Kapitel 5
Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Enthüllung halten soll. Wenn da wirklich etwas gestanden hat, was war es dann? Ein Hilferuf von Caleb? Eine Drohung? Oder doch ein entscheidender Hinweis? Hoffentlich war es nichts Wichtiges, denn das könnte in unserer Situation offenbar über Leben und Tod entscheiden. Und ich will leben, um jeden Preis. Ich will aus diesen verfluchten Räumen rauskommen, zurück in meine Stadt, mein Haus, zu meiner Familie.
Meine Familie. Wie ich sie vermisse! Meine Mum, meinen Dad, sogar meine kleine nervige Schwester Lucy. Lieber würde ich mich stundenlang von ihr nerven lassen, als in diesen Räumen hier zu hocken. Auch Garry vermisse ich, den fetten Nachbarskater, der immer an unserer Hintertür betteln kommt. Meine beste Freundin Catelyn, die immer meine Sachen aus dem Kleiderschrank klaut, obwohl sie so viel hübscher ist als ich. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln. Ständig sagt sie mir, dass das doch gar nicht stimmen würde, dass ich wenigstens genau so hübsch wäre wie sie. Doch glauben tu ich ihr das nie. Sie hat keine langweiligen, platten, braunen Haare, sondern wunderhübsche blonde, ganz grob gelockte Haare, die zu jeder Tages- und Nachtzeit in traumhaften Wellen über ihre Schultern fallen, während meine nach dem Aufstehen aussehen, als hätte ein Schwarm Vögel darin genistet. Während ich Schwierigkeiten damit habe, passende Kleidung zu finden, passt Catelyn alles perfekt. Doch von diesen Äußerlichkeiten, die mich schon längst nicht mehr stören, einmal abgesehen, könnten wir Schwestern sein. Wir beide lieben alles, was mit Logik oder Mathematik zu tun hat - oder mit Büchern.
Was ich jetzt alles für ein Buch geben würde! Noch nicht einmal das Genre würde mich interessieren. Einfach in eine Geschichte eintauchen, in die Rolle einer der Figuren schlüpfen, mit ihnen mitfiebern und diesen Räumen hier entkommen.
Bei diesen Gedanken frage ich mich, wie es eigentlich bei Chrissy aussieht. Ob auch sie Menschen hat, die sie vermisst. Sie erwähnte etwas von einem Freund, doch ansonsten? Ich weiß ja eigentlich nichts über sie. Dies ist auch nicht wirklich ein Ort um Freunde zu finden, doch plötzlich wünsche ich mir, wir könnten welche werden. Freundinnen. Würde das die Zeit hier erträglicher machen? Und sind wir unter diesen Voraussetzungen überhaupt fähig, Freundschaften zu schließen?
Ich denke schon wieder zu viel nach. Das passiert mir so schon ständig, doch seit ich hier bin noch öfter. Dabei stört das öfter, als dass es mir hilft. Natürlich ist es gerade bei Rätseln oder in der Schule ganz praktisch und hat mich schon so manches Mal gerettet, aber davon abgesehen ist es einfach nur lästig. Es verkompliziert vieles unnötig. Vor allem den Kontakt mit anderen. Man macht sich über so einfache Dinge Gedanken, obwohl man es eigentlich gut könnte - vorausgesetzt, man würde nicht so viel darüber nachdenken.
Catelyn kommt Gott sei Dank gut mit dieser Eigenart von mir klar, aber da ist sie auch schon so ziemlich die einzige. Das macht mir aber nichts aus. Ich muss nicht beliebt sein. Lieber habe ich nur eine einzige richtige Freundin, als 20, die sich nicht wirklich für mich interessieren oder mich im Stich lassen, wenn ich sie mal brauche.
"Worüber denkst du nach?" fragt mich Chrissy.
"Hm?" Ich bin leicht verwirrt, denn so gedankenverloren wie ich bis gerade eben noch war, habe ich natürlich mal wieder nicht mitbekommen, was Chrissy von mir will. Folglich kann ich mir auch ihren erwartungsvollen Gesichtsausdruck nur so halb erklären.
"Ich hab gefragt, worüber du nachdenkst" wiederholt sie freundlich ihre Frage.
"Ach so. Über nichts besonderes eigentlich. Viel gibt es hier ja nicht nachzudenken, was zu etwas führt. Wieso fragst du?"
"Du hast immer diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, wenn du intensiv über etwas nachdenkst. Nicht direkt leer, aber doch irgendwie verträumt. Man merkt dir an, dass du nicht so ganz hier bist."
Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das aufgefallen ist. Sie sah so in sich selbst versunken oder abgewandt aus, je nachdem, dass es nicht wirkte, als hätte sie mitbekommen, was um sie herum passiert. Ich bin echt beeindruckt. Scheinbar sieht man mir das an, denn Chrissy lächelt leicht.
"Das hast du nicht erwartet, oder Tessa?"
"Um ehrlich zu sein, nein. Du hast immer so... mit dir selbst beschäftigt gewirkt. Nicht falsch verstehen, ja? Ich meine ich kann das ja verstehen, vor allem nach dem was du mir erzählt hast. Ich glaube nach 24 Tagen wäre ich schon komplett durchgedreht und würde gar nichts mehr um mich herum mitbekommen."
"Du sagst das so, als wäre es eine großartige Leistung, hier schon mehr als drei Wochen festzusitzen", erwidert Chrissy bitter. "Aber das ist es nicht. Im Gegenteil, ich sitze hier schon zweieinhalb Wochen länger fest als du und weiß in etwa genauso viel."
"Mach dich nicht kleiner als du bist! Du bist stark, und zusammen schaffen wir zwei es hier raus. Okay?"
Chrissy atmet einmal tief durch. "Okay. Wir packen das." Wirklich überzeugt klingt Chrissy nicht. Eher so, als müsse sie sich noch selbst überzeugen. Aber es ist ein Anfang.
"Müssten die Türen nicht bald aufgehen?", frage ich Chrissy.
"Nein, ein bisschen Zeit haben wir noch. Wenn ich raten müsste noch eine, maximal zwei Stunden. Ist nur ein bisschen schwierig zu sagen, ich hab schon vor über drei Wochen mein Zeitgefühl verloren. Hast du was dagegen wenn ich mich so lange noch ein bisschen hinlege und versuche zu schlafen? Jetzt, wo die Schreie weg sind?"
"Nein, überhaupt nicht. Leg dich ruhig hin, ich bleib hier sitzen", erwidere ich und mache es mir ein bisschen bequemer.
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