Kapitel 12 - Dunkelheit
Mit angelegten Ohren kämpfte sich Strandböhe einen steinigen Pfad zum Wasser hinunter. Heute schien es so, als würde es immer stürmischer werden. Das Meer röhrte laut und durchdringend und ließ ihren Körper erbeben. Dennoch war sie fest entschlossen, ihre Suche nach Dunkelfohlen fortzusetzen. Nachdem der junge Hengst nach drei Tagen noch immer nicht aufgetaucht war, hatten die meisten ihre Hoffnung bereits aufgegeben. Doch nicht sie. Tief in ihrem Inneren fühlte die cremefarbene Stute, dass es noch Hoffnung gab.
Keuchend blieb sie am Fuß der Felsen stehen und lies ihren Blick über die feuchte Sandfläche vor sich schweifen. Noch nie hatte sie gesehen, dass sich das Meer so weit zurückgezogen hatte. In der Ferne sah sie die felsigen Inseln aus dem glänzenden Schlamm hervorstechen. Dort würde sie suchen. Wenn es noch eine Chance gab, Dunkelfohlen zu finden, dann auf einem dieser Felsen.
Mit brennenden Muskeln wagte Strandböhe es, einen Huf in den schleimigen Sand zu setzen. Schmatzend versank sie eine gute Kopflänge darin. Angestrengt tat sie einige Schritte und fand ihren Weg auf einen etwas festeren Bereich. Das vor ihr liegende Schlammfeld war über und über von Rinnsalen und tückischen Pfützen umgeben. Sie musste höllisch aufpassen, wenn sie nicht darin versinken wollte. Eigentlich wagten die Pferde der Salzherde es nicht, bei Ebbe so weit hinaus zu laufen. Die Gefahr, dass die Flut zurückkehrte oder man ins Leere Trat und metertief im Boden versank, war einfach zu groß. Aber Strandböhe war auf eigenen Huf losgezogen. Ihre Mission stand fest. Sie musste es zumindest versuchen, Dunkelfohlen auf den Inseln zu suchen. Auch wenn sie dadurch womöglich ihr eigenes Leben riskierte.
Der Wind nahm immer weiter zu und der Himmel verdunkelte sich zunehmend. Salziger Wind ließ Strandböhes Wimpern verkleben und behinderte die Sicht. Immer wieder musste sie darauf achten, nicht auf Krebse oder Muscheln zu treten, die im Sand zurückgeblieben waren. Schierende Algen und der Gestank nach toten Fischen brachte sie dazu, angewidert die Nüstern zu rümpfen. Da mischte sich plötzlich noch ein weiterer Geruch zwischen all den Schlick und das faulende Wasser. Inzwischen schien der Sturm eine Pause eingelegt zu haben und vereinzelte Sonnenstrahlen blitzten zwischen den dichten Wolken hervor und ließen die feuchte Erde glitzern.
Strandböhe verlangsamte ihren Lauf. Witternd reckte sie die Nüstern in den Wind. Sofort schnellten ihre Ohren alarmiert nach vorne, als sie den Geruch erkannte. Pferde. Aber nicht irgendwelche Pferde. Es waren genau jene, die sie vor einigen Tagen bei ihrer Versammlung am Strand belauscht hatte. Instinktiv duckte die helle Stute sich und spähte in die Ferne. Einige dutzend Baumlängen entfernt zog ein Trüppchen von 10 Pferden durch das Watt. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Strandböhe zu ihnen hinüber. Sie hatten die Stute noch nicht entdeckt. Vielmehr waren sie damit beschäftigt, sich unbeholfen durch den Schlamm zu quälen. Die Läuferin aus der Salzherde beschloss, ihnen mit einigem Abstand zu folgen. Sie war interessiert darin, was diese merkwürdigen Pferde vorhatten. Außerdem nahmen sie ebenso die Route in Richtung der felsigen Inseln, die noch ein gutes Stück entfernt inmitten der Massen der glänzen Fläche.
Um ihren Eigengeruch zu verbergen und sich besser an die Umgebung anzugleichen, wälzte sich Strandböhe großzügig im Schlamm. Sie hoffte, sich dadurch unbemerkt an die Hufe der Gruppe heften zu können.
Nach einer Weile wagte sie es, sich soweit zu nähern, dass einzelne Wortfetzen durch den brausenden Wind zu ihr herüber getragen wurden. Ein sportlicher Braunschecke schritt mit erhobenen Kopf neben dem großen Fuchs voran, den Strandböhe damals am Strand erspäht hatte. Sie spitzte die Ohren und hörte den Schecken mit rauer Stimme wiehern: „Wie weit ist es denn noch zu diesem Sonnenkristall?"
Ein Schauer durchzuckte Strandböhes Glieder. Davon hatten die Pferde bei ihrer Versammlung auch bereits gesprochen. Waren sie etwa auf dem Weg dorthin. Angespannt lauschte sie und beschloss, ihnen auf jeden Fall weiterhin zu folgen. Es brannte ihr in den Gliedern, herauszufinden, was es mit diesem mysteriösen Sonnenkristall auf sich hatte.
„Siehst du die Inseln da vorne, Flimmermähne", erwiderte eine etwas kleinere, blaugrau gemusterte Stute. „Ich denke, dass wir sie bis Sonnenhoch erreicht haben werden."
