~Two~
Mikhail verschwand durch das Fenster und ich starrte geistesabwesend auf den Stick in meiner Hand. Es fühlte sich noch immer falsch an, aber er ließ mir keine Wahl. Ich konnte Stenja nicht verlieren. Er war meine einzige Konstante im Leben. Der Mittelpunkt in all meinem Chaos.
Noch immer völlig neben der Spur verließ ich die Damentoilette und lief dabei geradewegs in Tysons Arme. Er sah mich besorgt an, ehe er einen Blick hinter mich in die leere Damentoilette warf.
„Ich würde gern nach Hause", informierte ich ihn. Ich war keineswegs in der Lage, noch mehr aus meiner Vergangenheit zu erfahren. Allerdings musste ich dann Yonathan mit seiner Cousine begegnen, worauf ich ebenso wenig scharf war. Ich ertrug es nicht, wie ausgelassen beide waren, während die Welt um mich herum immer weiter in sich zusammenfiel.
„Das erste Mal, dass wir einer Meinung sind", erwiderte Tyson. Er begleitete mich zu dem Tisch, an dem meine Tante noch immer mit Richard saß. Ihr Fokus landete auf meinem Gesicht und so etwas, wie Besorgnis blitzte in ihren Augen auf.
„Tante Beth, mir geht es nicht so gut, weshalb Ty mich nach Hause bringt."
„Aber deine Mut-", setzte sie an, wurde von mir jedoch unmittelbar unterbrochen.
„Ich weiß genug fürs Erste. Die Informationen muss ich erstmal verarbeiten. Ich komme dich aber bald nochmal besuchen." In ihren Augen schimmerte kurz Hoffnung auf, ehe sie ihren Blick auf die Tischplatte vor sich richtete.
„Könntest du Kilian von mir ausrichten, dass es mir unendlich leid tut", bat sie mich über die Musik hinweg kaum hörbar. Erneut sah sie mich an und ich erkannte, wie schon im Trailer, diese unendliche Traurigkeit in ihrem Gesicht.
„Ich kann versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten." Beth nickte und mein Magen krampfte sich allein von der Vorstellung unangenehm zusammen. Kirill war sicher noch immer nicht sonderlich gut auf mich zu sprechen.
Ich verabschiedete mich von ihr und nickte auch Richard ein letztes Mal zu, bevor Tyson und seine Männer mit mir gemeinsam den Club verließen. Unmittelbar an der frischen Luft wurde mir die Tür des Wagens aufgehalten. Ohne zu zögern, stieg ich ein und ließ mich tief in den lederbezogenen Sitz sinken.
Meine Ohren rauschten von der Musik und mein Kopf dröhnte von all den Geschehnissen. Der kleine Stick in meiner Hand fühlte sich viel schwerer an und sofort suchte ich verzweifelt nach einer Lösung. Sollte ich Yonathan davon erzählen und somit das Leben von Stenja aufs Spiel setzen? Oder sollte ich alles aufs Spiel setzen und das Risiko eingehen, dass Yonathan mich erwischt und für immer hasst?
Wie sollte ich es nur anstellen, unentdeckt an seinen PC zu gehen? Vielleicht konnte Raya für genügend Ablenkung sorgen und war somit für mich eine Bereicherung. Auch wenn ich sie nur ungern in seiner Nähe sah.
Die Fahrt zurück verging wesentlich schneller und schon bald hielt der schwarze SUV vor dem hohen Gebäude, in dem sich Yonathans Penthouse befand. Tyson öffnete die hintere Tür und betrübt stieg ich aus. Ich versuchte, krampfhaft meinen steigenden Puls zu regulieren, aber die Angst, was mich in der Wohnung erwartete, saß mir tief im Nacken.
Du bist selbst schuld!
Dessen war ich mir durchaus bewusst, dennoch tat die Wahrheit mehr weh, als ich mir selber eingestehen wollte.
„Ich begleite Sie noch nach oben", sagte Tyson, als wir an den Fahrstühlen ankamen und er den Rufknopf betätigte. Ich nickte nur stumm und starrte der goldenen Aufzugtüren entgegen. „Sie sind so still, Skylar. Was ist vorgefallen?"
In dem Moment erschien der Aufzug, weshalb ich eilig die wenigen Schritte vorging und ertappt das Zahlenfeld vor mir sah. Tyson wählte zuerst die Etage und gab daraufhin den Code für Yonathans Penthouse ein.
„Ich bin nur erschöpft und muss all die Informationen erstmal sacken lassen", erwiderte ich anschließend.
