~ prolog : für diesen moment ~
Der Schnee hatte die Landschaft in eine glitzernde Decke gehüllt, die im schwachen Licht der Wintersonne schimmerte. Die Luft war kalt und klar, und jeder Atemzug, den Rosalie machte, zeichnete sich als weißer Hauch in der eisigen Luft ab. Ihre Wangen waren rosig vor Kälte, ihre rote Haarpracht zu einem dicken Zopf geflochten, der unter der Kapuze ihres wollenen Umhangs hervorlugte. Der Umhang selbst war dunkelgrün, bestickt mit filigranen Mustern, ein Geschenk ihrer besten Freundin Elenora, die sich immer um die Schönheit und Eleganz von Kleidung kümmerte.
„Beeil dich, Rosalie! Du bist so langsam wie ein alter Karren!“ rief Elenora fröhlich, ihre braunen Augen funkelnd, als sie sich lachend im Schnee drehte. Sie war von Natur aus lebhaft und unbeschwert, ihre braunen Locken hüpften bei jeder Bewegung.
Rosalie seufzte und zog ihren Umhang enger um sich. „Elenora, wenn du noch länger so wild herumläufst, wirst du sicher ausrutschen und dir ein Bein brechen.“ Doch sie konnte nicht anders, als über die ausgelassene Freude ihrer Freundin zu lächeln.
Die beiden Frauen gingen gemeinsam den Weg hinauf, der sie zu einem alten, von kahlen Bäumen umgebenen Hof führte. Neben ihnen lief Lalita, eine stille, aber stets aufmerksame Begleiterin. Sie trug einen warmen, schlichten Mantel, und ihre dunklen Augen schauten immer wieder verstohlen zu Elijah, Rosalies älterem Bruder, der ein Stück vorausging.
Rosalie hatte es längst bemerkt. Lalitas Blicke, die sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Nervosität auf Elijah richteten, waren eindeutig. Sie grinste in sich hinein, während sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand den Mut aufbrachte, den ersten Schritt zu tun. Elijah war, wie immer, tadellos gekleidet, selbst im Schnee. Sein Mantel war dunkel, und sein Blick ernst, doch in seinen braunen Augen lag ein Hauch von Wärme, wenn er die Gruppe betrachtete.
„Elijah!“ rief Elenora schließlich aus und wirbelte herum, sodass ihre Röcke flogen. „Warum bist du so ernst? Du bist so steif wie ein gefrorener Ast.“
Elijah drehte sich mit einem Hauch von Geduld um, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen. „Vielleicht, weil ich es leid bin, euch zu retten, wenn ihr euch in Schwierigkeiten bringt.“
Rosalie schnaubte leise. „Komm schon, Elijah. Nicht jeder kann so perfekt sein wie du.“ Ihre Worte waren neckend, doch die Liebe zu ihrem Bruder war unverkennbar.
Lalita hielt den Atem an, als Elijah sich ihr zuwandte. „Und du, Lalita?“ fragte er mit seiner sanften, tiefen Stimme. „Was hältst du von all diesem Unfug?“
Lalita errötete heftig, und Rosalie musste sich ein Lachen verkneifen. „Ich… ich finde es schön,“ stammelte Lalita schließlich und senkte den Blick. „Der Winter ist… wunderschön.“
Elijah nickte langsam, ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen. „Da hast du recht.“
Rosalie trat einen Schritt näher an ihre Freundin heran und flüsterte leise: „Lalita, wenn du noch röter wirst, schmilzt der Schnee um dich herum.“
Lalita warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, doch Rosalie konnte die Belustigung darin sehen. Sie legte einen Arm um Lalitas Schulter und zog sie mit sich. „Komm schon, wir dürfen uns nicht von den Männern einschüchtern lassen. Elenora und ich haben einen Plan.“
„Einen Plan?“ fragte Lalita skeptisch, doch ihre Stimme klang neugierig.
