3. Zeit für den Teufel
Die erste Stunde war bereits zur Hälfte vorbei, als Elena müde die Klassenzimmertür öffnete.
"Shiroi-san!", rief Koro-Sensei empört. "Der Unterricht hat schon längst angefangen!"
Elena nickte nur und ging zu ihrem Platz. Nagisa warf ihr einen mitfühlenden Blick zu, aber Elena bemerkte davon nichts. Sie blickte einfach nur auf den Boden vor ihren Füßen.
"Dann stell doch bitte deine Hausaufgabe vor", bat der Lehrer. "Den Aufsatz."
"Hab ich nicht", murmelte Elena.
"Ich habe dich doch gestern noch darum gebeten!" Koro-Sensei schien nicht wirklich sauer, sondern eher deprimiert, weil sie seine Bitte einfach ignoriert hatte. "Ich werde dich in den nächsten Tagen öfter dran nehmen, also mach bitte deine Aufgaben, ja? Wenn du etwas nicht verstehst oder Hilfe brauchst, kannst du dich gerne bei mir melden!"
Elena nickte und blickte wieder abwesend auf ihren Tisch.
Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Mal wieder. Seit damals.
Auch heute hatten sie in der zweiten Stunde Sport und übten draußen.
Sie begannen wieder mit Ausdauerlauf und Elena und Okuda liefen die ganze Strecke gemeinsam, auch wenn sie nach drei der fünf Runden aufgaben.
Koro-Sensei freute sich allerdings zu sehr, dass die beiden schon so etwas wie Freundschaft geschlossen hatten, um sich darüber zu beschweren.
Auch Herr Karasuma war anwesend. Er stand neben Koro-Sensei, wieder in seinem schwarzen Anzug und mit ordentlich kurzen, dunklen Haaren, die darüber hinwegtäuschten, dass er kein einfacher Angestellter der Regierung, sondern ein Elitesoldat war, wie Elena mittlerweile erfahren hatte.
Er war dafür zuständig, die Schritte von Koro-Sensei und den Schülern zu überwachen.
Diesmal mussten sie nach dem Laufen mit Schusswaffen üben. Dazu hatten sie eine Reihe an Zielscheiben aufgestellt.
Als Elena an der Reihe war, zögerte sie und starrte auf die Pistole in ihrer Hand.
"Versuch einfach erst einmal zu schießen", erklärte Herr Karasuma und Koro-Sensei nickte.
"Streck den Arm vor und drück ab. Es ist gar nicht so schwer!"
Das wusste Elena selber. Das Schießen war kein Problem, das Risiko, dass sie traf, war viel schlimmer.
"Du musst nur auf eine Papierscheibe schießen, du kannst dich nicht verletzen. Und auch sonst niemanden", beruhigte Koro-Sensei sie, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
"Da hat er recht, selbst wenn du jemanden treffen würdest, gäbe es keine Verletzung, du brauchst keine Sorgen zu haben." Herr Karasuma stimmte dem Oktopus zu und sah sie geduldig an.
Elena nickte langsam. Die beiden hatten recht ... Es war eine Spielzeugwaffe und sie würde niemanden treffen. Sie streckte den Arm vor und schoss. Als sie hörte, wie die Kugel das Papier durchlöcherte, zuckte sie leicht zusammen.
"Wie ich schon sagte, ab heute werde ich den Sportunterricht übernehmen", wandte sich Herr Karasuma solange an Koro-Sensei.
"Das macht mich schon ein bisschen traurig ..." Der Oktopus klang tatsächlich enttäuscht.
"Und ich habe Ihnen schon gesagt, Sie sollen während dem Training woanders hingehen."
"Aber ich will doch ...", setzte Koro-Sensei jammernd an.
"Wie sollen wir denn üben, wenn die Zielperson daneben steht!"
"Aber ..."
"Spielen Sie doch dort hinten im Sandkasten!", meinte Herr Karasuma etwas unwirsch, als Koro-Sensei keine Anstalten machte, zu gehen.
Nach dem Vorschlag des neuen Lehrers verschwand Koro-Sensei und begann tatsächlich, eine Sandburg zu bauen.
Ein paar Schüler hatten eine Pause gemacht und zugeschaut.
