10. Zeit für unerwünschte Gedanken
Als der Unterricht begann, war Koro-Sensei nicht da. Alle blickten sich irritiert um. Der Lehrer kam eigentlich nie zu spät. Wie denn auch, er konnte sich mit Mach 20 bewegen.
Als Isogai gerade Karasuma-sensei suchen wollte, kamen die beiden Lehrer schon herein.
Bei ihnen war eine junge Frau. Sie hatte lange, blonde Haare und trug sehr knappe Kleidung, die ihr allerdings gut stand. Sie sah aus wie ein Model, bis auf die Tatsache, dass sie an Koro-Sensei klebte wie eine Klette, was diesen nicht zu stören schien.
Alle warfen sich leicht verwirrte Blicke zu, denn Koro-Sensei hatte sich als Mensch verkleidet. Es war die gleiche Verkleidung, die er am Vorabend bei Elena getragen hatte.
"Sie sind so wunderbar!", säuselte die Frau und starrte den Oktopus bewundernd an, der sich langsam seine Verkleidung auszog.
"Ähm, also ich ...", begann der Lehrer etwas verlegen, wurde aber unterbrochen.
"Ach, das macht mir gar nichts aus!", rief die Frau. "Diese Tentakel mit den undefinierbaren Gelenken und ihre Augen! Sie sehen aus wie Magentabletten! Sie sind so wundervoll!"
Niemand wusste, was er dazu sagen sollte. Das Verhalten dieser Frau war einfach absurd.
"Laut der neuen Ordnung sollen Fremdsprachen in Zukunft von Muttersprachlern unterrichtet werden", erklärte Karasuma-sensei der Klasse. "Von daher wird Jelavic Irina, für euch Irina-sensei, die neue Hilfskraft in Englisch sein."
Irina-sensei warf ihnen keinen Blick zu. Sie war ausschließlich damit beschäftigt, Koro-Sensei anzuhimmeln.
Elena ließ ihren Blick skeptisch durch die Klasse schweifen und stellte fest, dass sie mit ihrer Vermutung nicht die Einzige war. Sie alle waren nicht dumm. Wenn jetzt eine neue Lehrerin kam, dann konnte das nur an Koro-Sensei liegen.
Und das bedeutete, Irina-sensei war eine Killerin.
Als erstes hatten sie allerdings Matheunterricht bei Koro-Sensei und Irina-sensei verschwand mit Karasuma-sensei im Lehrerzimmer.
"Dann fangen wir jetzt mit dem Unterricht an!", rief Koro-Sensei fröhlich. "Wir beginnen mit den Hausaufgaben! Hat sie jemand nicht gemacht?"
Elena meldete sich zögerlich.
"Nun gut, dann fangen wir trotzdem direkt an. Möchte jemand seine Hausaufgaben vorstellen?"
Diesmal meldete sich niemand.
"Na schön, wenn niemand will, dann Karma-kun, was hast du denn als Lösung?"
Und schon schaltete Elena wieder ab.
Eigentlich war es doch egal, ob sie ihre Hausaufgaben machte. Warum war es Koro-Sensei überhaupt so wichtig? Es war so unwichtig, wenn sie es nichtmal schaffte, jemanden zu beschützen.
Wenn sie es nicht einmal schaffte, ihn zu beschützen ...
Warum konnte Koro-Sensei sie nicht einfach in Ruhe lassen, wie es alle anderen auch taten?
Als endlich Pause war, setzte sich plötzlich Karma ihr gegenüber.
"Marylin-san wusste also nachdem du ihr gesagt hast, wie es in der Schule läuft", knüpfte er nahtlos an das Gespräch vor dem Unterricht an.
Elena nickte und Karma musterte sie wieder. Allerdings richtete Elena ihren Blick schnell auf den Tisch vor sich. Warum musste sich Karma nun in ihr Blickfeld setzen?
Karma grinste tückisch, dann schien er endlich eine Frage formuliert zu haben.
"Marylin-san ist nicht oft da, oder? Die eigentlich Frage ist, wann du es ihr gesagt hast."
Elena schwieg. Es ging ihn absolut nichts an. Warum ging er nicht einfach zu den anderen? Was interessierte ihn so sehr, dass er sie die ganze Zeit mit Fragen löcherte?
Dann fiel ihr etwas ein. Als ihre ehemaligen Klassenkameraden sich darüber lustig gemacht hatten, dass sie keine Eltern hatte, hatte Karma eingegriffen, ohne einen Grund dafür zu haben. Dass er es nicht wegen ihr getan hatte, war Elena klar. Aber war es dann vielleicht, weil seine Eltern ...?
"Ja, Marylin kommt nur selten vorbei, meistens bin ich allein."
Nun erschien es ihr nicht mehr fair, ihm gar nicht zu antworten.
"Okay, dachte ich mir."
Eine kurze Pause entstand, dann gab Karma zu: "Ist bei meinen Eltern auch so."
Elena hob den Kopf und blickte ihn kurz erstaunt an, dann sah sie schnell wieder nach unten.
Er hatte also Eltern, die aber nie da waren? Vermutlich hatte er die Dose wirklich deswegen auf den A-Klässler geworfen.
