16 Noel Getrennt
Es ist immer schwer für mich von Ruby getrennt zu sein. Nicht so schwer wie für Ruby, da ich immer noch unsere Kinder hier habe, während sie alleine ins Kapitol fahren muss, doch ohne Ruby kehren meine Albträume zurück. Albträume, in welchen Ruby stirbt. Albträume, in denen ich alles verliere. Deswegen habe ich angefangen während der Hungerspiele weniger zu schlafen. Ich weiß, dass Ruby auch wenig schläft, wenn sie dort ist. Dieses Jahr jedoch ist alles noch viel schlimmer. Denn dieses Mal sind es keine Fremden in den Spielen. Dieses Mal sind es Jade und Stephen, mein kleines Mädchen und ihr bester Freund. Ich bin gezwungen ihr zu zu sehen, wie sie sich quält und verletzt, möglicherweise getötet wird und trotzdem muss ich stark bleiben, darf meine Angst nicht zeigen. Ich muss stark sein für Ethan und Amy. Ich muss für sie da sein. Tagsüber sind wir jetzt immer bei Helen und Tyler, damit die beiden nicht alleine sein müssen, nachts sitzen wir zu Hause vor dem Bildschirm. Ich versuche zwar immer wieder wenigstens Amy ins Bett zu schicken, doch sie weigert sich zu gehen, wenn Ethan bleibt. Und da ich weiß, dass ihr Bruder ihr hilft ruhig zu bleiben, kann ich nichts dagegen sagen. Es ist früher Morgen an Tag 6 und ich weiß, dass sie bald die letzten Interviews senden werden. Es sind nur noch 8 Tribute am Leben. Gestern waren die Kameras hier und haben Interviews mit Helen, Tyler, Ethan und Amy aufgenommen. Ich habe mich bewusst im Hintergrund gehalten, denn Ruby und ich haben einen Plan für diese Situation. Ruby ist diejenige, die ihnen nun etwas über mich erzählen wird. Natürlich nicht wirklich über mich, sondern über die Version von mir, die wir zusammen über Jahre erfunden haben. Vor einigen Stunden hat Ruby angerufen und mir erzählt, dass sie ihnen ihre Fragen beantwortet hat. Gestern während des Tages haben sie bereits die Interviews der Familien der anderen Tribute übertragen, gegen Abend dann auch alle aus Distrikt 2. Doch sie haben sich Rubys Interview bis jetzt aufgehoben. Gerade läuft noch ein anderes Interview, ich weiß nicht genau, wer es ist, aber die Frau ist aus Distrikt 1. Ich werfe einen Blick auf das Sofa neben mich, wo Amy an Ethan gelehnt eingeschlafen ist. Ethan schläft ebenfalls und hat einen Arm um seine kleine Schwester gelegt. Ich muss selbst ein Gähnen unterdrücken, doch ich kann jetzt nicht schlafen. Gleich kann ich Ruby sehen. Ich vermisse sie. Es reicht einfach nicht aus, nur ihre Stimme über das Telefon zu hören. Wenigstens weiß ich, dass sie dort Freunde hat mit denen sie reden kann, damit sie nicht allein mit der Situation klar kommen muss. Ich habe Samuel seit Jahren nicht mehr gesehen, er hat uns nur wenige Male besucht und das letzte Mal war kurz nachdem Ethan geboren wurde. Ich verstehe natürlich, dass er es nicht riskieren will zu oft zu kommen, doch ich würde ihn gerne wieder mal sehen. