Kapitel 4
"Was meinst du mit 'nicht die erste'?" frage ich sie.
"Ich habe vor dir schon jemanden getroffen. An seinem siebten Tag. Sein Name war Caleb. Ich habe ihn in meinem fünfzehnten Raum gefunden.
Ich... ich war so erleichtert, jemand anderen zu treffen. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass er... dass er vielleicht der Feind sein könnte. Gott sei Dank... war er es auch nicht. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn doch..." An der Stelle beginnt Chrissy zu weinen. Doch im Gegensatz zu vorher habe ich nicht mehr das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und sie zu trösten. Folglich bleibe ich in meiner Ecke sitzen und gucke sie unbewegt an.
Als sie sich ein wenig beruhigt hat, spricht sie weiter.
"Er... er hat mich so sehr an meinen Freund erinnert... hätte man ihn nicht so gut gekannt, man hätte schwören können, dass er es war. Aber er war es nicht. Doch die Ähnlichkeit hat dafür ausgereicht, dass ich mich in ihn verliebe. Ich... ich war wirklich... ich war hin und weg. Plötzlich war es mir egal... wo ich bin. Oder warum. Oder wie ich hier hergekommen bin. Ich hatte ihn. Und deshalb war ich glücklich."
Wieder schweigt sie eine Weile. Man sieht Chrissy an, wie schwer es ihr fällt, davon zu berichten. Ich bin zwar enttäuscht von ihr und wütend, aber ich bin kein Unmensch. Also lasse ich sie in Ruhe und hetze sie nicht, bis sie sich im Stande fühlt, weiterzusprechen. Währenddessen frage ich mich, ob es mir auch so ergehen hätte können. Hätte ich statt Chrissy einen Jungen getroffen, hätte ich mich auch verliebt? Wäre mir dieser ganze Mist hier auch egal gewesen? Das klingt zu schön um wahr zu sein. Doch irgendwo muss es auch einen Haken geben. Ich denke nicht, dass Chrissy so aufgelöst wäre, wäre alles gut gegangen. Außerdem kenne ich keinen Caleb, was bedeutet, dass ihm irgendetwas zugestoßen sein muss.
"Wir waren wirklich glücklich, trotz dem ganzen Mist hier... Bis wir uns gestritten haben. Es war kurz bevor die Türen sich geöffnet haben. Er... Er war so wütend auf mich, dass er einfach durch eine der Türen gestürmt ist, ohne auch nur darauf zu achten, ob er aussieht wie immer, wie wir es sonst getan haben. Ich kö-könnte dir a-auch nicht sagen, w-wie der Raum vorher au-aussah" berichtet Chrissy von tiefen Schluchzern unterbrochen weiter.
"K-kaum war C-Caleb durch d-die T-t-tür durch d-da g-ging sie p-p-p-plötzlich z-zu." Sie beginnt wieder zu weinen. Langsam tut sie mir leid, und ich rutsche ein Stück näher an sie heran, kann mich aber noch nicht überwinden, sie zu berühren.
"Nachdem Calebs T-tür zuging, geriet ich in P-panik. H-hab mich gegen die Tür g-geworfen wie am e-ersten Tag. U-und aus lauter Verzweiflung die W-wasserflasche geworfen. D-durch eine der a-anderen drei Türen... d-da gingen sie alle z-zu... U-und d-dann f-f-fing e-e-er a-a-an z-z-zu sch-sch-sch-schreien." Nun fängt sie endgültig an zu weinen und zu schluchzen, sodass man kein Wort verstehen würde, würde sie versuchen, etwas zu sagen. Ihr ganzer Körper wird von starken Schluchzern geschüttelt, während sie sich hemmungslos die Augen aus dem Kopf heult. Langsam dämmert es mir, was passiert sein muss. Und es ist nichts Gutes. Doch so wie Chrissy reagiert kann ich ihr nicht nicht glauben. Soetwas kann keiner schauspielern. Sie ist offen und ehrlich am Boden zerstört. Betroffen nehme ich sie in den Arm. In dem Moment, in dem sie sich dankbar an mich klammert, vergebe ich ihr ihre Lüge. Irgendwie. Aber nicht vollständig.
So sitzen wir eine Weile da und halten uns gegenseitig.
"Am nächsten Tag..." beginnt sie schließlich wieder.
"Ssshhh... Du musst mir das nicht erzählen, Chrissy."
"Doch Tessa. Muss ich. D-das hast du verdient. Am nächsten Tag gingen die Türen wieder auf. Und der Raum von Caleb war nicht länger weiss. Ich weiß dass er es vorher war, denn ein so gravierender Unterschied wäre mir aufgefallen. Sogar im Streit. Er war rot. Blutrot. Völlig geschockt bin ich ohne groß zu überlegen hineingegangen, vielleicht war da ja etwas, was ich für ihn tun konnte. Aus irgendeinem lächerlichen, naiven Grund habe ich tatsächlich geglaubt, er würde noch Leben, obwohl die sonst so strahlend weißen Wände komplett blutig waren. Und es stank so nach Blut. Aber nirgends ein Zeichen von Caleb. Ich fand nur ein paar zerfetzte Klamotten in der Ecke. Das müssen seine gewesen sein." Das alles sagt die mit völlig nüchterner Stimme, als hätte sie all ihre Emotionen verbannt. Was wahrscheinlich auch der einzige Weg für sie war, mir den Rest der Geschichte erzählen zu können.
"Chrissy... das alles tut mir so unendlich leid. Ich... ich hätte nicht so reagieren dürfen. Hätte ich das gewusst... Ist da noch irgendetwas, was du mir erzählen möchtest? Ich möchte nicht noch einmal so einen Fehler machen."
"Nun ja, ich weiß nicht so genau..." zögert Chrissy ein wenig. "Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, da stand etwas an der Wand. Aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe mich so bemüht das alles zu vergessen... Aber was wenn es ein Hinweis war, etwas, das uns helfen könnte? Und ich kann mich nicht richtig erinnern, Tessa!"
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