Elenora grinste breit. „Natürlich haben wir einen Plan. Wir werden morgen einen großen Schneeballkrieg veranstalten! Und Elijah, Kol und Niklaus werden keine Chance haben.“
Rosalie nickte entschlossen. „Und du wirst an vorderster Front stehen, Lalita. Vielleicht beeindruckt das Elijah.“
Lalita hielt inne und starrte ihre Freundin an. „Du bist unmöglich, Rosalie.“
„Vielleicht,“ erwiderte Rosalie lachend, „aber ich bin auch deine Freundin. Und glaub mir, wenn du nicht bald den Mut findest, etwas zu sagen, werde ich es für dich tun.“
Ihre Freundinnen lachten, und für einen Moment schien die Kälte des Winters vergessen. Der Tag würde enden wie viele zuvor – mit einem wärmenden Feuer, Geschichten und dem unerschütterlichen Band, das sie alle zusammenhielt. Doch Rosalie spürte, dass diese Zeit der Unschuld und Einfachheit nicht ewig währen würde.
Sie blickte auf ihre Geschwister und Freunde und wünschte sich insgeheim, diesen Moment für immer festhalten zu können.
Ein unerwartetes Auftauchen
Der frische Schnee knirschte leise unter den schweren Stiefeln, als die kleine Gruppe sich weiter über den verschneiten Pfad bewegte. Die Wintersonne hing tief am Himmel, und der Atem jedes Einzelnen stieg als feiner Dampf in die kalte Luft.
„Wartet auf mich!“
Die helle, klare Stimme ließ die Gruppe innehalten. Rosalie drehte sich um und sah ihre jüngere Schwester Rebekah den Weg hinunterlaufen. Ihr Umhang flatterte hinter ihr her, und ihre blonden Locken lösten sich aus dem Zopf, während sie sich hastig einen Schal über die Schultern zog.
„Rebekah!“ rief Elenora erfreut, ihre braunen Augen leuchteten vor Freude. „Was machst du hier draußen? Ich dachte, du wolltest den Nachmittag im Warmen verbringen.“
Rebekah blieb vor ihnen stehen, atemlos und mit einem entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht. Ihr blasses Gesicht war leicht gerötet von der Kälte, und ihre blauen Augen blitzten vor Begeisterung. „Ihr dachtet doch nicht wirklich, dass ich euch alleine losziehen lasse, oder?“
Rosalie verschränkte die Arme vor der Brust, ihr Blick halb neckend, halb beschützend. Rebekah war die Jüngste der Geschwister, und Rosalie fühlte sich oft verantwortlich, sie vor den Schwierigkeiten der Welt zu bewahren – auch wenn Rebekah das nicht immer schätzte.
„Du bist ohne Mantel losgerannt, Rebekah,“ tadelte Rosalie mit einem liebevollen, aber strengen Ton. „Mutter wird mich umbringen, wenn du dir eine Erkältung holst.“
Rebekah schnaubte und winkte ab. „Ich habe einen Schal, das reicht. Außerdem wollte ich nicht noch länger drinnen sitzen und zusehen, wie ihr Spaß habt.“
Elenora lachte leise und zog Rebekah näher zu sich. „Dann komm, kleine Schwester. Wir planen gerade, wie wir deine Brüder im Schneeballkrieg besiegen können.“
„Einen Schneeballkrieg?“ fragte Rebekah mit einem schelmischen Lächeln, während sie ihre Handschuhe anzog. „Das klingt nach einem Plan, der mir gefällt.“
Rosalie beobachtete sie mit einem sanften Lächeln, während Rebekah sofort in die lebhafte Unterhaltung zwischen Lalita und Elenora einstieg. Ihre jüngere Schwester war eine Mischung aus Unschuld und feurigem Temperament, und obwohl sie manchmal ungestüm war, bewunderte Rosalie ihre unerschütterliche Entschlossenheit.
„Vielleicht ist es gut, dass sie mitgekommen ist,“ flüsterte Elijah leise, der neben Rosalie stand. Seine Stimme war wie immer ruhig und bedächtig. „Rebekah mag jung sein, aber sie bringt Leben in jede noch so kalte Winterlandschaft.“
Rosalie lächelte. „Das tut sie,“ stimmte sie zu. „Aber es ist auch meine Aufgabe, sie vor sich selbst zu schützen. Manchmal überschätzt sie, wie stark sie ist.“
Elijah legte eine Hand auf Rosalies Schulter, ein Zeichen von Geschwisterliebe und stillem Verständnis. „Sie hat dich als Schwester, Rosalie. Und ich bin sicher, dass sie weiß, wie sehr du auf sie aufpasst.“
Rebekah drehte sich in diesem Moment zu ihnen um, die Wangen gerötet und die Augen voller Freude. „Kommt schon, ihr Langweiler! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Rosalie lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nun, wer könnte so einer Aufforderung widerstehen?“ Sie griff nach ihrer Schwester und zog sie in eine schnelle Umarmung. „Aber versprich mir, dass du dich nicht übernimmst, kleine Schwester.“
Rebekah grinste frech. „Ich verspreche nichts.“
Rosalie wusste, dass sie es genau so meinte. Doch an diesem Tag, mitten im Winter, fühlte sie sich inmitten ihrer Familie und Freunde unbesiegbar – als könnte nichts und niemand diese Momente der Unbeschwertheit und Liebe je zerstören.
Die Gruppe setzte ihren Weg fort, nun begleitet von Rebekahs unbändiger Energie. Der Wald erstreckte sich vor ihnen, in ein Meer aus Weiß getaucht, während die tief stehende Wintersonne golden durch die kahlen Äste brach. Die frische Kälte stach in Rosalies Wangen, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen zog sie ihren Umhang fester um sich und warf einen schnellen Blick auf ihre kleine Schwester, die an Elenoras Seite hüpfte und begeistert plapperte.
„Und wie genau plant ihr, meine Brüder im Schneeballkrieg zu besiegen?“ fragte Rebekah neugierig und schob eine ihrer losen Locken hinter das Ohr.
„Mit Strategie und List,“ erklärte Elenora mit einem spitzbübischen Grinsen. „Dein Bruder Niklaus mag stark sein, aber ich bezweifle, dass er damit rechnet, dass wir aus dem Hinterhalt angreifen.“
Rebekah kicherte. „Niklaus wird toben. Er hasst es, zu verlieren.“
„Genau deshalb wird es so viel Spaß machen,“ fügte Lalita hinzu und warf dabei einen verstohlenen Blick zu Elijah, der hinter ihnen ging. Rosalie bemerkte das mit einem wissenden Lächeln, sagte aber nichts. Lalitas Gefühle für ihren älteren Bruder waren offensichtlich, doch ob Elijah es ebenso sah, blieb ein Rätsel.
Rebekah drehte sich zu Rosalie um, ihre blauen Augen leuchteten vor Vorfreude. „Was denkst du, Rosalie? Wirst du uns im Kampf unterstützen, oder bleibst du neutral?“
Rosalie schmunzelte, während sie den Blick über die verschneite Landschaft gleiten ließ. „Ich glaube, ich werde eine Vermittlerin sein, falls Niklaus tatsächlich wütend wird. Jemand muss schließlich den Frieden wahren.“
Rebekah zog eine Schnute. „Langweilig!“
„Realistisch,“ korrigierte Rosalie mit einem Augenzwinkern.
Der Waldweg öffnete sich zu einer kleinen Lichtung, wo sie schließlich eine vertraute Gestalt entdeckten. Niklaus stand mit verschränkten Armen inmitten der Lichtung, ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen, als er die Ankömmlinge betrachtete. Neben ihm lag bereits ein beachtlicher Haufen perfekt geformter Schneebälle.
„Ah, da seid ihr ja,“ sagte Niklaus mit spöttischem Tonfall. „Ich dachte schon, ihr hättet euch in den Schneeverwehungen verirrt.“
Rebekah lief sofort vor, schnappte sich eine Handvoll Schnee und warf sie ohne Vorwarnung in Richtung ihres Bruders. „Das wirst du bereuen, Niklaus!“ rief sie lachend.
Der Schneeball traf ihn direkt an der Schulter. Niklaus lachte auf, ein selten herzlicher Klang, der die kalte Luft erfüllte. „Ein Angriff ohne Ankündigung? So typisch, Rebekah.“
Noch bevor jemand reagieren konnte, hob er einen seiner Schneebälle auf und warf ihn mit perfekter Präzision zurück. Rebekah schrie auf, als der Schnee gegen ihren Umhang prallte, und rannte kichernd hinter Rosalie.
„Schütze mich, Schwester!“ rief sie theatralisch.
Rosalie lachte und hob abwehrend die Hände. „Oh nein, du hast diesen Krieg begonnen, Rebekah. Jetzt musst du ihn auch austragen.“
In diesem Moment griff Elenora nach einem Schneeball und reichte ihn Lalita. „Zeit für den Hinterhalt, Mädchen.“
Die Lichtung verwandelte sich in ein Schlachtfeld aus Schnee und Gelächter. Rosalie stand einen Moment abseits, ihre Arme vor der Brust verschränkt, während sie zusah, wie ihre Geschwister und Freunde lachten, sich gegenseitig jagten und für kurze Zeit alle Sorgen vergaßen.
