24
Im Flur war niemand zu sehen. Er war übersichtlich und es wäre nicht möglich gewesen, dass sich jemand irgendwo hier verstecken hätte können. Leise schlurfte Carsten näher an die Küchentür heran. Als er direkt davor stand, beugte er sich herunter, um durch das Schlüsselloch der Küchentür zu schauen. Er sah, was er erwartet hatte. Das Küchenfenster war eingeschlagen. Die Glassplitter lagen auf den Dielen verstreut. Der Stuhl, auf dem Luisa gesessen hatte, war leer.
Wie gerne wäre Carsten einfach zur Haustür heraus gelaufen und schnellstens aus diesem Haus verschwunden! Hopp hopp wie der Hase übers Feld. Unterwegs noch einen Haken schlagen, um den Verfolger zu verwirren und dann ab durch die Mitte. Aber etwas in ihm verbot es, einfach wegzulaufen. Denn Luisa war offensichtlich etwas zugestoßen. Leise fluchend haderte Carsten mit sich. Er schalt sich einen jämmerlichen Angsthasen. Aber es half alles nichts.
Einmal holte er tief Luft, dann öffnete Carsten die Küchentür und trat ein. Der völligen Stille wegen hatte er nicht erwartetet, jemanden hier zu sehen, aber links neben der Tür - dorthin, wo er durch das Schlüsselloch nicht hatte sehen können - kauerte Luisa auf dem Boden, neben ihr stand Henry an der Wand angelehnt.
Carsten hielt den Eimer hinter seinem Rücken versteckt, hätte ihn in dem Moment aber beinahe fallen lassen. Hätte er sich nicht gefangen, hätte Henry den Eimer gesehen. Aber Carsten wollte sein Ass im Ärmel noch nicht zeigen. Als Henry ihn sah, grinste er.
"Dann sind wir jetzt vollzählig", sagte Henry.
"Was hast du mit ihr gemacht?", fragte Carsten.
"Nichts", sagte Henry. Er schaute verächtlich zu Luisa herunter. Sie saß einfach nur da und starrte vor sich hin. Die schlanken Arme hatte die um ihre Beine geschlungen. Seitdem er den Raum betreten hatte, hatte sie Carsten nicht einmal angesehen.
"Was hast du mit ihr gemacht?", fragte Carsten noch einmal nachdrücklich. Henry schaute ihn mit nachsichtigem Blick an und sagte: "Schau sie dir an. Sie ist unversehrt. Was soll ich ihr denn getan haben? Mach mich nicht schlimmer als ich bin."
"Warum hat sie dann vorhin geschrien? Und warum sitzt sie auf dem Boden und sieht aus als hätte sie das Grauen in Person gesehen?", fragte Carsten. Er bemerkte, dass sein Mund trocken war und dachte zusammenhangslos, dass er gerne einen Schluck Wasser aus dem Eimer nehmen würde.
Henry machte den Mund auf, um Carsten zu antworten, sagte dann aber doch nichts und lächelte milde. Carsten schaute ihn mit wildem Blick an und Henry begann, zu lachen.
"Carsten! Carsten! Du scheinst es immer noch nicht verstanden zu haben! Es passiert alles, wie du es geschrieben hast. Für dich dürfte es hier keine Überraschungen geben. Alles ist so, wie du es beschrieben hast. Und deswegen darfst du jetzt auch den Eimer Wasser beiseite legen, bevor du noch einen Muskelkater bekommst."
Mit einem Poltern fiel der Eimer hinter Carsten auf den Boden und das Wasser lief über die dunklen Holzdielen.
"Woher weißt du das?", fragte er atemlos.
"Weil ich das Manuskript gelesen habe", sagte Henry und klang dabei leicht gelangweilt.
"Wo ist es?", fragte Carsten.
"In deinem Büro natürlich."
"Zeig es mir", verlangte Carsten. Henry trat einen Schritt auf ihn zu.