"Wir fahren mit dem Unterricht fort!", rief Herr Karasuma, den sie ab jetzt Karasuma-sensei nennen mussten.
Doch die Schüler zögerten. Schließlich sprach Maehara aus, was sie alle dachten: "Sagen Sie, Karasuma-sensei, welchen Sinn hat dieser Sportunterricht überhaupt?"
Karasuma-sensei schien zu verstehen.
"Also gut, Isogai-kun, Maehara-kun, habt ihr eure Messer da? Versucht, mich damit zu erwischen."
Als beide Jungen zögerlich ihre Gummimesser zogen, wurde Elena schlagartig kalt.
"Sind Sie sicher?", fragte Isogai. "Wir beide?"
"Diese Messer sind für Menschen ungefährlich, also worauf wartet ihr?"
Genau, die Messer waren ungefährlich. Es war alles gut. Gummimesser, es sind nur Gummimesser, beschwor sich Elena immer wieder. Es war alles gut. Alles gut. Niemand konnte sich verletzen, schließlich waren die Waffen nur aus Gummi.
Außerdem würden es zwei normale Schüler nicht schaffen, einen Elitesoldaten wie Karasuma-sensei zu erwischen.
Während sie das immer weiter wiederholte und den Blick abwandte, beruhigte sie sich langsam wieder, auch wenn die Gänsehaut blieb.
Elena behielt recht. Die beiden versuchten erst zaghaft und vorsichtig, ihn mit den Messern zu treffen, doch der Lehrer wich ohne jegliche Schwierigkeiten aus.
Schließlich wurden sie mutiger, doch egal wie schnell sie angriffen, Karasuma-sensei hatte keine Probleme mit ihnen. Er blockte ab und wich aus, bis er sie endlich an den Handgelenken packte und gleichzeitig zu Boden warf.
"Wenn ihr es nicht einmal schafft, mich zu besiegen", rief Karasuma-sensei eindringlich, "werdet ihr gegen ihn keine Chance haben."
Er deutete hinter sich zu Koro-Sensei und half den beiden Schülern wieder auf die Beine.
"Während wir hier kurz gekämpft haben, hat er den chinesischen Palast aus Sand nachgebaut, sich umgezogen und trinkt jetzt Tee. In gerade mal 2 Minuten!"
Die Klasse nickte langsam und Schweigen breitete sich aus. Der Sportlehrer hatte ja recht, wie sollte einer Schulklasse etwas gelingen, an dem die Regierung gescheitert war?
"Ich werde euch in den nächsten Wochen alle Grundlagen beibringen, die ihr braucht, um erst mich und schließlich eure Zielperson zu besiegen. Dafür ist dieser Unterricht da." Er blickte sie alle eindringlich an, um sicherzugehen, dass sie ihn verstanden hatten.
"Das war es dann für heute!"
Damit machte er sich auf den Weg zurück zum Schulgebäude.
Die Klasse löste sich in kleine Gruppen auf, alle wirkten nach Karasuma-senseis Demonstration ziemlich niedergeschlagen.
Auf einmal tauchte ein fremder Junge mit roten Haaren auf der Anhöhe vor dem Schulgebäude auf und zog sofort die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf sich.
"Hallo, Nagisa-kun!", rief er zu ihnen nach unten. Nagisa grüßte zurück.
Es war Karma, erkannte Elena. Er war wie sie in der A-Klasse gewesen und ein alter Freund von Nagisa.
Nun lächelte er diesen an und kam die Treppe hinunter zu ihnen. Als er nicht mehr gegen das Licht stand, konnten alle ihn genauer betrachten, was sie auch neugierig taten. Er war groß und schlank und hatte erstaunlich sanfte Gesichtszüge. Seine Augen waren goldfarben und irgendwas war mit ihnen komisch, fand Elena. Aber sie wusste nicht was. Eigentlich war es aber auch egal.
Sie wandte den Blick von ihm ab und richtete ihn auf Koro-Sensei, der den Schüler ebenfalls neugierig betrachtete.
"Sie sind also Koro-Sensei? Wow, Sie sehen wirklich aus wie ein Oktopus!" Karma lief neugierig auf Koro-Sensei zu.