Elijah trat an ihre Seite, ein leises Lächeln auf den Lippen. „Du wirst dich doch nicht komplett raushalten, Rosalie, oder?“ fragte er mit sanfter Stimme.
Rosalie hob eine Augenbraue und grinste. „Vielleicht doch. Es macht mehr Spaß, euch dabei zuzusehen.“
„Nun, ich denke, du brauchst ein wenig Überzeugungskraft,“ sagte Elijah und hob plötzlich einen Schneeball auf. Ehe Rosalie reagieren konnte, warf er ihn geschickt gegen ihre Schulter.
„Elijah!“ rief sie empört und griff sofort nach Schnee, um sich zu rächen.
Die Schneeballschlacht dauerte noch eine Weile an, bis sie alle erschöpft im Schnee lagen, die Gesichter rot von der Kälte und dem Lachen. Für diesen Moment waren sie einfach nur eine Familie – ohne Sorgen, ohne Pflichten.
Rosalie lag auf dem Rücken, die eisige Kälte des Schnees drückte durch ihren dicken Umhang, doch sie störte sich nicht daran. Ihr Atem ging schwer, weiße Wölkchen stiegen in die klare Winterluft, während sie die Augen geschlossen hielt und das Lachen ihrer Geschwister um sich herum genoss.
Neben ihr lag Rebekah, ihre blonden Haare wie ein goldener Schleier auf dem Schnee ausgebreitet. Sie atmete ebenso schwer, doch auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln. „Ich... gewinne immer...“ murmelte sie keuchend und hob triumphierend die Hand in die Luft.
„In deinen Träumen vielleicht,“ antwortete Niklaus, der sich ebenfalls auf den Rücken gelegt hatte und seine Arme hinter dem Kopf verschränkte. Seine Lippen zuckten zu einem selten entspannten Grinsen. „Du warst die erste, die getroffen wurde, Schwester.“
„Weil du mich unfairerweise überrascht hast!“ protestierte Rebekah und warf einen schneebedeckten Zweig in seine Richtung, der jedoch weit vor ihm landete.
Elenora, die sich neben Rebekah ausgestreckt hatte, lachte hell auf. „Fair? Rebekah, du hast die Schlacht begonnen! Gib es zu, du bist einfach nur eine schlechte Verliererin.“
„Schlechte Verliererin? Du hast doch fast die ganze Zeit hinter Rosalie Schutz gesucht!“ entgegnete Rebekah empört, doch ihre Augen funkelten amüsiert.
Rosalie öffnete die Augen und drehte den Kopf leicht, um ihre Freundin anzusehen. „Das stimmt. Du hast mich geopfert, Elenora.“
Elenora legte eine Hand auf ihr Herz und machte ein unschuldiges Gesicht. „Ich wollte nur deine diplomatischen Fähigkeiten testen.“
„Diplomatisch?“ fragte Lalita lachend, die sich direkt neben Elijah niedergelassen hatte. „Rosalie, du hast genauso viele Schneebälle geworfen wie Niklaus.“
Elijah, der mit einem leicht schiefen Lächeln dalag, hob leicht die Hand. „Das stimmt. Und ihre Treffsicherheit ist beeindruckend.“
Rosalie schüttelte lachend den Kopf und fühlte, wie ihre Wangen von der Anstrengung und der Kälte glühten. „Vielleicht habe ich mich doch ein wenig hinreißen lassen.“
Die Gruppe verfiel in ein zufriedenes Schweigen, nur das sanfte Knistern des Schnees unter ihren Atemzügen war zu hören. Über ihnen erstreckte sich der Winterhimmel, ein zartes Blau, das sich allmählich in Rosa und Orange färbte, als die Sonne begann, sich dem Horizont zu nähern.
„Das war… schön,“ murmelte Rebekah schließlich, ihre Stimme leiser, fast verträumt. „Wie in alten Zeiten. Einfach nur wir.“
Rosalie wandte ihren Blick von den Farben des Himmels ab und betrachtete ihre jüngere Schwester. Sie sah die Nostalgie in Rebekahs Augen und spürte, wie eine sanfte Welle von Melancholie durch sie rollte.
