30 - Lebensmaske
„Gib mir fünf Minuten. Ich hol mir eine Jacke und meinen Autoschlüssel", waren ihre letzten Worte bevor sie aus seinem Sichtfeld verschwand, ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben.
Schneller als Eliott sich versah und schneller als er sich Gedanken darüber machen konnte, ob es wirklich die beste Lösung war, saß er auf dem Beifahrersitz eines Autos, in dem er lange nicht gesessen hatte. Clara tippte die Adresse, die er ihr eben genannt hatte, in ihr Handy ein, das sie als Navi benutzte. Während dieses noch einen Moment zum Laden benötigte, begann sie schon auszuparken, vermutlich, um keine Zeit zu verlieren. Im Hintergrund hatte sich ihr Auto scheinbar mit der Musik-App verbunden und spielte ihre zuletzt gehörte Playlist ab. Es war ein Song, bei dem er sich schon damals gefreut hatte, dass sie ihn auch hörte. Als sie dann schließlich „Navigation starten" auswählte und ihr Handy noch „Voraussichtliche Ankunftszeit 20.12 Uhr" in der typischen Navigationsstimme sagte, fuhr sie von dem Uniparkplatz runter, Richtung Eliotts Heimat.
Wie hatte er sich das vorgestellt? Heute war erst Donnerstag, beide würden morgen Unterricht haben. Vermutlich würde er sich einfach krankmelden, das Ganze war ihm ziemlich egal, er wollte nur für Camilla da sein. Aber Clara, was würde sie tun?
„Hast du dich bei deinen Eltern gemeldet? Da fahren wir doch hin, oder?", fragte Clara schließlich, als die beiden schon einige Minuten auf der Autobahn fuhren. Noch immer hatte sie kein Wort über Camilla verloren, aber allein die Tatsache, dass sie sich sofort ungefragt mit ihm ins Auto setzte, zeigte ihr Verständnis und vermutlich Mitleid.
Eliotts Gedanken waren immer noch ein riesiger Wirrwarr, sodass er wirklich noch keinen Gedanken daran verschwendet hatte, seine Mutter zurückzurufen, nachdem er das Gespräch vorhin so schnell abgebrochen hatte. Er öffnete also wieder die Anruf-App und tippte auf „zu Hause". Sein Vater nahm den Hörer ab „Anderson hier, hallo" - scheinbar hatte sich immer noch niemand darum gekümmert, Nummern in das Festnetztelefon einzugeben - „Ich bins, Papa", begann Eliott, „ist Mama da?". Er bevorzugte mit seiner Mutter zu reden, da diese auch schon die war, die vorhin angerufen hatte. Sein Vater erklärte dann, dass sie und seine Schwester Katharina, beim Tierarzt sitzen würden und auf irgendeine Veränderung warteten. Eliott antwortete also nur knapp, er würde es dann auf dem Handy seiner Mutter versuchen, legte auf und setzte seinen Beschluss in Tat um. Frau Anderson war erst gar nicht begeistert zu hören, dass Eliott ohne weiter darüber nachzudenken einfach losgefahren war, aber schließlich waren alle zu fertig um länger zu diskutieren und sie schickte die Adresse vom Tierarzt, sodass Eliott direkt dahin kommen konnte.
„Meine Mutter meint ich soll mich bei dir bedanken, also Danke", sagte er vorsichtig und gestellt in Claras Richtung, nachdem er aufgelegt hatte. Ihm fiel auf, dass er das noch gar nicht getan hatte, weil er ein einfaches Danke schon zu wenig fand. „Aber nicht nur fürs Fahren, sondern fürs da sein", hing er noch hinten dran.
„Du brauchst dich nicht bedanken, ist doch selbstverständlich", antwortete diese lediglich, während sie ihren Blick weiter konzentriert auf die Straße gerichtet hatte.
