7. Zeit für den Sturz
In der letzten Stunde hatten sie Japanisch und Koro-Sensei las mit ihnen eine Geschichte.
Karmas selbstbewusster Gesichtsausdruck war bereits seit einer Weile verschwunden, aber als Koro-Sensei plötzlich vor ihm stand und anfing ihm die Haare zu kämmen, sah er einfach nur verängstigt aus.
Egal wie viele Schwächen Koro-Sensei auch hatte und egal wie gut Karma bei Überraschungsangriffen war, es war unmöglich, diesen Lehrer zu töten.
Als die Stunde endete, verschwand Karma ohne ein Wort nach draußen. Nagisa lief ihm besorgt hinterher.
Nach einigem Zögern und der Erkenntnis, dass sie sowieso nichts zu tun hatte, folgte Elena den beiden. Karma war nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Man sollte ihn lieber nicht unbeaufsichtigt lassen und Nagisa war nicht in der Lage, irgendetwas auszurichten.
Tatsächlich war es ihr nicht komplett egal, sie merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Elena fand die beiden Jungen an einer hohen Klippe, einige Minuten durch den Wald vom Schulgebäude entfernt.
Karma saß auf einem mickrigen Baum, der gefährlich weit über die Klippe hinausragte. Nagisa stand hinter ihm und hielt besorgt Abstand zum Abgrund. Elena verzog sich in den Schatten ein paar großer Bäume. Der Wald reichte nicht bis vor zur Klippe, wahrscheinlich war der Boden einfach zu steinig.
"Karma-kun, beruhig dich! Lass es uns alle gemeinsam versuchen!", redete Nagisa ruhig auf seinen Freund ein. "Wenn Koro-Sensei sich erstmal auf dich fixiert hat, kannst du ihn nicht alleine töten, egal was du versuchst! Er ist nicht wie andere Lehrer!"
Karma, der unruhig auf seinem Fingernagel gekaut hatte, hob den Kopf. "Ein Lehrer? Wie ... wie ..."
Elena konnte sich grob vorstellen, an was er gerade dachte. Es hatte unmittelbar vor Karmas Schulverweis einen Vorfall mit ihrem ehemaligen Klassenlehrer gegeben. Vielleicht hatte das ja sogar etwas mit dem Verweis zu tun gehabt?
Der Lehrer hatte Karma sehr unterstützt und war immer auf seiner Seite gewesen, auch wenn er sich geprügelt hatte. Solange Karma dabei im Recht war, hatte er ihn immer in Schutz genommen und so verhindert, dass er schon viel früher einen Verweis bekommen hätte.
Und dann, eines Tages, war irgendetwas schief gegangen. Was genau wusste sie nicht. Es hatte genau zwei Verletzte gegeben, einen Schüler und den Lehrer. An diesem Tag hatte Karma einen Schulverweis bekommen. Es hatte so viele Gerüchte und Geflüster gegeben, dass sogar Elena darauf aufmerksam geworden war.
"Hm, nein. Das will ich nicht. Ich werde ihn töten!" Karma lächelte wieder wie ein Irrer und richtete sich auf.
"Nichts würde mich mehr ärgern, als wenn er von einem anderen getötet würde oder sogar zufällig stirbt."
"Du kannst jederzeit wieder versuchen, mich zu töten!" Koro-Sensei war auf einmal hinter den beiden aufgetaucht und Nagisa fuhr herum.
Der Lehrer lachte und sein Gesicht bekam grüne Streifen. Das Zeichen, dass er fröhlich war.
Aber Karma lächelte entspannt und stand auf.
"Ich will nur auf Nummer sicher gehen, Sie sind ein Lehrer, stimmt's?"
Er sah Koro-Sensei direkt ins Gesicht.
"Richtig."
"Und würden Sie Ihre Schüler mit Ihrem Leben beschützen?"
Elena hatte ein ungutes Gefühl bei der Frage.
Allerdings konnte ihr das jetzt auch egal sein, Koro-Sensei war da und hatte alles unter Kontrolle. Es gab also keinen Grund mehr für sie, zu bleiben. Ganz langsam, damit ihre Klassenkameraden sie nicht bemerkten, lief sie zurück zum Schulgebäude.
"Natürlich!", erwiderte Koro-Sensei energisch. "Schließlich bin ich Lehrer!"
"Gut, dann kann ich Sie auch töten!"
Etwas in Karmas Stimme veranlasste Elena dazu, sich umzudrehen und ihn direkt anzuschauen.
Karma zog seine Pistole und richtete sie auf Koro-Sensei.
"Definitiv!"
Plötzlich ließ er sich nach hinten fallen und stürzte die Klippe hinab.
Elena erstarrte. Das konnte nicht wahr sein! Das konnte einfach nicht sein!
Ihren Plan, unauffällig zu verschwinden, verwarf sie innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde. Schnell rannte sie zu Nagisa, der panisch hinab blickte.
Karma würde sterben! Kein Mensch würde diesen Sturz überleben, das war viel zu hoch!
Ohne zu zögern sprang sie dem Jungen hinterher.
Selbst wenn ihr Geheimnis jetzt aufflog, sie konnte niemanden vor ihren Augen sterben lassen! Nie wieder! Sie musste es verhindern!
Auf einmal spürte sie, wie sich ein Tentakel um ihre Hüfte schlang. Koro-Sensei zog sie wieder nach oben und setzte sie neben Nagisa, der noch immer geschockt hinunter blickte, auf den Boden.
"Das war sehr töricht von dir!", schimpfte der Lehrer, dann verschwand er wieder.
Elena antwortete nicht.
Für Koro-Sensei oder Nagisa mochte es zwar wie eine Selbstmordaktion ausgesehen haben, aber eigentlich waren ihre Chancen, Karma zu retten ziemlich gut gewesen.