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als das Interview endlich ein Ende hat und die Arena wieder den gesamten Bildschirm einnimmt, anstatt nur die Hälfte. Knapp hintereinander werden sämtliche Tribute eingeblendet, beinahe alle schlafen. Stephen ist wach, während Jade schläft. Anscheinend hat er es endlich geschafft, sie zum Schlafen zu bewegen. In dieser Hinsicht ist sie genau wie Ruby damals. Gut, dass Jade Stephen hat, der sie zum Schlafen zwingt. Sonst würde sie irgendwann vor lauter Erschöpfung umkippen, nur weil sie so stur ist. Ruby war ja in unseren Spielen kurz davor, als ich sie endlich dazu gebracht habe zu schlafen. Und wie Ruby braucht eben auch Jade jemanden. Es werden auch noch die anderen sechs Tribute eingeblendet, doch sie sind nicht sehr interessant, da sie alle schlafen. Dann wird das Bild der Arena wieder zur Seite geschoben und Rubys Gesicht nimmt die andere Hälfte ein. Sofort werde ich ruhiger, doch gleichzeitig schmerzt unsere Trennung jetzt noch mehr, denn ich kann sie sehen, aber nicht mit ihr reden oder sie berühren. Doch ich ignoriere das alles und konzentriere mich auf Ruby. Sie wird als einzige von Caesar Flickerman persönlich im Kapitol interviewt, auf derselben Bühne auf der auch die Tribute- und Siegerinterviews stattfinden. Ich registriere Rubys knielanges Kleid aus einem fließend wirkenden, roten Stoff und ich weiß, dass Gwen darauf bestanden hat. Sie sorgt immer dafür, dass Ruby einen guten Eindruck hinterlässt. Selbst jetzt noch. Ruby lächelt in die Kamera und nur weil ich sie so gut kenne kann ich sehen, wie falsch dieses Lächeln ist. Ihre Augen glitzern vor Wut und ich sehe auch Schmerz darin. Ich wünschte, ich könnte sie jetzt in den Arm nehmen. Doch ich muss darauf vertrauen, dass sie das alleine schafft. „Willkommen, Ruby Shine.", vernehme ich viel zu laut und voller künstlicher Begeisterung Caesars Stimme. Sie lässt Ethan aus dem Schlaf hochschrecken und ich lege einen Finger an die Lippen und bedeute ihm still zu sein. Dann reduziere ich die Lautstärke und verlege meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Ethan starrt ebenfalls auf die Hälfte, die Rubys Gesicht zeigt und ich sehe ganz deutlich, dass er mindestens genauso wütend ist wie sie. „Hallo, Caesar. Schön wieder hier zu sein.", begrüßt Ruby den Moderator und die Lüge kommt ihr vollkommen mühelos über die Lippen. Sie hatte ja schon genug Möglichkeiten zu üben. Caesar lacht und Ruby lächelt weiter stur in die Kamera. „Nun, wir wollen natürlich alle wissen, was du zu Jades Leistung bis jetzt zu sagen hast. Sie kommt ganz nach dir, nicht wahr?", fährt Caesar fort und ich sehe wie Ruby kurz mit ihrer Wut kämpft und es mit einem Lachen überspielt. „Ja, das tut sie. Sie ist stark und sie kann natürlich genau wie ich gewinnen.", antwortet Ruby und ich höre unter dem gespielten Stolz die Anspannung in ihrer Stimme. Das auf der Bühne ist nicht meine Ruby. Es ist Ruby Shine, Siegerin der 18. Hungerspiele, Karriero und Rekordhalterin der meisten getöteten Tribute. Doch trotz allem sehe ich immer wieder meine Ruby aufblitzen. Ich weiß, dass sie nicht stolz darauf ist, wie sie sich im Kapitol geben muss, dass sie es hasst. Doch ich weiß auch, dass sie es tut, um uns zu schützen. Denn wenn sie ihre wahren Gefühle zeigen würde, dann würde Snow zurückschlagen und zwar ohne darüber noch einmal nachzudenken. Er will, dass Ruby einen Fehler macht. Er will einen Grund um uns endgültig aus dem Weg zu räumen. Er weiß nämlich, dass Ruby sein Spiel nur mitspielt, um ihre Ruhe zu haben, damit wir alle in Sicherheit sind. Auch wenn Snow wohl anscheinend seinen Plan geändert hat, da er Jade in die Spiele geschickt