Kapitel 11
"Was?!" Vor lauter Aufregung lässt Chrissy mich fast fallen. "Du hast wirklich was gefunden? Zeig her!"
"Warte" murmele ich in meinen nicht vorhandenen Bart. "Lass mich selbst erstmal gucken. Ich hab es gerade erst gefunden."
Ein "okay" von Chrissy ist das letzte, was ich noch mitbekomme, sie klingt wie ein kleines Kind, dem offenbart wird, dass Weihnachten, Ostern und sein Geburtstag dieses Jahr auf den selben Tag fallen würden. Und schon bin ich wieder hochkonzentriert. Beziehungsweise ich wäre es, wenn Chrissy nicht so hibbelig wäre.
"Chrissy! Jetzt hör auf so rumzuzappeln! Zum einen finde ich so überhaupt nichts, wenn es an der Stelle überhaupt etwas zu finden gibt, und zum anderen wird mir noch schlecht wenn du so weitermachst."
"Upps, 'tschuldigung."
Tatsächlich ist sie nun ruhig, eine enorme Erleichterung für meine Konzentration – und meinen Magen.
Ich richte mich vollständig auf diesen kleinen Ritz in der Decke aus. Mit all meinen Sinnen versuche ich, irgendetwas an ihm zu finden: Einen Schalter, eine verdeckte Klappe, zu der er die Öffnung darstellt, oder Gott weiß was.
Ich hake meine gerissenen und gebrochenen Fingernägel darin ein.
Nichts.
Ich puste darauf.
Nichts.
Ich halte meine Nase so dicht wie möglich daran, in der Hoffnung, dass er vielleicht anders riecht.
Nichts.
Ich klopfe die Decke in der Umgebung des Ritzes ab.
Nichts.
Ich betrachte ihn von allen Seiten und aus allen möglichen Winkeln, vielleicht stellt er ja einen visuellen Hinweis dar.
Wieder nichts.
Langsam gehen mir die Ideen aus, und es hilft nicht gerade, dass Chrissy wieder nervös herumzappelt. Deshalb tue ich etwas, was ich eigentlich niemals tue: Ich gebe auf. Resigniert klettere ich von Chrissys Schultern, versuche aber, nicht zu zeigen, wie enttäuscht ich von meinem Fund bin. Vielleicht hat Chrissy ja eine bessere Idee als ich, die auch wirklich zu einem Ergebnis führt. Doch die hat sie garantiert nicht, wenn ich sie bereits vorher demotiviere.
Also setze ich ein – wie ich hoffe gekonnt – geschauspielertes Gesicht auf, eine Mischung aus Freude, Genervtheit und Hoffnung. "Los du Zappelphilip, das ist ja kaum auszuhalten. Komm hoch und sieh es dir an."
Freudestrahlend springt Chrissy schon fast von selbst auf meine Schultern, bevor ich auch nur die Chance bekomme mich hinzuhocken. Dieses Mädchen ist unglaublich.
Nach einigen Augenblicken des Tastens und genaueren Anweisungen meinerseits jubelt sie schließlich - sie scheint den Ritz gefunden zu haben.
Auch sie versucht alles mögliche, kommt sogar noch auf ein paar andere Ideen als ich, doch als sie anfängt mit dem Ritz zu reden, weiß ich, dass auch sie am Ende ist. Wie schon befürchtet hat auch bei Chrissy nichts zu einem Ergebnis geführt. Bis auf das Ergebnis, dass wir beide nun recht demotiviert sind, versteht sich.
Als Chrissy sich dieses Mal in eine Ecke verzieht, protestiere ich nicht. Mir ist sehr danach, mich einfach dazuzusetzen, doch das würde den Sinn des ganzen ein wenig sabotieren, weshalb ich mir meine eigene Ecke suche und einfach nur zu Tode betrübt den Kopf hängen lasse.
Ich hänge meinen eigenen Gedanken nach, Gedanken, die ich so bisher nicht zugelassen habe.
Was passiert, wenn wir hier wirklich nicht mehr rauskommen?
Werden wir langsam wahnsinnig werden?
Werden wir noch mehr Leute finden?