Sie konnte Fliegen, was es zu einem Kinderspiel machen würde, Karma zu helfen, aber vermutlich war es wirklich besser, geheimzuhalten, dass sie ein übermenschliches Wesen, ein Phoenix, war. Es brachte in einer magielosen Welt wie dieser nichts als Ärger, wenn jemand davon erfuhr.
Außerdem gab es diesen Vorfall. Vor 14 Jahren. Seitdem hatte sie ihre Kräfte kein einziges Mal mehr eingesetzt und wenn es nach ihr ginge, würde sie es auch nie mehr tun. Doch diesmal war es ein Notfall ... Sie konnte nicht zulassen, dass jemand einfach so starb!
Elena starrte nachdenklich ins Leere. Was hatte Karma vor?
Koro-Sensei würde ihn definitiv retten ... aber Karma hatte eine Waffe. Wollte er den Lehrer töten, sobald er versuchte, ihn zu retten? Wenn Koro-Sensei ihn nicht retten würde, wäre er für den Tod seines Schülers verantwortlich und könnte nicht länger Lehrer sein.
Elena wurde blass. Egal, was passieren würde, Karma würde dabei sterben, denn nur ein lebender Koro-Sensei konnte ihn retten!
"Ich sehe mein ganzes Leben an mir vorbei ziehen!", rief Karma laut genug, dass Nagisa und Elena es hören konnten. Auch sein Lachen klang bis zu ihnen nach oben.
***
Karma spürte, wie der Wind an ihm vorbeipeitschte. Er fiel, schneller als er erwartet hätte, aber gleichzeitig lief alles so langsam ab. Er erinnerte sich an all die letzten Jahre.
Er hatte sich oft geprügelt, weil Nagisa, früher ein guter Freund von ihm, irgendwie immer das Mobbingopfer war.
Naja, vielleicht nicht nur deshalb. Er genoss das Gefühl, andere mit seinen Knöcheln zu treffen und zuzusehen, wie sie Angst bekamen. Wie ihr Selbstbewusstsein bröckelte, wenn sie merkten, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatten.
"E-Klasse? Du gehst in die E-Klasse? Das muss echt schrecklich für dich sein. Deshalb wirst du also gemobbt!"
Er hatte lange gar nicht wirklich gewusst, warum sein Freund so behandelt wurde. Es hatte ihn auch nicht weiter interessiert, schließlich reichte es, wenn er ihn verteidigte und dafür andere Schüler bezahlen lassen konnte.
Solange er das tat, hatte er auch die Unterstützung seines Lehrers sicher, schließlich setzte er sich für andere ein.
"Ich bin doch im Recht! Was ist falsch daran, einem Schüler zu helfen, der gemobbt wird?"
Doch dann war auf einmal alles zu Staub zerfallen. Brutal zerschlagen, bis nur noch feine Scherben übrig waren.
"Nein, Akabane-kun!", schrie sein Lehrer ihm ins Gesicht. "Egal, wie man es betrachtet, du bist nicht im Recht!"
Karma saß seinem Lehrer gegenüber. Hinter dem Erwachsenen stand ein Schüler der A-Klasse. Er hatte einen gebrochenen Arm und trug einen Verband um den Kopf. Außerdem stützte er sich auf eine Krücke. Er erinnerte sich gar nicht mehr daran, wie der Schüler aussah oder wer es eigentlich war. Das hatte ihn noch nie interessiert.
"Hast du den Verstand verloren?", fragte sein Lehrer Karma wütend. "Wie kommst du darauf, einen der besten Schüler des Jahrgangs zu verletzen?"
"Was?" Als er seine eigene Stimme hörte, so unsicher und verwirrt, stieg Wut in ihm hoch. Warum war er damals überhaupt so verletztlich gewesen? Er hätte ihn auf der Stelle vernichten sollen. "Nein, warten Sie, Sensei!"
"Du hast einem aus der E-Klasse geholfen und jemanden verletzt, der noch eine Zukunft hatte!", schnitt der Lehrer ihm das Wort ab. "Wenn das seine Leistungen beeinflusst, muss ich den Kopf dafür hinhalten!"
"Sie sagten, Sie wären auf meiner Seite!" Karma klang verletzt. "Und nun verhalten Sie sich so!"
In diesem Moment begann die Haut des Lehrers abzublättern und Karma erinnerte sich genau daran, was er damals gedacht hatte: "Scheiße! Er stirbt!"
"Deine Noten waren das einzig Gute an dir!"
Mit seiner Haut verlor der Lehrer auch sein Gesicht.
"Nur deshalb habe ich dich immer in Schutz genommen! Aber wenn du anfängst, meiner Karriere zu schaden, dann sieht das anders aus!"
Die schwarzen Augenhöhlen starrten ihn gruselig an, aber Karma empfand keine Angst. Stattdessen schoss Wut durch seine Adern und drohte, ihn zu verbrennen.
"Ich habe deine Versetzung angeordnet!"
Vor Karmas Augen löste sich auch das letzte Stück Haut auf. Nur noch ein schwarzer Schädel, der sich zu einer Grimasse verzog, starrte ihn an.
"Gratuliere, Akabane-kun! Dein nächstes Jahr wirst du in der E-Klasse verbringen!"
"Er hat mich fallen gelassen..." Karmas Stimme war eiskalt. "Er hat mich verraten. Für mich ist er gestorben. Er ist tot!"
Seine folgenden Erinnerungen waren unvollständig. Er wusste nicht mehr, was er getan hatte, als sein Blickfeld rot geworden war.
Als Karma den Raum verließ, war sein Gesicht vor Hass verzerrt. Vom Tisch und den Regalen waren nur noch Trümmer zu erkennen und der Lehrer saß zitternd am Boden.
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