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Es war ein Moment, in dem Carsten nicht wusste, was er tun sollte. War die Überraschung darüber, jemanden des Nachts auf der Straße zu sehen, der zum eigenen Schlafzimmerfenster hochschaute, schon groß genug. In Carstens speziellem Fall kam noch dazu, dass es sich bei diesem Jemand um eine fiktive Romanfigur handelte! Ohne zu wissen warum und mit welchem Zweck, hob Carsten seine Hand und winkte dem Mann zu. Er konnte sich nicht erklären, warum er gerade das tat. Vermutlich, weil er sehen wollte, ob der Mann dort unten darauf reagieren würde. Um sich selbst zu beweisen, dass das, was er da unten sah, nicht echt sein konnte. Henry schaute ihn nur weiter an.
Carsten rieb sich die Augen, auch auf die Gefahr hin, dass Henry weg sein könnte, wenn er sie wieder aufmachte. Ein bisschen hoffte er ja auch, dass Henry weg sein würde, wenn er die Augen wieder aufmachen würde. Aber nein, da war er, da stand er immer noch und schaute Carsten an. Es war zugleich unheimlich und faszinierend. Als würde man träumen, aber gleichzeitig denken, man sei wach. Carsten öffnete das Fenster und lehnte sich ein Stück weit hinaus. Henry schaute ihn immer noch an. Dann machte Henry eine Geste, dass Carsten sich umdrehen solle. Er drehte sich um und da stand Lisa hinter ihm, ganz verschlafen, die Augen halb geschlossen.
"Was machst du da?", murmelte sie müde.
"Ich ... nichts."
Carsten schaute wieder aus dem Fenster und da stand Henry immer noch, unverändert.
"Hey, schau mal, da draußen ...", sagte Carsten an Lisa gerichtet und drehte seinen Kopf wieder zu ihr, aber da lag sie auch schon wieder im Bett und schlief fest. So schnell? Wie hatte sie sich so schnell wieder ins Bett legen können? Carsten wandte sich wieder zum Fenster und ja, Henry stand immer noch da. Gepackt von einer durch Überraschung angefeuerten Wut, öffnete Carsten das Fenster, lehnte sich ein Stück heraus und rief: "Was willst du?"
Henry antwortete nicht.
"Was willst du?", rief Carsten noch lauter. Keine Antwort von Henry.
Noch lauter: "Was willst du?"
Aus einem anderen Haus brüllte eine tiefe Stimme: "Ruhe, Mann!" Carsten zuckte zurück, schloss das Fenster und ließ die Rollläden herunter. Und selbst als er durch den Spalt zwischen den Rollläden schaute, stand da immer noch Henry. Mit einem unguten Gefühl im Bauch legte sich Carsten ins Bett. Er war nicht nur beunruhigt, weil Henry dort unten stand und wortlos zum Fenster hochschaute. Er war vor allen Dingen beunruhigt, dass er Henry überhaupt sehen konnte. Was war los? War das, weil er so lange geschrieben hatte? Hatte er sich so überarbeitet, dass er jetzt sogar schon Gespenster sah? War es ein Streich, den ihm seine Wahrnehmung spielte?
Aber eine Illusion hatte es nicht sein können. Denn schließlich hatte Henry immer noch dort unten gestanden, nachdem Carsten sich die Augen gerieben hatte. Eine bloße Illusion wäre sicherlich verschwunden. Nicht so Henry. Er hatte dort unten gestanden, er hatte sogar Schatten geworfen. Er hatte so echt ausgesehen. Und dass es wirklich auch Henry höchstpersönlich war, daran bestand kein Zweifel.
Und dann kam Carsten eine Frage in den Sinn, die ihm Schauder über den Rücken jagte. Was, wenn Henry versuchen würde, in das Haus einzudringen? Henry wusste schließlich, wie man so etwas tat. Und Henry scheute auch nicht vor solchen Dingen zurück. Wenn er etwas wollte, dann tat er es auch. Ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Der Gedanke daran jagte Carstens Puls in die Höhe.
Carsten wusste, dass er in dieser Nacht nicht würde schlafen können, dass er einen ruhigen Schlummer nach dem Anblick von Henry absolut vergessen konnte. Er konnte es vergessen, sanft in die Welt der Träume abzugleiten. Stattdessen war er wachsam und auf der Hut, falls Henry etwas tun würde. Ein Blick auf den Wecker verriet Carsten, dass es viertel nach zwei war.
Weil er sowieso nicht einschlafen konnte, stand er auf und ging erneut zum Fenster, wo er durch den Spalt zwischen den Rollläden lugte. Henry war weg. Aber Carsten wusste nicht, ob ihn das beruhigen oder in helle Panik versetzen sollte. Denn wenn man Henry sah, dann wusste man, dass er dort unten war, viele Meter von Carsten entfernt, zusätzlich noch durch dicke Wände getrennt. Wenn man ihn aber nicht mehr sah, dann konnte er überall sein, auch direkt neben dem Bett ... Wenn er nicht dort unter der Straßenlaterne stand, konnte er überall sein. Auch im Haus.
Leise ging Carsten aus dem Schlafzimmer. Von seiner Müdigkeit spürte er nichts mehr. Er ging die Treppen hinunter. Alle Lichter im Haus waren ausgeschaltet. Er schlich durch jedes Zimmer, schaute hinter jeder Tür nach. In der Toilette war niemand, in der Küche nicht, im Wohnzimmer nicht und im Büro auch nicht. Auf der Terrasse stand keiner und im Garten war auch niemand zu sehen, sonst wäre die automatische Beleuchtung angegangen.
Carsten wollte wieder nach oben gehen, da schreckte er zurück. Niemand Geringeres als Henry stand direkt vor ihm auf der ersten Treppenstufe, als sei er gerade eben, während Carsten das ganze Erdgeschoss durchsucht hatte, von oben herunter gekommen.
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