"Warum hast du deine Mutter gerade beim Vornamen genannt?"
"Marylin ist meine Adoptivmutter und ..." Elena stockte kurz. "Für mich war sie einfach immer Marylin, deswegen nenne ich sie so."
Karma nickte und Elena hoffte, dass er endlich alle seine Fragen gestellt hatte. Es war ungewohnt, so viel mit jemandem zu reden. Vor allem über persönliche Dinge, die sie eigentlich nie ansprach oder wenn möglich mit Lügen umging ...
"Noch eine Frage", wechselte Karma auf einmal das Thema und begann zu grinsen. "Hast du Angst vor mir?"
Elena erstarrte. Wie kam er darauf?
"Du weichst mir die ganze Zeit aus, du schaust extra auf den Tisch, um mich nicht anschauen zu müssen."
Was sollte sie antworten? Sie hatte keine Angst vor Karma. Nur vor ...
"Nein, hab ich nicht."
"Ach, ja? Dann schau mich doch an und sag mir das ins Gesicht oder traust du dich doch nicht?" Zögerlich hob Elena den Kopf. Es sollte doch gehen, oder? So schlimm war es eigentlich gar nicht, das redete sie sich nur selbst ein, indem sie immer wegsah ... Ganz sicher.
"Ich ... hab keine Angst ..." Elena wurde immer leiser. Warum waren seine Haare so? Warum hatten sie die gleiche Farbe wie frisches Blut?
"Ich hab keine Angst vor dir", murmelte sie so schnell sie konnte und blickte wieder nach unten.
Karma schien ihr nicht zu glauben und das war auch verständlich, musste Elena zugeben. Aber trotzdem ... Es lag ja wirklich nicht an ihm!
"Na schön, ich bekomme schon noch eine Antwort", verkündete Karma mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck und setzte sich wieder auf seinen Platz neben ihr. Elena atmete erleichtert aus.
"Da bin ich wieder!", rief Koro-Sensei wenige Minuten später. "Setzt euch bitte alle wieder hin! Es geht weiter mit Japanisch! Auch hier hattet ihr Hausaufgaben auf. Ich sammle sie kurz ein."
Im nächsten Moment stapelten sich ihre Hefte auf seinem Pult.
"Sehr gut! Während ich mit korrigieren anfange, bearbeitet ihr bitte im Buch die Seite 14 Wer eine Frage hat, meldet sich bitte!"
Dass Elena die Hausaufgaben nicht hatte, erwähnte er nicht, allerdings würde sie nach dem Unterricht vermutlich wieder einen Vortrag zu hören bekommen.
Still schlug Elena ihr Buch auf und blätterte zur richtigen Seite.
Wähle einen der drei folgenden Arbeitsaufträge aus:
a) Schreibe eine Nacherzählung als Brief an deinen Lehrer ...
b) Schreibe ein Gedicht ...
c) Schreibe eine Erzählung in Dramenform ...
... über den glücklichsten Moment deines Lebens oder ein besonders fröhliches Ereignis, das dir in Erinnerung geblieben ist.
Stumm starrte Elena die Aufgabe an.
Ein fröhliches Ereignis? Der glücklichste Moment ihres Lebens? Wann war so etwas passiert? Sie dachte nach. War da etwas gewesen? In den letzten 14 Jahren nicht. Davor? Damals, als ...
Sie stoppte ihre Gedanken abrupt.
Nein, an die Zeit vor damals wollte sie nicht denken. Das ging nicht.
Während sie da saß und überlegte, was sie tun sollte, verstrich die Zeit.
Und als Koro-Sensei rief "So fertig! Wer möchte seine Aufgabe vorlesen?" hatte sie noch kein Wort geschrieben.
Viele meldeten sich. Manche hatten von einem schönen Geburtstag geschrieben, andere von einem guten Zeugnis, das sie bekommen hatten.
Kanzaki hatte ein wunderschönes Gedicht über den Wert von Freundschaft geschrieben. Sie meinte, sie hätte kein bestimmtes Ereignis gefunden und wollte alle Momente mit ihren Freunden so zusammenfassen. Als sie fertig mit vorlesen war, klatschten alle.
Mit Ausnahme von Elena. Das Gedicht hatte sie an Dinge erinnert, die sie vergessen wollte. Sie brauchte keine Freundschaft. Sie brauchte niemanden, nur ihre Ruhe. Alles andere war doch egal ...
Nagisa hatte einen Brief an Koro-Sensei geschrieben, über seine Einschulung an der Kunugigaoka-Mittelschule und wie sehr er sich damals gefreut hatte. Vor allem Koro-Sensei freute sich darüber, dass Nagisa ihn ausgesucht hatte.
Und dann rief Koro-Sensei plötzlich Elena auf.
Sie starrte ihn ausdruckslos an.
"Was ist los?", fragte ihr Lehrer. "Ist alles in Ordnung? Lies doch vor!"
Elena rührte sich nicht.
"Na los! Nicht so schüchtern!", ermutigte er sie.
"Ich habe nichts geschrieben", antwortete sie ihm leise.
