15. Spiele und keine Spiele
„Regel Nummer eins; Bevor man lernt zu kämpfen muss man wissen wie man flieht.", Jupiter sprang auf und stellte sich vor Mina um ihr ein paar Schritte zu zeigen. Stolz machte er sich größer als er ist und schwellte die schmale, knochige Brust, die kaum von dem braunen Lumpen bedeckt wurde, den er trug. Natürlich wollte er nur angeben, aber Mina tat so, als würde sie das gar nicht merken und lächelte aufmerksam zuhörend.
Die beiden hatten die Mittagsstunden im Schatten der Stadtmauer verbracht und waren nun zur Hafentherme hinab gegangen. Es war zu warm gewesen, um irgendwas zu machen und zum Jagen hatten sie ein wenig später immer noch genügend Zeit. Zumal sich in der Abendsonne mehr Katzen auf die Felsen legten.
„Regel Nummer zwei; Wenn Regeln Nummer eins unter allen Umständen gebrochen werden musste, ist kämpfen dein einziger Weg. Ich zeig dir jetzt mal ein paar Sachen, die mir schon oft geholfen haben, wenn ich in Schwierigkeiten war. Also pass gut auf, ja?", fragte er wie ein strenger Lehrer spielend. Mina nickte eifrig und setzte ebenfalls, wenn auch nur halbherzig, eine konzentrierte Miene auf. Sie fand sein Gehampel lustig, wie er von einem Bein auf das andere sprang, vor ihr hin und her flanierte, wie ein kleiner Soldat.
„Also schön! Wenn ein Erwachsener dich festhalten will, weil du ihm das Essen oder sein Geld geklaut hast, dann machst du so." Er demonstrierte eine Abwehrbewegung mit dem Armen, als wolle er sich von einen unsichtbaren Gegner losreißen.
„Und wenn er dann so machen, dann machst du das!", erklärte er weiter mit phantomischen Bewegungen eine gefährliche Kampfes, der Mina entgegen ihres Vorhabens ernst auszusehen, zum kichern brachte. „Oder du beißt ihn. Hier.", er zeigte auf seine Nase. „Oder da.", und deutete auf seine Ohren. Mina nickte, zweifelnd. Erwachsene waren groß, ob sie da an seine Nase oder seine Ohren kommen konnte? „Aber dann kann er wütend werden und dann hilft nur noch Rennen. Zum Glück bin ich der Schnellste Junge der ganzen Welt, die Erwachsenen haben mich noch nie bekommen." Und er meinte es sehr ernst.
„Regel Nummer drei: Nimm kein Risiko in Kauf, dass sich nicht lohnt. Naja, also das Wichtigste ist, dass du wachsam bist und immer auf Augen, Nase oder Ohren gehst. Das tut besonders weh.", erklärte er und bemerkte Minas zweifelnden Blick. „Und wenn du da nicht ran kommst, dann zwischen die Beine.", Jupiter zeigte grinsend hinunter. „Aber das mache ich dir lieber nicht vor." Er lachte und auch Mina musste ein bisschen lachen, weniger deswegen, weil sie verstand was er andeutete, mehr war es seine fröhliche Mimik und sein lebhaftes Schauspiel, das sie erheiterte.
Doch mit der frohen, lockeren Stimmung war es mit einem Mal vorbei. Aus dem Nichts stand ein Mann hinter Jupiter, griff ihn und hob den schmächtigen Jungen hoch wie ein Spielzeug. Ein dicker Arm legte sich um den zappelnden Jungenkörper, ein zweiter um seinen Hals. Obwohl er schrie und sich wand wie eine Schlange wirkte er wie eine kraftlose Puppe in dem mächtigen Griff des Mannes aus dem es kein Entrinnen gab. Mina war ebenfalls quietschend hochgefahren und stolperte zurück. Mit einem Mal raste ihr Herz vor Angst und eine Gänsehaut überzog ihre Arme.
„Hier du sein und spielen mit schmutzigen Katzenkindern, Mina! Der Herr suchen nach dir seit du von zuhause gelaufen, mehrere Tage lang und er sehr wütend. Er wird strafen, wenn du wieder zuhause. Komm mit mir heim sofort, bevor Herr auch wütend auf mich!" Die tiefe Stimme des Mannes fuhr ihr durch Mark und Bein. Sie erkannte ihn. Es war Leto. Sie hatte diesen Namen schon beinahe genauso oft ausgesprochen wie ihren eigenen. Und doch kam er ihr jetzt beängstigend und fremd vor.