„Ja,“ stimmte sie leise zu. „Einfach nur wir.“
Niklaus hob eine Augenbraue, sein Lächeln verschwand für einen Moment. „Genießt es, solange es andauert. Die Welt da draußen ist nicht so friedlich wie hier.“
„Niklaus,“ ermahnte Elijah sanft, doch seine Stimme trug keinen Vorwurf, sondern Verständnis in sich.
„Er hat nicht unrecht,“ sagte Rosalie und setzte sich langsam auf, klopfte den Schnee von ihrem Umhang und blickte zu den anderen. „Aber für jetzt… ist das genug. Für diesen Moment.“
Elenora setzte sich ebenfalls auf und legte eine Hand auf Rosalies Arm. „Das reicht immer. Solange wir zusammen sind.“
Die Gruppe blieb noch eine Weile im Schnee sitzen, die Kälte ignorierend, weil die Wärme ihrer Bindung stärker war. Die Dunkelheit des kommenden Abends kroch langsam über den Himmel, doch für diesen Augenblick fühlte sich die Welt sicher und unbeschwert an.
Rosalie blinzelte langsam, ihre Augen schwer von dem kurzen Schlaf, der sie übermannt hatte. Der Duft von altem Papier und frischer Tinte stieg ihr in die Nase, und die kühle Holzoberfläche der Theke drückte gegen ihre Wange. Mit einem leisen Stöhnen richtete sie sich auf, ihre Finger fuhren fahrig durch ihre zerzausten roten Locken. Sie musste eingeschlafen sein, über ihre Notizen gebeugt, während sie versuchte, den Stoff für ihre nächste Vorlesung durchzuarbeiten.
Vor ihr lagen die aufgeschlagenen Bücher, ihr Laptop, der in den Standby-Modus gewechselt war, und ein halbvoller Becher Kaffee, der längst kalt geworden war. Doch es war nicht die Erschöpfung des Lernens, die sie so schwer fühlen ließ, sondern der Traum.
Ein Traum von Frieden. Von Lachen im Schnee. Von einer Welt, die sie vor tausend Jahren gekannt hatte, die ihr längst entrissen worden war. Lalita und Elenora hatten in diesem Traum bei ihr gestanden, wie damals, als sie jung und unbeschwert gewesen waren. Lalita hatte ihre warmen, braunen Augen gehabt, voller Bewunderung, während sie Elijah anlächelte. Elenora hatte diese schelmische Energie ausgestrahlt, die sie immer dazu gebracht hatte, ein bisschen mutiger zu sein. Doch das war alles vorbei. Lalita und Elenora waren tot. Seit Jahrhunderten.
Ein scharfer Schmerz zog sich durch Rosalies Brust. Sie hatte versucht, ihre Erinnerungen an jene Tage in den Tiefen ihres Bewusstseins zu begraben, doch sie fanden immer wieder ihren Weg zurück. Immer wieder rissen sie die Narben auf, die nie ganz verheilt waren.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Es folgte ein bekanntes, keckes Lachen, das sie nur zu gut kannte. „Rosalie! Ich komme gleich rein, also mach dich bereit!“ Die Stimme gehörte Kaya, ihrer treuen Begleiterin und einem der wenigen Menschen – oder Wesen –, die Rosalie noch in ihrem Leben dulden konnte.
Rosalie strich sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich langsam auf. Ihre Bewegungen waren schwer, als würde sie die Last von tausend Jahren mit sich tragen. Vielleicht tat sie das auch. „Ich bin wach, Kaya,“ rief sie, ihre Stimme rau vom Schlaf und der Trauer, die sie in sich trug.
Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und Kaya trat ein, ihre schwarzen Locken wild und ihr Blick so scharf wie immer. Sie musterte Rosalie und hob eine Augenbraue. „Du siehst aus, als hätte dich ein Lastwagen überfahren. Wie lange hast du geschlafen? Fünf Minuten?“
„Vielleicht zehn,“ murmelte Rosalie und begann, ihre Unterlagen zusammenzuraffen.
Kaya trat näher, die Hände in die Hüften gestemmt. „Du kannst nicht ewig hier sitzen und von früher träumen. Ich weiß, dass es schwer ist, Rosalie. Aber die Welt dreht sich weiter, auch ohne deine Erlaubnis.“.
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