„Sonnenhoch ..", murmelte ein kompakter Brauner, der neben ihr her trottete. „Ich hoffe, die Sonne lässt sich bis dahin wieder blicken." Sorgenvoll schweifte sein Blick gen Himmel, wo sich noch immer düstere Wolken türmten.
„Du hast Recht, Krautfell", entgegnete ein stattlicher Rappe. „Ohne die Sonne wird der Sonnenkristall uns keine Nachrichten senden können." Auch seine Augen schienen zusammengekniffen.
Strandböhe schluckte. Sie verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte.
„Das wäre das erste Mal seit meiner Zeit, dass der Sonnenkristall und den Zugang zu seiner Macht verwehrt", schnaubte die blaugraue Stute verbissen.
„Könnte nicht allein das eine Nachricht darstellen?", fragte der Fuchs. „Vielleicht sollen wir selbst auf die Lösung des Problems der fremden Herde in unseren Gebieten kommen."
Fremde Herde? Strandböhe war sich sicher, dass die Salzherde damit gemeint war. Sicherlich würden diese Pferde versuchen, sie aus ihrem neuen Lager zu vertreiben. Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen. Zu lange waren sie auf der Suche gewesen und dieser Ort schien perfekt. Endlich fühlte sie sich wieder irgendwo zu Hause.
Plötzlich wurde sie von einer Bewegung zwischen Felsbrocken aufgeschreckt. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie bereits so weit vom Land entfernt war. Erste Inselketten taten sich vor ihr auf. Direkt hinter einem nahegelegenen Fels schien etwas zu kauern. Strandböhe lenkte ihre Aufmerksamkeit von der sich entfernenden Pferdetruppe auf das dunkle Bündel, das dort zwischen Algen und Treibholz kauerte.
„Hallo?", wieherte sie vorsichtig. Angespannt näherte sie sich. Das Etwas besaß einen vor Nässe glänzenden Pelz und zitterte entsetzlich. War es etwa ...
„Mama?", kam es bibbernd von dem Bündel.
Erschrocken stellte Strandböhe fest, dass es sich um ein Pferd handelte. So schnell es der tiefe Schlick zuließ, sprang sie zu den Felsen heran. Kurz darauf drang ein vertrauter Geruch in ihre Nüstern, der ihr zwischen all dem Salz in der Luft kaum aufgefallen war.
„Dunkelfohlen!", entfuhr es ihr. „Du lebst!" Eine Woge der Erleichterung brach auf die Stute herein. Das kleine Fohlen mit dem durch das Wasser noch dunkler wirkenden Pelz hob schwach den Kopf in ihre Richtung. Liebevoll strich Strandböhe ihm mit den Nüstern den zottigen und verklebten Schopf aus der Stirn und entblößte einen winzigen, weißen Stern. „Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe."
Vorsichtig half sie dem zitternden Bündel auf die Beine und begann, das salzige Wasser aus seinem Fell zu lecken. „Wie hast du es nur geschafft, so lange am Leben zu bleiben?"
„Ich habe mich an einem Stück Holz festgeklammert, als ich ins Meer gestürzt bin", erklärte Dunkelfohlen mit dünner Stimme. „Dann wurde ich auf eine der Felseninseln getrieben. Als die Ebbe kam, bin ich losgelaufen und wollte das Lager finden, aber irgendwann war ich zu schwach und brach zusammen. Jetzt weiß ich nicht mehr, in welcher Richtung das Meer und wo die Küste ist."
Erst jetzt fiel Strandböhe auf, wie abgemagert der junge Hengst war. Auf seinem einst muskulösen Körper zeichnete sich jede einzelne Rippe ab. Als sie ihn einigermaßen wieder aufgewärmt hatte, schweifte ihr Blick in die Ferne. Alles schien grau und uniform. Dichter Nebel war aufgetaucht und der Himmel verdunkelte sich zunehmend. Da fielen erste Tropfen auf ihre Nüstern nieder.
„Verdammt", hauchte sie mit vor Verzweiflung geweiteten Augen. Durch das diesige Wetter wusste auch sie nichtmehr, woher sie gekommen war und wie sie jemals zurück ins Lager finden sollten. Überall schien es grau und gleich auszusehen. Ihre Spuren waren längst vom nassen Schlick verschlungen worden.
„Was machen wir jetzt?", schniefte Dunkelfohlen. Durch die Nässe schien er fiebrig und krank zu sein.
„Ich ..." Erneut kniff Strandböhe die Augen zusammen und versuchte, zwischen dem immer dichter werdenden Nebel etwas zu erkennen. Doch es war Aussichtslos. Bald schon konnte sie kaum den eigenen Huf vor Augen sehen. Nach Schutz suchend zog sie Dunkelfohlen um den Felsen herum, unter dem sie ihn gefunden hatte. Der Regen peitschte mittlerweile fast schmerzhaft in ihre Gesichter. Da entdeckte die Stute einen Pfad, der den steinigen Hang hinaufführte. Sie schob Dunkelfohlen in diese Richtung. Mit mehr Glück als Verstand kauerten sie sich wenig später unter einen Überhang, der zumindest etwas Schutz vor dem prasselnden Regen bot. Schwer atmend presste Strandböhe ihren Körper gegen das dürre Fohlen, um ihm etwas Wärme zu spenden. Sie hoffte inständig, dass das Unwetter bald nachlassen würde und sie den Rückweg fanden. Mit jedem Herzschlag schien die Überlebenschance Dunkelfohlens weiter zu schwinden.
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