„Lauf weg!", schaffte Jupiter unter dem Gewicht des Arms zu schreien der ihm die Luft abschnürte. „Hol Vater! Schnell!" Und Mina rannte. Noch bevor ihr Kopf hinterherkommen konnte lief sie bereits zum Hafen herunter. „Stehen bleiben!!!" Das war Leto, sein Brüllen war gewaltig und schlug wie ein Peitschenhieb über die Straße. Mina beschleunigte ihren Lauf, hastete über die Steinstraße hinab zu der Kaimauer. „Mina!", rief Leto und es klang immer weiter entfernt. Wie der raue Wind eines herannahenden Sturms.
Sie lief entlang der Schiffe, die friedliche auf den leichten Wellen schaukelten, fiel auf den glatt gelaufenen Steinen beinahe hin, wagte aber nicht stehen zu bleiben. Zwischen den Beinen allerlei Leuten hindurchlaufend erreichte sie rasch das letzte Schiff in der Reihe. Vater!
Ohne Zögern lief sie über den Steg in die offene Tür des alten Fischerbootes. Die muffige Dunkelheit des Innenraumes war leer, alle Kinder waren draußen in der Stadt verteilt. Die Tür zu Vaters Raum war geschlossen, sie lag direkt gegenüber vom Eingang, an den Decken der Kinder vorbei. Mina rauschte darauf zu und trommelte mit beiden Händen an die Tür, ihren eigenen hastigen Atem in den Ohren. Einen kurzen Moment geschah nichts, Mina fürchtete bereits, das Vater gar nicht da war oder vielleicht schlief, als sich die Tür doch über den Boden schabend öffnete und sie eilig zurück sprang. Aber in dem Türrahmen schaute nicht Vater wütend auf sie herab, es war Hercul.
Seine Mine war grimmig, seine Wagen rot und glänzend vom Schweiß. Die Spitzen seiner dunklen Haare waren feucht. Zu Minas Entsetzen trug er keine Tunika, sondern war nur bedeckt mit einem Laken, das sehr viele Flecken hatte. Er atmete schwer, schien irgendwie aufgeregt. Kurz fragte sich Mina, ob er wohl gerade gebadet oder sich gewaschen hatte, anscheinend war ihm warm. Aber sie hatte keine Zeit weiter über seine Erscheinung nachzudenken. Sie brauchte Vaters Hilfe! Und als er so böse auf sie ihn absagen sah, erkannte sie Leere in seinem müden Blick. „Was willst du?", fragte er mit der rauen Stimme eines Jugendlichen der zu wenig getrunken hatte. Und sie konnte nicht antworten. Sie öffnete den Mund doch kein Wort kam heraus. Es waren nur Töne, ein hohes „Ah, ah, ah...", die ihrem zeigenden Fingerchen zur Tür hinaus folgte. Ihre Zunge lag wie ein Stein in ihrem Mund. Sie versuchte es noch einmal, zog die Luft ein, strengte sich mit aller Kraft an, aber es kam nichts heraus außer ein „Da, da, da!". Sie wollte ja sprechen, wollte es in diesem Moment wirklich, aber es gelang einfach nicht. Nie zuvor war es ihr so deutlich aufgefallen wie in diesem Augenblick. Dabei konnte sie sich doch erinnern, dass sie früher mal sprechen konnte, und es sogar gern und viel getan hatte. Aber jetzt gerade ging es nicht.
Wild hektisch fuchtelte sie mit den Armen, zeigte hinter sich, langsam verzweifelter, wollte ihm deuten, dass dort eine Gefahr lauert die sie verfolgte, aber er reagierte nicht. Er verstanden nicht. Sein Gesicht wurde noch etwas wütender. Dann wollte sie seinen Arm nehmen, doch er schlug ihre Hand barsch fort.