Koro-Senseis Gesicht färbte sich lila und ein großes Kreuz erschien. "Warum denn nicht? Lies doch zumindest das vor, was du bis jetzt hast. Dann kannst du es später fertig schreiben."
"Ich habe nichts geschrieben", wiederholte sie genauso leise wie zuvor.
Sie blickte niemanden an, sondern starrte stur auf ihren Tisch.
Koro-Sensei kam auf sie zu und legte ihr besorgt einen Tentakel auf die Stirn.
"Fühlst du dich nicht gut? Hast du dich vielleicht erkältet? Oder hast du Fieber? Du siehst so blass aus! Ist wirklich alles in Ordnung?"
"Es geht mir gut!", meinte Elena plötzlich laut und schlug den Tentakel zur Seite.
Alle blickten sie erstaunt an.
Doch Elena schwieg. Koro-Sensei rief sie mehrmals auf, aber er bekam keine Antwort.
Die Worte Freundschaft und Freude hallten ihr im Kopf herum, als hätte sie jemand gewaltsam hineingeprügelt. Immer und immer wieder. Alles drehte sich im Kreis.
Warum waren alle nur so nervig? Warum bekamen sie ausgerechnet jetzt solche Aufgaben? Warum konnte nicht alles so bleiben, wie bisher?
Freundschaft, Freude, Freundschaft, Freude, Freundschaft, Freude, Freundschaft, Freude, Freundschaft, ...
Mit jeder Wiederholung wurde die Luft dünner, die sie einatmete. Sie atmete schneller, um es auszugleichen, aber es wurde nur schlimmer. Wieso musste das passieren? Konnte sie nicht einfach aufhören zu denken? Sie wollte atmen können, ganz normal. Aber es kam einfach keine Luft in ihren Lungen an.
Ein Bild zuckte durch ihren Kopf. Ein freundliches Gesicht grinste sie frech an. Es sah aus als wolle er ihr sagen: Was machst du denn für ein Gesicht? Ich bin doch da!
Doch plötzlich veränderte es sich. Sein Gesicht wurde vor Wut verzerrt. Blut rann aus seinem Mundwinkel.
"Du bist schuld!", schrie er. "Es ist deine Schuld! Mörderin!"
Elena wurde übel. Sie musste würgen und hielt sich schnell den Mund zu. Ohne ein Wort stand sie auf und lief hinaus. Kaum war sie auf der Toilette angekommen, übergab sie sich. Keuchend kniete sie auf dem Boden. Sie konnte nicht aufhören zu zittern.
"Mörderin!", hallte es in ihren Gedanken.
Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein, sie war keine Mörderin!
"Es ist deine Schuld! Es ist nur deine Schuld!"
Nein, sie war ...
Plötzlich erstarb ihr Widerstand. Es stimmte. Sie war schuld. Sie war schuld. Sie ...
"Shiroi-san? Alles in Ordnung bei dir?" Kanzaki blickte sie besorgt an.
Elena wandte den Kopf und sah ihre Mitschülerin leer an.
"Geht es dir gut?"
"Hm ...?" Was hatte Kanzaki gesagt? Sie hörte nichts anderes als das laute Pochen ihres Herzschlags. Und Rauschen.
"Koro-Sensei!", rief Kanzaki. "Kommen Sie bitte!"
Das Mädchen hatte kaum fertig gesprochen, da war er schon da und blickte zu Elena hinunter.
"Shiroi-san? Wie geht es dir? Willst du etwas trinken? Ist dir noch übel? Willst du ..."
Er stellte Fragen über Fragen, aber keine einzige davon drang zu Elena durch.
Ohne ein Wort zu sagen, stand sie langsam und zitternd auf und ging wieder zurück ins Klassenzimmer, nachdem sie sich am Waschbecken den Mund gewaschen hatte. Kanzaki und ihr Lehrer folgten ihr, bereit sie zu stützen, falls sie Hilfe brauchte.
Als Elena zu ihrem Platz ging, lagen alle Blicke auf ihr, aber auch das nahm sie nicht wahr. Sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen, bis sie vor ihrem Stuhl stand. Immer im Rhythmus ihres Herzschlages, der noch immer ihren ganzen Kopf einnahm. So laut, dass eigentlich jeder ihn hören sollte.
Ihre Hände waren feucht, sie traute sich nicht, sie anzublicken, aus Angst die rote Farbe daran zu sehen.
"Das wäre doch eine super Möglichkeit gewesen, ihn zu töten", meinte Karma, als sie sich setzte.
"Töten?" Sie fuhr zu ihn herum.
Töten. Mord. Mörderin. Das Geschrei in ihrem Kopf flammte wieder auf.
"Ja, wir müssen unseren Lehrer töten ..." Karma sah sie stirnrunzelnd an. Seine Haare waren genauso rot wie das Blut, das überall klebte ...
Zu erschöpft, um sich gegen die Stimmen in ihrem Kopf zu wehren, blickte Elena auf den Tisch. Dass Koro-Sensei mit dem Unterricht fortfuhr, bemerkte sie genauso wenig, wie die Blicke von Kanzaki und Karma, die teils besorgt und teils neugierig auf ihr lagen.
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