Werden wir irgendwann eine große Gruppe darstellen oder bleiben wir zu zweit? Beziehungsweise zu dritt, wenn man an den ominösen "N" denkt. Oder die, keine Ahnung.
Werden wer auch immer uns hier eingesperrt hat irgendwann das Interesse an uns verlieren?
Und falls ja – was dann?
Lassen sie uns jämmerlich verhungern? Ich bezweifle, dass sie uns einfach so freilassen.
Werden sie uns einfach umbringen?
Werden sie...
"Das geht so nicht weiter", werde ich aus meinen düsteren Gedanken gerissen. Vollkommen überrascht blicke ich auf. "Das geht so nicht weiter", wiederholt Chrissy. Ich bin total baff. Ist sie jetzt etwa diejenige, die uns hier motiviert? Woher nimmt sie so plötzlich die Energie dafür, die Hoffnung, die Gewissheit, die bisher mich so unerschütterlich vorangetrieben hat?
"Jetzt guck nicht so" fordert Chrissy mich auf.
"Sorry, nur... ich meine... du... ähm... äh" stottere ich, zu keinem vernünftigen Satz fähig.
"Wenn du nicht kannst, muss ja irgendjemand anders übernehmen. Also komm, schwing deinen Hintern hoch und gib dir gefälligst ein bisschen Mühe, den Rest der Decke auch noch abzusuchen, wir sind hier schließlich noch nicht fertig!" Chrissy im Kommandoton sprechen zu hören ist etwas ganz neues für mich. Total verwundert rappele ich mich hoch, verliere das Gleichgewicht und...
...kippe gegen den Toiletteneimer, der ein lautes Rumpeln von sich gibt. Erschrocken reiße ich die bis dahin geschlossenen Augen auf. Das war nicht real. Ich bin nie aufgestanden, und Chrissy sitzt noch immer zusammengekauert in ihrer Ecke. Ich muss eingeschlafen sein.
Es war alles nur ein Traum. Keine Chrissy, die sich endlich mal aufgerafft hatte, und ich hatte nicht aufgegeben. Noch nicht. Aber so weit sollte es gar nicht erst kommen. Mein Kampfgeist war wieder erwacht.
Entschlossen krabbele ich zu Chrissy hinüber und rüttele sanft an ihrem Arm. "Chrissy?"
Langsam hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind total rot und verheult. Auch sie war scheinbar eingeschlafen, denn als erste Tat gähnt sie mich einmal herzhaft an. Ihren Mundgeruch ignorierend (meiner ist mangels Zahnputzzeug vermutlich auch nicht besser, doch nach einigen Tagen merkt man den eigenen Geruch nicht mehr) fordere ich sie sanft, aber bestimmt auf, sie solle aufstehen und wieder wach werden, es wäre Zeit weiter zu machen.
Obwohl Chrissy noch ein wenig verschlafen ist, begleitet sie mich zurück zu ungefähr der Stelle, wo ich den Ritz gefunden habe und nimmt mich wieder auf die Schulter. Als ich den Ritz gefunden habe, suche ich systematisch den bisher noch nicht kontrollierten Teil der Decke ab, mit dem üblichen Ergebnis: nichts.
Ich rutsche von Chrissys Schultern und laufe im Raum auf und ab, denke nach. Okay, der Ritz war einfach nur eine Beschädigung der Decke, nichts weiter. Doch es ist ein Fortschritt. Bisher waren alle Räume makellos, erst jetzt, im neunten Raum, finden wir den ersten Makel. Vermutlich hat das nichts zu bedeuten, aber man kann sich nie sicher sein.
"Wir brauchen einen Plan..." murmele ich und laufe weiter. Meine Uhr zeigt mittlerweile acht Uhr, vermutlich Abends, an. Noch neun Stunden, dann müssten die Türen aufgehen. Das hilft mir auch nicht weiter. Bis dahin brauchen wir einen Plan. Etwas, das auf jeden Fall zu einer Erkenntnis führt. Und uns am besten hilft, uns freier bewegen zu können.
Mitten in der Bewegung halte ich inne. "Ich habs!"
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