtete, „zugegeben, ich bin etwas nervös. Aber ich hab‘ schließlich auch lange auf diesen Moment gewartet.“
Die Nixe gab keine Antwort darauf. Sie war zu besorgt, fast starr vor Angst. Ein Mitglied der Tiden und Thyfen auf so engem Raum? Das konnte einfach nicht gut gehen.
Die schwere Tür öffnete sich mit einem tiefen Knarren und Ruby folgte Thyfen in den dunklen Bunker. Der Lord machte keine Anstalten die Tür hinter ihnen zu schließen, wofür die Nixe äußerst dankbar war, denn so konnte sie wenigstens ein bisschen sehen.
Ihre Augen fielen sofort auf Taron, der auf dem sandigen Boden lag. Mit ein wenig Mühe setzte er sich auf, was Ruby ermöglichte ihn noch etwas besser sehen zu können. Das Fantom war an den Armen und Beinen gefesselt und neben seinem linken Auge bildete sich schon ein blauer Fleck.
Am liebsten wäre Ruby sofort zu ihm gelaufen, doch Thyfens Anwesenheit ließ sie einhalten. Sie durfte die Situation nicht schlimmer machen, als sie ohnehin schon war, also presste sie ihre Lippen aufeinander und fixierte ihre Augen auf Tarons Silhouette.
Die braunen Augen des Fantoms waren voll und ganz auf den Lord fixiert. Hatte er überhaupt bemerkt, dass Ruby auch in den Raum gekommen war?
„Du bist so berechenbar“, begann Thyfen.
Seine Stimme war frei von jeglichen Emotionen. Vollkommen leer. Ruby hatte die typische Kälte erwartet oder sogar Wut mit einer Prise Hass und Verachtung, aber diese Leere… Es war beängstigender als alles, was sie sich hätte vorstellen können. Seine Gedanken waren, wie immer, ein Mysterium… doch nun waren seine Gefühle es auch.
„Es is‘ traurig, wirklich. Dass du mich nach all der Zeit immer noch unterschätzt“, sprach der Lord weiter.
Taron schüttelte krampfhaft den Kopf. Seine Hände zitterten leicht, was Ruby nur als ein Zeichen der Nervosität betrachten konnte, doch seine Augen loderten entschlossen.
„Nein“, antwortete er, „ich hab‘ dich nie unterschätzt. Wenn überhaupt, hab’ ich dich jahrelang überschätzt.“
Die Nixe konnte förmlich spüren, wie der Lord mit den Zähnen knirschte. Thyfen schnellte vorwärts und zerrte mit einer Hand an Tarons pechschwarzen Haaren.
„Ich glaub‘ du verstehst nich‘ in welcher Situation du dich befindest. Du bist jetz‘ mein Gefangener. Ich kann mit dir machen, was ich will. Und glaub‘ mir, ich hab‘ so einiges für dich geplant.“
„Nichts, was du mir jetz‘ antust, könnte schlimmer sein, als das, was du schon getan hast.“
Diese Worte waren wohl genug, um Thyfens Geduldsfaden zu reißen. Seine Hand in Tarons Haaren verkrampfte sich und er prellte dessen Kopf auf den Boden.
Ein leises Grunzen entwich dem Fantom. Ruby schnappte erschrocken nach Luft.
„Bist du dir da sicher?“ flüsterte Thyfen, während er Taron an den Haaren wieder ein Stück hochzog, nur um ihn wieder in den Boden zu rammen.
Rubys Hals prickelte. Das eigenartige Gefühl wanderte schnell ihre Kehle hinauf und wartete. Verzweifelt krallte sie mit ihren Fingern an ihrem Hals, um es loszuwerden. Sie versuchte ihren Mund geschlossen zu halten, doch als Thyfen zu einem dritten Mal ansetzte, verlor sie kurzzeitig die Kontrolle.