„Mir gefiel es besser, als Sie immer einen frechen Spruch auf den Lippen hatten." Verwirrt blickte ich zur Seite und erkannte das leichte Zucken um seinen Mundwinkeln.
„Montag, acht Uhr, habe ich die erste Vorlesung in der Uni. Ich erwarte Sie pünktlich, Ty", sagte ich, als der Aufzug in den oberen Etagen ankam, in dem auch Nates Wohnung war.
„Jawohl Ma'am", grinste Tyson, ehe die Aufzugtüren aufglitten und ich in das offene Foyer schaute. Ich ging wenige Schritte vor und sah ein letztes Mal über meine Schulter, während mein Bodyguard bereits auf die Zahl drückte, in der seine Wohnung war.
„Bis Montag", verabschiedete er sich, ehe die Türen des Fahrstuhls sich wieder schlossen. Kurz verharrte ich noch in dem mäßig beleuchteten Foyer, als ein schrilles Kichern meine Kehle fest zusammenschnüren ließ. Mir war sofort klar, dass es Rayas Lachen war, dass aus der Richtung des Wohnzimmers kam.
Mein Puls beschleunigte und mir leisen Schritten schlich ich mich vorwärts, bis ich um die Ecke zu dem Wohnbereich schauen konnte. Sie saßen auf der Wohnlandschaft, wobei zwischen beiden eine Menge Abstand war, da Yonathan an einem Ende der Couch und Raya gegenüber von ihm gegen das andere Ende lehnte. Beide hielten kleine Schüsseln in den Händen und ich bemerkte den Geruch von frischem Popcorn.
„Wenn ich treffe, zeigst du mir das Bild von dir, von dem du mir erzählst, hast", sagte er mit einem fiesen Grinsen, ehe Raya sich augenrollend aufrichtete und den Mund öffnete. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich das Geschehen von mir.
Yonathan warf das Popcorn und versuchte allem Anschein nach, den Mund von Raya zu treffen, die jedoch kaum merklich zur Seite wich.
„Du schummelst!", rief Yonathan empört, als er plötzlich aufsprang. Raya kreischte auf und realisierte zu spät, dass er direkt auf sie zulief. Lauthals lachend versuchte sie Yonathan auszuweichen, dieser packte seine Cousine jedoch und rang mit ihr um das Handy, dass sie in der Hand hielt.
Seit wann alberte Yonathan so herum?
Wir hatten hin und wieder auch lustige Zeiten, aber ich hatte ihn noch nie so ausgelassen und fröhlich gesehen. Ein schmerzhafter Stich zog durch mein Herz. Ich spürte, wie sich Tränen hochkämpften, weshalb ich schwer schluckte und mit dem Blick nach oben blinzelte.
Es sollte mir egal sein!
„Heilige Scheiße!", lachte Nate so voller Inbrunst, dass ich das Schluchzen nicht mehr zurückhalten konnte. „Kein Wunder. Dafür hätte ich mich auch geschämt."
Raya fluchte auf Russisch und entriss ihm das Smartphone, um sich gleich darauf wieder auf die Couch zu setzen.
„Ich bin dran, Kingsley. Wenn ich treffe, zeigst du mir das Zimmer."
„Ach komm, Raya. Das ist privat", lachte Yonathan und bekam gleich darauf eines der Popcornstücke gegen die Stirn geworfen.
„Mund auf, Baby", kicherte die Schwarzhaarige. Nate sah sie mit gehobener Augenbraue an. „Ich dachte, du stehst auf Befehle", meinte sie weiterhin lachend, während Yonathan sie mit seinem Blick erdolchte.
„Ja, wenn ich sie gebe und nicht ausführen muss." Er warf das Popcorn zurück, sodass Raya es genauso an die Stirn bekam, wie Yonathan kurz zuvor.
Ich konnte mir deren Geplänkel nicht weiter mit ansehen, weshalb ich mich augenverdrehend von ihnen abwandte und geradewegs zur Treppe ging. Innerlich hoffte ich, dass beide zu sehr voneinander abgelenkt waren und von mir überhaupt keine Notiz nahmen.
Als ich an der Treppe ankam und schon beinahe glaubte nochmal davongekommen zu sein, hörte ich Yonathans Stimme.
„Sky." Langsam drehte ich mich mit einem Fuß auf der untersten Stufe herum. Nate war bereits von der Couch aufgesprungen und kam mit zielstrebigen Schritten direkt auf mich zu.
„Lasst euch von mir nicht stören", sagte ich schroffer als beabsichtigt. Zurück zur Treppe drehend, stoppte Yonathan unmittelbar hinter mir.