Es war ihm unangenehm, dass Clara noch immer so für ihn da war, nachdem er sie so oft verletzt hatte. Erst weil er das Beste für sich selbst wollte, dann weil er sie nicht noch stärker verletzen wollte. War sie vielleicht doch nicht so über ihn hinweggekommen, wie er es angenommen hatte und wie es in den letzten Tagen wirkte? Dabei war sie jetzt so anders, so selbstbewusst, so viele Ligen höher. Einerseits vom neuen Aussehen, aber vor allem von ihrer Ausstrahlung. Sie wirkte nicht mehr wie das verletzliche und brave Mädchen, das kämpfte um glücklicher zu werden, das er kennengelernt hatte, mit dem er so viele tiefe Gespräche geführt hatte. Sie wirkte neuerdings so lebensfroh und spontan. Die Clara, die er kannte hätte sich niemals einfach die Haare rosa gefärbt, weil sie viel zu viel Angst gehabt hätte, es könnte anderen nicht gefallen. Sie wirkte, als würde sie schlussendlich einfach das tun, was sie wollte und nicht mehr auf die anderen hören. Und entweder hatte es wirklich gewirkt und sie ist endlich bei der Glücklichkeit angekommen, für die sie immer gekämpft hatte oder sie hat es geschafft eine noch bessere Maske aufzusetzen, als die, die sie früher schon getragen hatte.
Als er sie kennengelernt hatte, damals auf der Party, hatte sie schließlich auch noch diese Maske, die sie jedem zeigte. Erst nachdem er mit ihr über tiefsinnigere Themen sprach, nahm sie diese Maske langsam ihm gegenüber ab und er lernte ihr wahres ich kennen.
Eliott sah wieder zu ihr. Ihre Augen waren noch immer stur auf die Straße gerichtet und wechselten ab und zu zum Innenspiegel. Ihre glänzenden Lippen waren zu einem leichten, aber konzentrierten Lächeln gezogen. Eine der vorderen Haarsträhnen hatte sie gedreht mit einer kleinen Haarspange hinten befestigt. Er kannte diese Mädchen nicht mehr gut genug. Trug sie eine Maske oder nicht? Würde sie diese ihm gegenüber jemals wieder abnehmen?
Er dachte darüber nach, was nach dem Tag passieren würde, nach dem „Ausflug". Sie hatte gezeigt, dass er ihr scheinbar immer noch wichtig war. Oder würde sie das für jeden tun? Sie hatte schon immer ein großes Herz. Sollte er sich besonders fühlen?
Beide schwiegen für eine lange Weile. Es gab nichts zu besprechen. Es war nicht wie früher, als die beiden noch problemlos sechs oder mehr Stunden durchtelefoniert hatten. Seitdem war zu viel zwischen den beiden passiert. Jede Konversation schien gestellt. Sie waren einfach zwei Fremde, die sich mal gekannt hatten. Dabei hätte es so viel zu erzählen gegeben. Beide hatten viel erlebt, seit sie das erste Mal getrennte Wege gegangen waren. Doch keiner wusste, wie er anfangen sollte oder was er sagen sollte. Es entstand kein Gesprächsfluss.
Und Eliott fragte sich, ob sie sich jemals wieder näherkommen konnten. Oder ob ihr Schicksal besiegelt war, seitdem er den Schluss gefasst hatte, sie nicht mehr in sein Leben zu lassen. Er hatte damit eine perfekte Freundschaft kaputt gemacht. Und vielleicht würde diese Kälte für immer zwischen ihnen stehen und die Wolke der vielen Schmerzen über ihnen verweilen. Und trotz allem was passiert, war fuhr sie ihn einfach an einem Donnerstagabend Stunden nach Hause, nur um ihm zu helfen.
Gerade jetzt, als er seit Monaten mal wieder länger Zeit mit ihr verbrachte, statt nur an ihr vorbei zu gehen, merkte er wie sehr sein Herz noch immer für sie schlug. Trotz allen seinen Bemühungen, das Gegenteil zu erreichen. Und langsam stellte er fest, dass es vermutlich eine Liebe war, die ewig brauchen würde, um wegzugehen.