„STOP!“ rief sie ungewollt. Das Prickeln in ihrer Kehle verflog mit dem Ton ihrer Stimme und hinterließ ein befriedigendes Gefühl, als hätte sie gerade die reinste Luft der Welt eingeatmet. Befreiend – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Thyfens Bewegung erstarrte, genauso wie Rubys Atem. Ein paar Momente geschah nichts, bis der Lord über seine Schulter zu ihr zurücksah. Verwirrung lag in seinem Blick. Er konnte sich scheinbar nicht ganz erklären, warum er auf sie gehört hatte. Seine Hand zog sich aus Tarons Haaren zurück.
„Ach, richtig“, murmelte der Lord, als hätte er sich gerade daran erinnert, dass Ruby sich mit ihnen im Raum befand, „Taron, du hast besuch.“
Doch Rubys Freund blieb regungslos auf dem Boden liegen. Zuerst dachte die Nixe, er wäre wieder ohnmächtig geworden, doch dann hörte sie eine leise Stimme.
„Ru…by…“
„Ganz genau“, fuhr Thyfen fort, während er aufstand, „und meine liebe Ruby wird mir helfen die passende Bestrafung für dich zu wählen.“
Was?
Hatte sie das gerade richtig gehört? Sie sollte Tarons Todesurteil fällen? Auf keinen Fall. Das konnte sie nicht.
„Ich soll dir… helfen?“ flüsterte sie entsetzt, woraufhin der Lord selbstverständlich nickte.
„Natürlich. Du schienst so bestürzt, als ich dir von seinen Taten erzählt hab‘, dass ich entschied dich in meine Entscheidung miteinzubeziehen.“
„Seine… Taten?“ wiederholte Ruby verwirrt, „ich versteh‘ nich‘.“
Daraufhin legte Thyfen den Kopf schief. Er musterte sie für einen Moment, bevor er sich umdrehte und zu Taron runtersah, welcher mittlerweile vergebens versuchte sich aufzusetzen.
„Du hast es ihr nich‘ erzählt?“ fragte Thyfen sichtlich erstaunt.
Was? Wovon sprach der Lord da? Sie wusste doch schließlich, dass Taron Teil der Tiden und somit der Rebellion war. Ruby dachte an das Gespräch zurück, das die zwei vorhin geführt hatten. Die zwei schienen sich schon einmal begegnet zu sein.
…
War er etwa beim Anschlag auf Thyfens leben dabei gewesen? Was war damals passiert?
Ein zynisches Lachen zog ihre Aufmerksamkeit wieder zu den zwei Männern. Thyfen hielt sich eine Hand vor die Stirn.
„Unglaublich!“ sagte er zwischen Gelächtern, „du tust also allen Ernstes einen auf unschuldig? Du? Und da nennt man mich einen Lügner.“
Ruby blieb wie festgefroren am Eingang des Bunkers stehen. Sie konnte nicht mehr vernünftig denken. Sie wusste nicht, was sie mit Thyfens Worten anfangen sollte. Spielte er irgendwelche Spielchen mit ihr? Oder meinte er das alles ernst? Die Nixe wurde daraus einfach nicht schlau.
„Ich würde euch ja einander vorstellen, aber ich denke, dass dies etwas is‘, dass du wohl besser selbst machen solltest, nicht wahr?“ schlug der Lord seinem Gefangenen vor.
Taron, der es endlich geschafft hatte sich hinzusetzen, hielt seinen Kopf geneigt. Sein Gesicht war komplett in Dunkelheit gehüllt. Bei dem Gedanken, was er gleich sagen könnte, lief Ruby ein schrecklicher Schauer über den Rücken. Ihr Atem kam immer flacher und ihr Herz schlug immer schneller. Doch alles andere um sie herum schien still zu stehen.
„Erinnerst du dich, als du mir von deiner Zeit hier im Anwesen erzählt hast? Du hast gesagt, dass du noch jemandem die Schuld an Thyfens Verhalten gibst. Diesem… besten Freund, der ihn damals verraten hat.
… Diese Person… bin ich.“
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Heey 👋
Ja... Also, so ist das jetzt. Ich meine, ich habe es ja schon meilenweit kommen sehen. 🤭
Wie denkt ihr wird Ruby reagieren?
Freue mich auf eure Gedanken.
Bisous ❤️
MarSuu
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