„Ist alles gut? Ich habe versucht, dich zu erreichen." Seine Stimme klang besorgt und keineswegs vorwurfsvoll, weshalb ich mich mit einem halben Lächeln zu ihm drehte. Ich kannte seinen Kontrollwahn, allerdings wirkte er vollkommen ruhig.
„Mein Akku ist leer", erfand ich schnell eine Notlüge.
„Du hast nicht zufällig etwas von Stenja gehört, bevor dein Akku leer war?"
„Stenja", hauchte ich voller Sorge. Sofort schossen mir die Bilder von ihm mit dem roten Punkt auf seinem Kopf vor die Augen. Ich wusste nicht, ob Mikhail die Wahrheit sagte, dass er Stenja nichts tat, solange ich ihm gab, was er verlangte und es riskieren wollte ich auch nicht.
„Könnte ich dein Handy haben?", fragte ich zurückhaltend. Meine Notlüge musste ich aufrechterhalten, denn Nate durfte nichts ahnen. Ich sah dennoch in seinem Gesicht kurz den Missmut aufblitzen, weshalb ich mich eilig erklärte. „Stenja macht sich bestimmt Sorgen. Ich sollte ihm zumindest sagen, dass es mir gut geht."
„Ich habe schon mehrfach versucht ihn anzurufen", sagte Yonathan. Er nahm trotz dessen sein Handy aus der Hosentasche und entsperrte es für mich, ehe er es mir reichte.
„Danke." Ich öffnete die Anrufliste und erkannte Stenja's Nummer, die ich umgehend anwählte. Es klingelte nicht, stattdessen ging sofort die Mailbox ran. Mein Herz raste so sehr, dass es vermutlich einen neuen Geschwindigkeitsrekord knackte. Die Sorge um ihn wuchs ins Unermessliche und der USB-Stick in meiner Hosentasche fühlte sich wie Blei an.
„Das Handy ist aus", sagte ich betrübt. Ich wollte Yonathan das Handy zurückgeben, als mir jedoch ein anderer Gedanke kam. „Könnte ich eventuell noch Aljoscha anrufen?"
Sein Bruder wusste immer über alles Bescheid und ich hatte die blöde Hoffnung, dass er auch dieses Mal mehr wusste.
„Sicher. Er ist in den Kontakten unter Alexej." Schnell öffnete ich die Kontakte und fand auch schnell die Nummer. Mir entging dabei nicht der skeptische Blick von Nate, dennoch wählte ich eilig und hielt mir das Telefon ans Ohr.
„Da", ertönte nur wenige Sekunden später die tiefe Stimme von dem Russen.
„Aljoscha, ich bin's. Sky."
„Hey, kleiner Stern. Was ist los und wieso rufst du mich mit Jaschas Handy an?", fragte er sofort besorgt. Allein der russische Akzent reichte aus, um auf meinen Lippen ein kleines Lächeln zu zaubern.
„Mein Akku ist leer. Ich kann Stenja nicht erreichen, daher dachte ich, du hättest was von ihm gehört", erkläre ich ihm eilig und log auch ihn an.
„Er ist bei einem Deal. Aber wenn es um Leben und Tod geht, versuche es bei Maxim. Er hat Stenja begleitet." Verwundert zog ich meine Augenbrauen zusammen, da ich Maxim nicht gesehen hatte und auch Yonathan offenbar nichts davon wusste.
„Bist du dir sicher?", hakte ich deswegen misstrauisch nach. „Nicht mal Nate wusste davon."
Umgehend spürte ich einen stechenden Blick auf mir. Innerlich fluchte ich über mich selbst, da ich meinen Gedanken laut ausgesprochen hatte.
„Ja, weil er sonst den Daddy gespielt und es nicht erlaubt hätte", erwiderte Aljoscha genervt. „Stenja ist schon ein großer Junge. Er kommt zurecht, Swjjsdoschka."
Daran hätte ich absolut keine Zweifel gehabt, hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, dass Stenja in Schwierigkeiten steckte. Doch das konnte ich weder seinem Bruder sagen, noch in Anwesenheit von Nate kundgeben.
„Sicher. Danke dir", sagte ich eilig und verabschiedete mich von ihm. Als der Anruf beendet war, drehte ich mich zu Nate herum und bekam ein mulmiges Gefühl, ihn um ein weiteres Gespräch zu bitten.
„Könnte ich noch Maxim anrufen?", fragte ich, mit dem Blick auf den Boden gerichtet. Ich konnte ahnen, wie ihm die Verwirrung ins Gesicht geschrieben war.
„Wieso solltest du das tun?"
„Weil Maxim Stenja begleitet hat", antwortete ich und sah auf in seine Augen, die mich nur wortlos betrachteten. Ich merkte, dass Nate versuchte, aus mir schlau zu werden und sofort überkam mich das Gefühl, dass er ahnte, dass etwas nicht stimmte. Das bestätigte auch seine Antwort.
„Ich rufe Maxim an, wenn Stenja bei ihm ist, gebe ich ihn dir." Ergebend reichte ich ihm sein Handy zurück, um einen weiteren skeptischen Blick von ihm zu bekommen, ehe er die Nummer von Maxim wählte. Nur zu gerne hätte ich Yonathan alles erzählt und ihn um Hilfe gebeten, aber ich konnte Stenja nicht weiter in Gefahr bringen. Ich musste zuerst wissen, ob er noch immer bei Mikhail in der Lagerhalle war und bedroht wurde.
Maxim ging offenbar ran, denn Yonathan begrüßte ihn kühl, ehe er auf Russisch mit ihm sprach. Es machte mich wütend, da ich kein Wort verstand und er das genau wusste. Einzig der Name von Stenja war für mich einige Male herauszuhören, als Nate völlig unvorhergesehen aus der Haut fuhr und auf Russisch fluchte. Ein Schauer zog über meinen Rücken und brachte meinen Körper zum Beben. Angst durchzog mich und setzte sich in meinen Magen fest, wodurch mir unsagbar schlecht wurde.
Zu allem Überfluss spürte ich das Vibrieren meines Handys in meiner Tasche, weshalb ich leicht zusammenzucke. Nate zeigte seine Wut deutlich, indem er während des Redens hin und herlief. Als er mir den Rücken zugewandt hatte, nutze ich die Chance und nahm mein Handy, um einen verstohlenen Blick auf das Display zu erhaschen. Ich erkannte die Nummer nicht, doch der Inhalt der Nachricht war überdeutlich.
Ich kann sehen, wie du überlegst, mich zu verpfeifen! Denk an meine Worte: solltest du mich hintergehen, wird der falsche Jakowlew sterben!
Erneut fing mein Herz an zu rasen und in meiner Brust entstand ein Engegefühl, dass mir die Luft zum Atmen nahm. Mikhail trieb mich in die Ecke und die Verzweiflung in mir wuchs immer mehr.
Nur am Rande bekam ich mit, dass Yonathan das Gespräch beendete und mich gleich darauf ins Visier nahm. Automatisch zog ich meinen Kopf ein, als seine aufgebrachte Miene mich regelrecht erdolchte.
„Was läuft hier, Sky?", fragte er sauer. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln, da ich keine Worte fand, um Stenja zu schützen. Zudem schnürte sich mein Hals immer mehr zu.
„I-ich weiß es nicht. Was hat Maxim gesagt?", stammelte ich mit brüchiger Stimme.
„Die Geschäfte gehen dich nichts an!" Seine Stimme war so voller Zorn, dass ich einen Schritt zurückwich, da es sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlte. Obwohl ich es besser wusste, dass jedes Detail seines Geschäfts bei mir nicht sicher war, tat es weh, dass er mir so direkt sein Misstrauen zeigte.
„Aber Stenja geht mich etwas an!", schrie ich verzweifelt. Die Angst um den blauhaarigen Russen wuchs ins Unermessliche und meine Hilflosigkeit trieb mir die Tränen in die Augen. Ich sah, dass nun auch Raya zu uns kam, um mehr zu erfahren.
„Ich muss telefonieren", sagte Yonathan und atmete tief ein. „Geh in dein Zimmer. Ich sage dir Bescheid, sobald ich mehr weiß."
Die Art und Weise, wie er es sagte, ließ mich wie ein ungezogenes Kind fühlen, dass zur Strafe Hausarrest bekam. Ungläubig sah ich ihn an, doch er ließ mich einfach stehen und ging in die Richtung seines Büros. Mein Blick fiel auf Raya, die mich ausdruckslos ansah und ihm dann folgte.
Er würde mich nie auf Augenhöhe behandeln.
Zurecht, denn ich hatte es nicht verdient ...
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Ich weiß, ihr musstest alle sehr lange darauf warten, dass ein neues Kapitel erscheinen wird und es wird auch in Zukunft so sein, dass ich nicht mehr regelmäßig Update, aber ich werde trotzdem irgendwie versuchen den Band abzuschließen, da die Trilogie überarbeitet auch als Print auf meinem Onlineshop erscheinen soll ❤️
Ich würde mich trotz der langen Wartezeit sehr über Kommentare und Votes freuen 🫶🏻
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