hat. Ich glaub nicht daran, dass sie zufällig gezogen wurde. Das schreit förmlich Manipulation. Vor allem, weil Ethan auch gezogen wurde. Ich bin sicher, Snow hatte seine Finger im Spiel. Und dafür hasse ich ihn noch mehr. „Wohl wahr, wohl wahr.", lacht Caesar und ich will am liebsten durch den Bildschirm greifen und Ruby da weg holen. „Ruby, da jetzt deine Tochter in den Spielen ist, wirst du uns endlich verraten, wer der Mann an deiner Seite ist?", fragt Caesar und obwohl ich mit dieser Frage gerechnet habe und Ruby mich schon vorgewarnt hat, spanne ich mich unwillkürlich an. Bis jetzt bin ich ein niemand, der namenlose Vater von Ruby Shines Kindern. Doch jetzt werden sie eine Geschichte bekommen. Ethan legt eine Hand auf meinen Arm und ich lächle ihm beruhigend zu, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Dann wende ich mich wieder dem Bildschirm zu, wo Ruby gerade tief Luft holt, wie um sich zu wappnen. Dann nickt sie langsam. „Ich habe ihn kurz nach meiner Siegertour kennengelernt.", beginnt sie. Das ist nicht direkt gelogen, immerhin haben wir uns zu dieser Zeit wiedergetroffen und sind dann ein Paar geworden. Es war die Zeit, in der wir uns beide richtig kennengelernt haben, so wie es sein sollte, ohne Spiele oder Tod. „Ich war auf dem Markt und habe ihn in der Menge gesehen. Er hat meine Aufmerksamkeit erregt, weil er Noel sehr ähnlich sieht, ich dachte ich sehe einen Geist. Doch ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Damals war sein Name Nolan Ellis. Heute ist er Nolan Shine.", erzählt Ruby und ich kann sehen, wie das gesamte Kapitol an ihren Lippen hängt. Sie haben ja immerhin 18 Jahre auf diese Story gewartet. Ich bin etwas überrascht, dass Ruby ihnen gegenüber behauptet, wir wären verheiratet. Das war nicht Teil des Plans. Und Ruby sieht auch aus, als wäre ihr das unbeabsichtigt rausgerutscht. Begeisterte Laute sind aus dem Publikum zu hören, denn natürlich gibt es anders als bei den üblichen Interviews ein Publikum. Caesar lacht erneut. „Ich schätze mal das heißt, du hast einen Typ.", scherzt er und Ruby zwingt sich zu lachen. „Scheint so.", erwidert sie kichernd. Natürlich hat sie keinen Typ. Das bin nämlich alles ich. Doch das dürfen sie ja nicht wissen. Ich muss an meine Eltern und meine Schwester denken, weit weg in Distrikt 11. Wie fühlen sie sich dabei, dass mein Name wieder aufkommt, all die Jahre nachdem ich angeblich gestorben bin. Ich wünschte, die Leute im Kapitol würden das Thema endlich ruhen lassen. Aber natürlich werden sie das nicht tun. Nicht solange Ruby jedes Jahr ins Kapitol fährt. Caesar redet noch länger mit Ruby, doch ich höre nicht mehr was sie sagt, sehe nur noch ihr Gesicht, lausche dem Klang ihrer Stimme, doch verdränge die Worte. Es ist nicht richtig. Sie sollte hier sein. Hier bei ihrer Familie, wo sie hingehört. Jedes einzelne Jahr verpasst sie wieder einen Monat von unserem Leben. Sie musste Amy verlassen, als diese gerade mal 2 Monate alt war, weil Snow verhindert hat, dass Helen an ihrer Stelle fährt. Und dann gleich noch einmal 6 Monate später, weil in dem Jahr Leon gewonnen hat und Ruby mit ihm auf Siegertour fahren musste. Sie hat so viel verpasst. Und an allem ist Snow schuld. Falls Ruby beschließt einen neue Rebellion zu starten, werde ich der erste