Kapitel 16
Das Schlafen stellt sich als schwierig heraus. Ich glaube, im Endeffekt habe ich mich mehr herumgewälzt und die Decke und Wände angestarrt als wirklich geschlafen, als ich beschließe, dass es jetzt auch mal reicht. Also richte ich mich wieder auf und schaue zu Chrissy hinüber.
Sie sitzt mit angezogenen Knien mitten an einer der Wände und starrt wie in Trance an die gegenüberliegende Wand. Vielleicht starrt sie auch einfach nur Löcher in die Luft, was weiß ich. Doch offensichtlich ist, dass sie meinem Beschluss von vorhin doch nicht so gut verkraftet hat, wie sie behauptet hat. Oder versucht hat, mir weißzumachen.
Ich krabbele über den Boden und setze mich im Schneidersitz vor sie. Keine Reaktion.
"Chrissy?" Immer noch keine Reaktion. Vorsichtig berühre ich sie am Arm, und plötzlich zuckt sie stark zusammen.
"Oh mein Gott hast du mich erschrocken!" ruft sie aus, erneut mit Tränen in den Augen. Hört dieses Mädchen eigentlich niemals auf zu weinen? In gewissem Maße habe ich ja Verständnis dafür, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass Chrissy nichts anderes tut.
Aber irgendwie bin ich halt von ihr abhängig, also muss ich mich darum kümmern. Denn wenn sie nur hier herumhockt und heult dann ist sie nicht zu gebrauchen, so hart das auch klingt.
"Hey, alles gut. Ich wollte dir nur sagen, dass du von mir aus schlafen kannst, ich bleib wach. Aber wenn du natürlich nicht willst musst du nicht."
"Ok. Danke..." Und schon ist Chrissy wieder geistig abwesend. Ich sollte sie nicht länger stören.
Stattdessen stehe ich auf und entferne mich von ihr. Starre ebenfalls Löcher in die Luft. Versuche meinen nicht vorhandenen Laserblick an den Wänden, um einen Ausgang hineinzubrennen. Versuche das Alphabet rückwärts aufzusagen. Alles, um irgendwie die Zeit zu vertreiben.
Einmal springe ich auf und renne fast zu Chrissy hinüber. Wir haben den Raum noch nicht abgesucht! Doch dann fällt mir auf, dass es derselbe wie gestern ist – also völlig sinnlos, ihn auseinanderzunehmen.
Irgendwann höre ich von Chrissy leises Schluchzen, doch nach einiger Zeit wird es leiser und leiser, bis sie eingeschlafen ist.
Mal wieder lasse ich meine Gedanken schweifen. Zu meinen Eltern, meiner Schwester, zu Catelyn. Was sie wohl gerade machen? War ihnen überhaupt aufgefallen, dass ich weg war? Bestimmt sind sie ganz krank vor Sorge. Und so wie ich Catelyn kenne, quillt ihr Kleiderschrank nun endgültig über, nach all dem Shopping, um ihre Nerven zu beruhigen.
Trotz der ernsten Situation und obwohl der Gedanke an tonnenweise Frustshopping – meinetwegen! – nicht gerade schön ist, muss ich schmunzeln. Ja, das wäre typisch Catelyn. Sie sieht niemals besser gekleidet und sorgfältiger zurechtgemacht aus als wenn sie Sorgen hat.
Dafür sieht meine Mutter vermutlich um so schlechter aus. Im Gegensatz zu Catelyn, die sich dadurch ablenkt, hat sie in schwierigen Zeiten keinen Nerv für Dinge wie Aussehen.
Ich selbst stehe irgendwo dazwischen. Gerade genug dass ich nicht furchtbar aussehe, aber doch nicht übermäßig viel im Vergleich zu sonst.
Und Lucy wird bestimmt gerade mit Spielzeug und Aufmerksamkeit überschüttet. Hauptsache, sie bekommt nichts von dem ganzen Trubel mit. Sie ist auch erst sieben, sie würde das alles wahrscheinlich gar nicht richtig verstehen. Aber das ist auch besser so. Ich würde gar nicht wollen, dass auch sie sich noch Sorgen macht.
Ob meine Eltern wohl polizeilich nach mir suchen? So richtig wie in den Filmen, mit Steckbriefen und Streifen? Zutrauen würde ich es ihnen. Sie würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, dass es ihren beiden Töchtern an nichts mangelt.
Ich vermisse sie. Sie alle. Ich vermisse sogar wie Lucy früh morgens in mein Zimmer gestürmt kommt, sämtliche Lichter an macht und mit Anlauf auf mich drauf springt, obwohl ich noch schlafe, damit ich endlich aufstehe und mit ihr spiele – egal wie lange der vorherige Abend war. Wie sie ständig meine Schokolade klaut und so tut als wäre sie unschuldig, oder sich in mein Zimmer schleicht und mit meinem Lippenstift, den ich zwar sowieso nur selten, aber immerhin manchmal benutze, spielt.
Momentan würde ich alles geben, um all ihre nervigen kleinen Macken erleben, so richtig erleben zu dürfen.
Doch all diese Träumereien bringen mich nicht weiter. Im Gegenteil, sie halten mich auf. Sie wecken alles verschlingende Heimweh in mir und lassen mich nur zurückschauen, wo ich mich doch auf das hier und jetzt konzentrieren müsste. Und auf die Zukunft, die Zukunft, in der ich aus diesen verdammten Rooms entkomme.
Voller Sehnsucht, aber wild entschlossen, gehe ich in Gedanken noch einmal unseren Plan durch und untersuche ihn auf alle möglichen und unmöglichen Schwachstellen, und gebe mir anschließend Mühe, ihn noch einmal zu erweitern.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro