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Das Haus der besagten Cousine lag in einer sehr ruhigen Seitenstraße. Es handelte sich um ein Haus, das vom Stil her so aussah, als sei es Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut worden. Es hatte den nostalgischen Charme eines gemütlichen, ländlichen Bauernhauses. Umgeben war es von einem hohen Tor, das dunkelgrün gestrichen war. An der Fassade des Hauses war zwar der Putz stellenweise abgebröckelt, aber sonst waren wenig Alterserscheinungen zu erkennen. Zumindest im Licht der Autoscheinwerfer. Luisa hielt kurz vor dem Tor an, zog die Handbremse und stieg aus dem Wagen, um das Tor zu öffnen. Dann stieg sie wieder ein und fuhr den Wagen über die unebene gepflasterte Einfahrt in den Hof.
Der Innenhof bestätigte Carstens ersten Eindruck. Es musste sich wirklich um ein ehemaliges Bauernhaus handeln, denn links befand sich eine Scheune. Ein niedriges, verwittertes Gebäude aus Holz, das aussah, als würde es sich zum Schutz vor einem Sturm ducken. Luisa machte den Motor aus und sagte: "Da wären wir. Meine Cousine schläft sicher schon, deshalb sollten wir möglichst leise sein. Sie wohnt hier alleine, ihr Zimmer ist das da oben im Dachgeschoss. Wir schlafen im Erdgeschoss. Das Haus ist aber hellhörig, also pssst" Luisa und legte sich den Finger auf die Lippen. Carsten nickte und beide stiegen aus.
Die Haustür sowie die Fensterläden waren in derselben Farbe lackiert wie auch das Tor. Von nahem konnte Carsten erkennen, dass der dunkelgrüne Lack von vielen kleinen Rissen durchzogen war. Luisa sperrte die Tür auf und trat ein. Hinter ihr folgte Carsten. Er schloss die Tür leise hinter sich. Die beiden tappten durch den dunklen Flur. Leise knarrten die Dielen unter ihren Füßen. Ja, es musste sicherlich ein sehr altes Haus sein. Carstens Haus hatte auf jeden Fall keinen Dielenboden. Wann hatte man denn Häuser mit Dielenböden gebaut? Und wie alt musste ein Haus sein, damit die Dielen sich akustisch bemerkbar machten? Carsten wusste es nicht, schätzte es aber auf gefühlt hundert Jahre ein.
Noch nie in seinem Leben war Carsten in so einem alten Haus gewesen und er fühlte Ehrfurcht vor diesem hochbetagten Holz unter seinen Füßen, das schon etlichen Jahren getrotzt hatte und noch vielen weiteren trotzen würde.
In dem besagten Zimmer im Erdgeschoss schaltete Luisa das Licht an. Die Deckenlampe tauchte den großen Raum in schwaches gelbliches Licht. Ein Einzelbett stand links, ein großer heller Schrank rechts von der Tür. Direkt gegenüber von der Tür war ein Fenster unter dem eine Kommode stand. In dem ganzen Raum gab es keine Heizung, was Carstens Vermutung über das Alter des Hauses unterstrich. Die Möbel hingegen sahen nicht so alt aus, wie er es aufgrund des Hauses erwartet hätte. Es mussten Luisas eigene Möbel sein.
"Ich hab eine Luftmatratze für dich besorgt", sagte Luisa und zog ein zerknautschtes graues Etwas unter dem Bett hervor. Sie setzte hinzu: "Die muss man allerdings erst aufblasen."
Carsten nahm die Matratze entgegen und suchte das Ventil.
"Halt, warte! Du musst es doch nicht mit dem Mund aufpusten! Ich hab eine Luftpumpe", sagte Luisa und lachte leise. Sie hätte wahrscheinlich viel lauter lachen wollen, wenn sie dadurch nicht Gefahr laufen würde, ihre Cousine aufzuwecken.
Während Carsten die Matratze aufpumpte, saß Luisa auf dem Bett und schaute ihn an. Immer, wenn er einen Blick aus dem Augenwinkel auf sie warf, schaute sie woanders hin. Als er fertig war, warf er die Luftmatratze mit einigen Metern Abstand neben Luisas Bett auf den Boden.
"Gibt es auch Bettwäsche?", fragte er. Ihm war jetzt, wo er ein Bett in Aussicht hatte, plötzlich bewusst, wie müde er eigentlich war. Er hatte in dieser Nacht noch keine Minute richtig geschlafen. Das Nickerchen in Luisas Auto zählte nicht. Alleine der Gedanke an ein weiches Kissen verleitete Carsten zum Gähnen.
Luisa stieg über die Matratze hinweg zu ihrem Schrank, wobei sie sich an Carstens Schultern festhielt. Ihre Berührung fühlte sich an wie die eines echten Menschen, nicht wie von Papier. Ihre Hände waren weich, wenngleich auf ihnen die Fasern des Papiers zu sehen waren, die bewiesen, dass sie nicht echt waren. Sie zog eine Bettdecke und ein Kissen heraus, dazu blau-weiß gestreifte Überzüge und reichte sie Carsten.
Er wollte nicht jammern, aber er hätte es einiges lieber gesehen, wenn die Decke und das Kissen schon überzogen gewesen wären. Aber so tat er es nun selber. Diesmal sah Luisa ihm nicht zu, sie nahm sich das Kissen und streifte ihm den Überzug über, während Carsten die Decke überzog.
"Danke", sagte er.
"Kein Problem. Wir sind beide müde und brauchen jetzt erst einmal eine Menge Schlaf. Das Badezimmer ist übrigens gleich nebenan. Ich leg mich jetzt hin. Gute Nacht", sagte sie, gab Carsten einen zaghaften Kuss auf die Wange und legte sich ins Bett. Sie hatte sich nicht einmal mehr umgezogen.
Carsten streifte sein T-Shirt ab und zog sich seine Schuhe und die Jeans aus. Alles legte er säuberlich zusammen neben die Matratze. Er breitete sich auf der Luftmatratze aus, deckte sich zu und dachte noch kurz darüber nach, was für ein seltsamer Tag heute gewesen war und wie sehr er sich wünschte, morgen in der echten Welt aufzuwachen. Dann war er eingeschlafen.
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