Also fuhren sie weiter in Stille.
„Ich weiß wir haben es echt eilig, aber ich würde einmal noch kurz auf die nächste Raststätte fahren, ich muss echt dringend", sagte Clara schließlich. Noch dauerte es eine Stunde bis sie ankommen würden.
„Alles gut, die fünf Minuten machen es jetzt auch nicht mehr aus", sagte Eliott abwesend, während er weiter aus dem Fenster starrte. Und noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, wechselte sie die Spur zur Abfahrt und verlangsamte das Tempo. Sie fuhr den Weg lang und parkte auf einem der schrägen Parkplätze vor dem öffentlichen Toilettengebäude.
Sie schaltete den Motor aus, ließ aber den Schlüssel stecken. Bevor sie ausstieg, bat sie ihn noch kurz, ihr eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach zu geben, „weil die Autobahntoiletten ja nicht immer Klopapier haben". Er tat das und sie verschwand vorerst.
Während sie weg war, begann er zum ersten Mal wirklich das Auto zu betrachten. Es war irgendwie persönlich. In dem Getränkehalter lagen eine Quittung vom Tanken, ein paar Münzen und ein Einkaufswagenchip. Um den Schalthebel war ein dünnes schwarzes Haargummi platziert. Er lächelte, weil es eine alte Erinnerung hervorbrachte. Sie war jemand, der immer ein Haargummi vergas. Immer machte sie ihre Haare zu einem schnellen Zopf, wenn sie aß, damit sie ihr nicht ins Gesicht fallen und stören. Und jedes Mal jammerte sie über ihre Vergesslichkeit, wenn sie keins dabeihatte.
Außerdem fiel ihm der kleine grüne Anhänger an ihrem Autoschlüssel auf, ob dieser eine Bedeutung hatte? Er hatte das Handschuhfach noch immer nicht geschlossen, also sah er auch das kurz an, bevor er es tat. Sie hatte viele Dinge, die sie gebrauchen könnte darin; Ein paar Packungen Taschentücher, eine kleine pinke Haarbürste, eine gefaltete Stofftasche, Handdesinfektionsgel, eines kleines Lotusduft-Sprühdeo, Allzweckreiniger, eine Kaugummischachtel und ein Paar Handschuhe. Ihm gefielen die Kleinigkeiten, weil sie ihrem neuen, kalten selbst ein bisschen mehr Persönlichkeit gaben.
Kurz bevor Clara zurückkam, ploppte eine Nachricht von einem Namen, den er nicht kannte, auf ihrem Handy auf, das immer noch in der Halterung befestigt war und die Karte anzeigte. „Liam" stand dort. Die Nachricht verschwand nach einer kurzen Zeit wieder, aber sagte so etwas wie „Hey, kommst du mit uns zur Grillhütte? Oder bist du noch bei deinen Nerds?". Vermutlich war es jemand aus ihrem Freundeskreis, den er so fragwürdig fand. Sie urteilten so stark über andere Menschen, das hatte sie schon damals erzählt. Auch wenn das jetzt ihr Hauptfreundeskreis zu sein schien, sie war immerhin noch in vielen anderen Kreisen. Und scheinbar war für die „coole" Gruppe jeder Mitstudent, der nicht zu ihnen gehörte ein uncooler Nerd. Es tat weh zu wissen, dass ihre Freunde ihn nicht mochten. Ob sie viel Wert auf deren Meinung legte? Schließlich wollte sie doch immer dazu gehören.
Kurz später stieg Clara wieder ins Auto und er wies sie darauf hin, dass sie gerade eine Nachricht bekommen hatte. Doch sie las diese nur flüchtig in der Statusleiste und wischte sie mit den Worten „Das kann warten, fahren wir erst weiter" zur Seite.
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