Und dann hörte sie Vaters Stimme aus dem Hintergrund, aus dem dunklen Bauch des Schiffes, wo sie nicht hingucken konnte. er fragte Hercul: „Was ist denn?" Und Hercul antwortete: „Nichts... Es ist nichts, Vater. Nur eine der kleinen Ratten die zu früh nachhause gekommen ist. Ich bringe sie hinaus!"
Mit groben Griff packte er ihren Arm bevor sie japsend zurückweichen konnte. Er umschloss mit einer Hand ihren ganzen Arm und zerrte sie mit eiligen Schritten hinaus. Sie wand sich, stemmte die Hacken in den Boden, doch er nahm nur seine zweite Hand zur Hilfe und zog sie weiter hinter sich her. Sein Griff war sehr schmerzhaft und unerwartet stark mit seinen schweißnassen Händen, die sich um ihre Oberarme schlossen. Er ging mit ihr einmal durch den Raum zurück zur Tür und schupste sie mit Schwung auf die Straße zurück, sodass sie stolpernd das Gleichgewicht wieder finden musste. Noch ehe sie über ihre Schulter sehen konnte hörte sie das laute Krachen, mit dem die Tür der Kajüte auf dem Schiff zugezogen wurde. Ein Riegel wurde vorgeschoben.
Das Herz klopft bis zum Hals und brennenden Augen stand sie auf. Was sollte sie jetzt tun? Wo sollte sie hin? Wen um Hilfe rufen?! Sie war allein, ein dünnes kleines Mädchen, allein auf der Straße mit nicht mehr als eine Bulla und ihrer Kleidung am Leib. Leto war ein Riese mit Muskeln, ein ehemaliger Gladiator, der allein mit seinen Fäusten so gefährlich war wie ein Löwe. Aber woher kannte sie so einen Mann nur? Was für ein Herr war das, der auf sie wartete und sie strafen wollte? Gehörte sie denn irgendwo hin?
So viele Fragen, die ihr plötzlich im Kopf rumgeisterten, als sie erneut Letos Rufen hörte. Und er war näher als ihr lieb war. Kaum hatte er ihren Namen gebrüllt, da wandte sie den Kopf und sah einen Berg auf sich zurollen. Wie die Spitze eines Schiffes walzten er sich durch Passanten, die ihm in den Weg kamen, drückte sie mühelos mit den Armen bei Seite und bewegte sich in einer Schneise die bei ihr endete. Wieder schrie sie auf, wieder begann sie zu rennen. Bloß weg, weit weg.
Mit flinken Schritten drückte sie sich zwischen den Passanten durch, wich ihnen aus, bog dann um eine Ecke wieder in die Stadt. Durch ein kleines Tor an der Seite der Stadtmauer schlüpfend, dachte sie, sie könnte Leto am besten im Häuserlabyrinth der Straßen und Gassen abhängen. Und tatsächlich schien es nach einigen Harken um Häuserecken so, als wäre Leto nicht mehr hinter ihr. Sie wurde langsamer. Außer Atem versuchte sie in alle Richtungen zu schauen, scannte die Menschen ab, die hier deutlich weniger unterwegs waren.
Da stieß sie frontal an das Beinpaar eines Erwachsenen, gekleidet in weichen, weißen Stoff. Mina wollte sich gerade daran vorbei schieben, als sie an ihrer Tunika aufgehalten wurde. Mit neuer, aufsteigender Panik griff sie nach der Hand und wollte sie lösen. „Na, na, Mädchen. Wenn man mit jemanden zusammen stößt bittet man um Verzeihung.", sagte die zu der Hand gehörende Stimme. Sie sah auf in das Gesicht eines jungen Mannes, der zusammen mit einem anderen jungen Mann seines Alters und einem älteren Mann mit weißem Bart unterwegs zu sein schien. Alle sahen sie an. Was sollte sie noch einmal tun? Mina schluckte, schaute über ihre erneut hektisch Schulter. „Vielleicht spricht sie kein Latein.", bemerkte der andere. „Komm Cato, lass sie gehen. So wie sie aussieht gehört sie zu den Straßenkindern, davon wimmelt es am Hafen förmlich." Doch Cato, der Mann der sie festhielt hockte sich vor sie und sagte etwas in einer anderen Sprache, was sie aber nicht verstand. Da sah sie wie sich ein mächtiges Paar Schultern um eine Ecke schob und Letos Gesicht zum Vorschein kam.
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