XIV | 5.
Die Tür fiel ins Schloss. Orphelia beschleunigte ihre Schritte und sah noch einmal auf ihr Handgelenk. Das Blinken hatte nicht aufgehört, im Gegenteil, es war sogar noch intensiver geworden und drängte sie zur Eile. Dr. Clare hätte kaum einen schlechteren Zeitpunkt für eine Notfallversammlung wählen können - die Zeit, die Orphelia mit Jonathan verbrachte, war wichtig, besonders in den letzten Wochen, in denen seine Psyche so stark belastet war. Sie fluchte innerlich.
Auf dem Gang war weitaus mehr los als sonst. Um sie herum drängten dutzende Ärzte in die gleiche Richtung. Orphelia schloss sich ihnen an, ein Fleckchen Grün in all dem Rot. Doch jeder ihrer Schritte bereitete ihr ein undefinierbares Gefühl, eine unangenehme Mischung aus Übelkeit und Schuld. Sie konnte Jonathan doch nicht einfach alleine zurücklassen, oder? Er hatte so mitgenommen ausgesehen. Als sie den Bericht über seinen psychischen Zustand gelesen hatte, war sie zwar geschockt gewesen, hatte das allerdings für eine der vielen Überreaktionen Dr. Clares in Bezug auf den Jungen gehalten. Außerdem lag es nicht in ihrem Aufgabenbereich, dem Jungen Gesellschaft zu leisten oder ihm psychische Unterstützung zu bieten. Doch als sie dann an diesem morgen in sein Zimmer getreten war...
Dank ihrem Ernährungsplan hatte er nicht direkt dünn oder mager ausgesehen - aber etwas hatte ihm gefehlt. Etwas wichtiges. Dieser besondere Lebensfunke war aus seinen Augen geschwunden. Sie sah es an der Art, wie er in die Leere starrte, wenn sie nicht mit ihm sprach. Wie er bei den leisesten Geräuschen zuerst zusammenzuckte und dann herumfuhr. Und als er dann ihr Armband gesehen hatte... Unwillkürlich breitete sich von der Stelle ihres Handgelenks, an der es noch immer rot blinkte, eine Gänsehaut über ihren Körper aus. In diesem Moment schien auch der letzte Rest des Jonathans, den sie kannte, hinter einer undurchdringlichen Mauer aus Angst und Entsetzen verschwunden zu sein.
Orphelias Schritte wurden langsamer, sie stemmte sich gegen den anhaltenden Strom der Ärzte. Was auch immer Dr. Clare Wichtiges zu verkünden hatte, es konnte warten. Jonathan hatte Vorrang, das würde auch sie verstehen. Sie wollte - nein, sie musste nach ihm sehen. Auch, wenn sie sich nicht sicher war, woher dieser Drang stammte, konnte sie ihn einfach nicht mehr ignorieren. Ihre Schritte beschleunigten sich wieder, diesmal allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Orphelia drängte sich durch die Masse an Körpern und rot leuchtenden Bändern, zuerst langsam, dann immer hastiger, bis sie schließlich Gebrauch von ihren Ellenbogen machte und die Entgegenkommenden zur Seite stieß. Die empörten Rufe ignorierend, schaffte sie es schließlich aus dem Gedränge heraus und rannte den langen Gang entlang.
Die Tür! Endlich hatte sie sie erreicht. Orphelias Herz galoppierte in ihrer Brust und ihr Atem ging stoßweise, als sie ihr Handgelenk so hektisch gegen den Scanner drückte, dass sie sich die Knöchel an der Wand aufschlug. Der Schmerz war nebensächlich, während sie auf den erlösenden Signalton wartete. Bildete sie sich das nur ein oder dauerte es länger als gewöhnlich? Da, der Ton! Orphelia warf sich mit voller Wucht gegen die Tür - die sich kein bisschen bewegte. Das Display neben dem Scanner blinkte Rot auf und ein Text erschien.
Eine Notfallversammlung wurde einberufen, bitte begeben sie sich umgehend in den Versammlungssaal.
„Nein!" Orphelia warf sich ein weiteres Mal gegen das unnachgiebige Grau, schlug darauf ein. Nichts geschah. „Jonathan! Ich bin hier!" Bitte, bitte, er sollte sie hören und nicht-
Ein Schrei zerriss die Stille.
Und mit ihr Orphelias Seele.
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