"Ja, ich zeig es dir. Ich zeig es dir gleich richtig", sagte Henry bedrohlich leise. Carsten wich einen Schritt zurück. Er trat in die Pfütze, die sich gebildet hatte. Das Wasser versickerte nur langsam zwischen den Dielenbrettern. Aber es war noch etwas da. Wenn er mit Henry ringen würde, ihn zu Boden drücken würde und -
Mit einem schnellen Griff packte Henry Carsten im Nacken und drückte zu. Carstens Hände griffen an die von Henry, aber er konnte den Griff nicht lösen. Es fühlte sich an, als hätte sich ein Tiger in seinem Nacken verbissen. Carsten krümmte sich und Henry beugte sich über ihn.
"Du hast gedacht, dass du abhauen kannst?", zischte er Carsten ins Ohr.
"Was willst du von mir?", fragte Carsten und war bemüht, nicht zu wimmern. Henrys fester Griff brannte in seinem Nacken.
"TU NICHT SO!", brüllte Henry und lief Carsten ruckartig los, sodass dieser gegen die Tür zum Badezimmer stolperte. Er konnte sich noch abfangen, bevor er auf den Boden gefallen wäre. Auf dem Ohr, das Henrys Mund am nächsten gewesen war, fiepte es. Henry baute sich im Türrahmen auf. Er nahm die gesamte Breite ein. Es schien, als würde er immer größer werden.
So wie er da stand, wie er mit wild glänzendem Blick zu Carsten schaute, wurde ihm Angst und Bange. Ein Wolf, der seine Beute taxierte, bevor er ihr endgültig den Garaus machte. Carsten war in der Falle. Der Wolf und das Häschen ... Bevor Henry etwas tun konnte, sprang Carsten mit einem Satz zur Badewanne, griff sich die Duschbrause und drehte den Hahn so weit auf, wie es nur ging. Den Strahl hielt er auf Henry gerichtet.
Das Wasser spritzte mit voller Kraft aus dem Duschkopf durch das Badezimmer bis in den Flur und durchnässte Henry von oben bis unten. Der Wärmeregler war auf heißes Wasser eingestellt und schnell füllte sich das Badezimmer mit Dampf. Doch weiter passierte nichts. Das Wasser platschte auf die Wände, auf den Boden, auf Henry. Aber so, wie Carsten es sich vorgestellt hatte, war es nicht.
Was hatte er sich denn erwartet? Er hatte erwartet, Henry schreien zu hören. Der Moment, in dem er Henry den Kaffee aufs Hemd geschüttet hatte, ging Carsten durch den Kopf. Henry hatte wegen einer Tasse Kaffee schon reagiert, als hätte Carsten ihm mit etwas Unsäglichem beschüttet. Die Duschbrause hatte eine weitaus größere Menge an Wasser auf Henry niederregnen lassen. Es musste eine Wirkung gehabt haben. Vielleicht, dachte Carsten hoffnungsvoll, hatte sich Henry aufgelöst, noch bevor er überhaupt einen Laut von sich hätte geben können.
Der Dampf verhinderte die Sicht und Carsten drehte das Wasser ab. Sowie sich der Nebel lichtete, bekam eine schemenhafte Gestalt, die unweit von Carsten stand, immer schärfere Umrisse. Nun war er das Entsetzen in seiner reinsten Gestalt, das Carsten im Nacken packte. Triefnass stand er da, der Mann aus Papier und schaute Carsten an wie ein provozierter Stier den Torero.
"Idiot!", rief Henry und kam auf Carsten zu. Je näher er kam, desto genauer konnte Carsten erkennen, dass Henrys Gesicht nun keines mehr aus Papier, sondern ein echtes Gesicht war. Es war so echt wie das von Carsten. Wie das von Carsten noch war.
In diesem Moment wurde Carsten bewusst, dass er nichts mehr gegen Henry in der Hand hatte. Zumindest nicht in diesem Moment. Er hatte alles auf das Wasser gesetzt. Und er hatte verloren. Was auch immer Henry mit ihm vor hatte, er würde es ungehindert tun können. Carsten wusste genauso gut wie Henry, dass er sich gegen den Hünen nicht wehren konnte. Besonders jetzt nicht, wo sie ihre Rollen tauschten. Aus dem Mann wurde der Papier-Mann und aus dem Papier-Mann war der Mann geworden.
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