sein, der sich ihr anschließt, wenn auch nur um dafür zu sorgen, dass Snow das bekommt, was er verdient. Und irgendwann wird er das. Doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Wir müssen unauffällig bleiben, in der Hoffnung, dass wir wenigstens zwei unserer Kinder vor der Arena bewahren können. Dass Snow diese Spiele ausreichen. Ich habe keine sehr großen Hoffnungen, dass es so ist. Doch trotzdem muss ich so denken. Ansonsten würde ich zusammenbrechen. Denn wie kann ich hier neben Ethan und Amy sitzen, wenn ich genau weiß, dass sie in den nächsten Jahren nicht mehr hier sein könnten? Gerade als Caesar sich von Ruby verabschiedet und so das Interview beendet, beginnt im Nebenraum das Telefon zu klingeln. Ich und Ethan zucken zusammen, Amy beginnt im Schlaf vor sich hin zu murmeln. Ich glaube zu hören, dass sie jetzt nicht an die Tür kommen kann, weil sie gerade beschäftig ist und muss lächeln. Dann stehe ich auf, denn nur eine Person würde um diese Zeit bei uns anrufen. Ich husche in den kleinen Raum, in welchem vollkommene Dunkelheit herrscht und greife nach dem Hörer. Ich weiß genau, wo er ist, selbst in der Dunkelheit, denn ich tue das seit Jahren. „Hallo?", sage ich kaum, dass ich den Hörer an mein Ohr gehoben habe. „Noel.", antwortet eine Stimme ohne Zögern und ich kann ihre Erleichterung hören. Ich fühle, wie etwas von der typischen Anspannung von mir abfällt und lächle leicht. „Ich habe dein Interview gesehen.", erwidere ich und höre Ruby am anderen Ende seufzen. „Ich wusste gar nicht, dass wir verheiratet sind.", witzle ich. Ruby schnaubt. „Ich habe nicht nachgedacht. Caesar hat mich so auf die Palme gebracht. Es war einfach alles zu viel. Ich wünschte, ich wäre zu Hause.", erklärt Ruby und diesmal seufze ich. Ja, zu Hause. Unser Zuhause. „Ich auch.", gebe ich zu. Stille breitet sich zwischen uns aus, aber sie ist nicht unangenehm, denn wir wissen beide, dass der andere noch da ist. „Ich vermisse dich so sehr.", wispert Ruby schließlich. „Es dauert nicht mehr lange. Dann bist du wieder da und dann lasse ich dich erst mal nicht mehr gehen.", entgegne ich, weil es das ist, was sie hören muss. Ich weiß, dass Ruby im besten Fall in 6 Monaten wieder gehen muss. Wenn Jade oder Stephen die Spiele gewinnt. Doch das erwähne ich nicht. Ich will nicht mal daran denken. Und Ruby genauso wenig. „Noel, ich muss wieder in den Raum zurückgehen. Ich will nicht so lange wegbleiben.", erklärt Ruby. „In Ordnung, aber vergiss nicht, dass du auch mal schlafen musst. Ich werde auch versuchen zu schlafen.", erinnere ich sie und ich muss grinsen, als ich Ruby kichern höre. „Samuel zwingt mich ja sowieso dazu. Ich könnte es gar nicht vergessen.", erwidert sie und wieder bin ich froh, dass Samuel mit ihr dort ist. „Wir reden morgen wieder.", verabschiede ich mich, denn ich weiß, wie dringend sie wieder zurück zu den Monitoren will. Sie muss auf Jade und Stephen aufpassen. „Bis morgen.", höre ich Rubys Stimme leise sagen, dann ist die Leitung tot und ich bin alleine. Ich lehne mich mit der Stirn an die Wand und schließe meine brennenden Augen. Nur noch ein paar Tage, dann kann ich endlich wieder ohne Angst vor Albträumen einschlafen. Nur noch ein paar Tage, dann bin ich wieder ganz.
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