Eine Woche zuvor ...

Sie ist bald hier! Irmgard Große ist aufgeregt. Schon den ganzen Morgen läuft sie unruhig durch die Wohnung. Jetzt schaut sie ein letztes Mal in den Spiegel und richtet mit zittrigen Fingern ihre Garderobe. Es muss alles perfekt sein!

Zum ersten Mal seit so vielen Jahren wird sie ihr Enkelkind wiedersehen. Ihre Tochter ist damals mit der kleinen Marie nach Spanien ausgewandert und hat seither nichts mehr von sich hören lassen. Nicht einmal einen Brief hat sie geschickt. Oder auch nur eine Adresse hinterlassen ... Ja, ich weiß, denkt Irmgard zerknirscht. Ich war keine gute Mutter. Aber musste sie denn gleich auswandern, um von mir wegzukommen? Irmgard hätte ihre Enkelin so gerne aufwachsen sehen! Oder ihr zumindest zum Geburtstag eine Karte mit etwas Geld geschickt. Aber das hat ihre Tochter ja verhindert.

Wie sie wohl ist?, fragt sich Irmgard nun. Hoffentlich nicht so ein Drache wie ihre Mutter. Irmgard schüttelt resigniert den Kopf. Dieses unverbesserliche Kind hat mir den letzten Nerv geraubt. Und dann ist sie auch noch mit siebzehn schwanger geworden!

Irmgard war damals so wütend, dass sie ihre Tochter vor die Tür gesetzt hat. Und als sie nach Maries Geburt endlich wieder bei klarem Verstand war und Sabine zurückholen wollte, hatte sich die schon aus dem Staub gemacht. Ohne ein einziges Wort des Abschieds. Durchgebrannt mit ihrem Versager von Freund. Aber das habe ich mir wohl selbst zuzuschreiben ...

Und dann war vor ein paar Wochen aus heiterem Himmel Maries Brief in der Post. Irmgard konnte es kaum glauben. Meine kleine Marie hat mich gefunden! Als sie daran denkt, stiehlt sich ein Lächeln auf Irmgards Gesicht. Das ist meine zweite Chance, denkt sie erleichtert. Eine Möglichkeit, alte Fehler wiedergutzumachen. Denn heute ist es endlich so weit: Marie kommt zu Besuch!

Und da klopft es auch schon. Das ist sie! Irmgard sieht sich hektisch in ihrem kleinen Häuschen um. Ist alles aufgeräumt? Stehen die Kekse auf dem Tisch? Liegt das Fotoalbum bereit? Wieder klopft es und Irmgard atmet noch einmal tief durch. Dann strafft sie die Schultern. Als sie die Tür öffnet, zittern ihre Hände noch immer. Und dann steht sie vor ihr: Marie. Wunderschön und erwachsen. Gekleidet in einen roten Mantel, auf dem Kopf ein rotes Käppchen.