Der Lehrer grüßte ihn. "Du bist Akabane Karma-kun? Heute wurde dein Schulverweis aufgehoben, nicht wahr? Mir wurde schon berichtet, dass du heute kommen würdest. Aber du bist schon am ersten Tag zu spät!"
Er schimpfte zwar mit ihm, aber man konnte ihm anhören, dass er nicht richtig wütend war. Der Junge lachte verlegen.
"Tut mir leid", entschuldigte er sich und zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ich habe mich noch nicht wieder an das frühe Aufstehen gewöhnt. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Sensei! Nennen Sie mich doch einfach Karma."
Er streckte dem Lehrer freundlich die Hand hin.
"Die Freude ist ganz meinerseits! Auf ein gutes Jahr!"
Koro-Sensei lachte und reichte ihm den Tentakel.
Plötzlich war der sanfte Gesichtsausdruck des Jungen wie weggewischt.
Er drückte Koro-Senseis Tentakel, der zerplatzte wie ein Luftballon, in den man ein Loch gepiekst hatte.
Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf Karmas Gesicht aus.
Er ließ sein Getränk fallen und stach mit einem Messer, das er in seinem Ärmel versteckt hatte, zu. Koro-Sensei wich erschrocken zurück.
"Wow, scheinbar sind Sie wirklich so schnell wie alle sagen! Und diese Messer sind auch echt effektiv!" Der Junge hob eine Hand. Jetzt sah auch Elena, dass er sich die Stücke eines Messers auf die Hand geklebt hatte.
"Aber ich bin überrascht, Sensei, dass Sie auf so einen simplen Trick hereinfallen!" Zufrieden betrachtete Karma Koro-Senseis Tentakel, welcher noch nicht wieder nachgewachsen war.
"Und dann springen Sie auch noch so weit weg!", fuhr er höhnisch fort. "Haben Sie etwa Angst vor mir?"
Koro-Sensei, der drei Meter von ihm entfernt stand und immer noch vor Schreck zitterte, antwortete nicht. Seelenruhig spazierte Karma auf ihn zu.
Die ganze Klasse hielt den Atem an. Noch keinem von ihnen war es gelungen, den Lehrer zu verletzen.
Während Karma immer näher kam, wuchs Koro-Senseis Tentakel nach.
"Ich habe gehört, der Name Koro-Sensei kommt von »korosenai«, also »unmöglich zu töten«", machte sich Karma über ihn lustig.
Direkt vor ihm blieb er stehen und tatsächlich wich der Lehrer einen Schritt nach hinten.
Karma grinste breit und beugte sich noch ein Stück vor. Wieder wich Koro-Sensei zurück.
Der Junge lachte leicht irre und sah den Lehrer schräg von unten an. "Dabei wird das doch ein Kinderspiel!"
Koro-Sensei wurde vor Wut ganz rot. Je nach Stimmung änderte sich seine Gesichtsfarbe.
Sehr mit sich zufrieden, spazierte Karma zurück zu den anderen Schülern und spielte dabei mit dem Messer. Gekonnt wirbelte er es herum und vollführte ein paar Angriffe. Elena erkannte auf den ersten Blick, dass er wusste was er tat.
Sie merkte, wie sie schneller atmete und versuchte hastig, sich wieder zu beruhigen. Es war immer noch nur ein Gummimesser ...
Als der Rothaarige sein Messer wegsteckte, sah Elena ihm für einen kurzen Moment in die Augen. Und sofort setzte ihre Atmung aus und ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Karmas Augen erinnerten sie an ein Raubtier und sie waren voller Hass.
Er würde keine Sekunde zögern, jemanden zu töten.
Ihr wurde übel und ihr Herzschlag dröhnte in ihrem Kopf. Diesmal konnte sie nichts dagegen tun.
Auch Koro-Sensei schien Karmas Mordlust zu spüren, denn er stand stocksteif da und gab zur Abwechslung keinen Kommentar ab.
Karma hingegen sammelte sein Getränk wieder auf und machte es sich auf der Treppe gemütlich. Es herrschte bedrücktes Schweigen aus einer Mischung aus Bewunderung für Karma und Angst vor ihm.
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